Publikation Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - Deutsche / Europäische Geschichte Die Lehren von 1917 und 1989 dürfen nicht vergessen werden!

Fragen an Michael Brie zur Oktoberrevolution und ihrer aktuellen Bedeutung

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Michael Brie,

Erschienen

September 2017

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Michael Brie

In der Ausgabe 3-2017 der Zeitschrift Außerschulische Bildung erschien ein Interview mit unserem Mitarbeiter Michael Brie anlässlich 100 Jahre Oktoberrevolution. Wir veröffentlichen hier den vollständigen Beitrag.

Außerschulische Bildung:

«Bloodlands», «Höllensturz» – die Geschichtsschreibung überbietet sich zurzeit darin, die Verheerungen zu beschreiben, die Faschismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert in Europa angerichtet haben. Gibt es denn überhaupt etwas Positives, Produktives, was von der Idee des Kommunismus übrig geblieben ist?

Michael Brie:

Es ist völlig berechtigt, auf das 20. Jahrhundert als auf ein «Zeitalter der Extreme» zurückzublicken, wie es der marxistische Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) getan hat. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass die Saat für diese Extreme in jenen Krisenprozessen gelegt wurde, die weit vor der Übernahme der Macht in Russland durch die Bolschewiki oder vor dem Aufkommen und der Durchsetzung des Faschismus und Nationalsozialismus in Italien oder Deutschland stattfanden. Es war die jüdisch-deutsch-amerikanische Philosophin Hannah Arendt, die in ihrem Werk «Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft» darauf aufmerksam machte, dass totalitäre Herrschaft in Ansätzen zuerst durch die imperial-liberalen Mächte von Großbritannien und Frankreich, aber natürlich auch durch Deutschland oder die USA in den unterworfenen Kolonien oder ihren Eroberungszügen praktiziert wurde. Dort entstand der Typus einer Politik, die Menschen nur als Mittel ansah, als beliebiger Rohstoff oder auch Gegenstand von Vernichtung. Im Ersten Weltkrieg wurde dies dann alltägliche Erfahrung. Die Soldaten wurden, wie es dann so zynisch hieß, an der Front «verheizt». Die erste und wichtigste Lehre, die wir aus dem 20. Jahrhundert ziehen müssen: Ein solcher Typus von Politik ist absolut inakzeptabel. Aber wir erleben, dass er sich wieder Bahn bricht. Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen sind die neuen «Bloodlands» geworden. Das Konzentrationslager von Guantanamo ist ein Tabubruch von vielen.

Zweitens gibt es zwischen Kommunismus und Faschismus bei vieler Ähnlichkeit von Methoden einen scharfe Trennlinie, die auch den Vernichtungskrieg Hitlerdeutschlands gegen die Sowjetunion erklärt, dem keine vernichtende Antwort seitens der Sowjetunion folgte: Faschismus ist von Zielen wie Mitteln her das Böse. Herrschaft und Vernichtung sind der Zweck und das Mittel. Im Kommunismus dagegen steckte immer das, was der Sozialdemokrat Erhard Eppler den humanistischen Pfahl in dessen Fleische nannte. Auch in seiner sowjetischen oder chinesischen Form sah sich der Kommunismus immer auf das Ziel einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen verpflichtet. Die Diktatur wurde als Mittel für die Herstellung der Bedingungen einer solchen Gemeinschaft legitimiert. Dies waren keinesfalls bloße Worte. Als auch den Herrschenden endgültig klar wurde, dass die Mittel in keiner Weise mit den Zielen in Übereinstimmung zu bringen waren, ihnen direkt und dauerhaft widersprachen, haben die kommunistischen Eliten in der Sowjetunion und Ostmitteleuropa die weiße Fahne gehisst. Die Volksbewegungen wie in Polen haben diesen Erkenntnisprozess natürlich stark befördert.

Der Kommunismus ist so alt wie die menschliche Zivilisation oder sogar älter.

Dafür nur als Erinnerung Spuren aus der jüdisch-christlichen Tradition: Der Garten Eden als Paradies war kommunistisches Gemeineigentum. Als die jüdischen Sklaven aus Ägypten auszogen, um sich zu befreien, teilten sie natürlich die kärglichen Speisen der Wüste und Gott sorgte für alle. In den Jubeljahren sollte das Eigentum gleichmäßig neu verteilt werden, um auf diese kommunistische Weise die Freiheit der von Sklaverei Befreiten auf Dauer zu stellen. Und von der christlichen Urgemeinde ist überliefert: «Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam.» (Apostelgeschichte 4,32)

In den Umbrüchen der Reformationszeit vor 500 Jahren tauchte auch zuerst der Begriff der communisti auf. Er bezog sich auf die Hutterer. Sie waren eine Gruppe aus der schweizerischen Täuferbewegung von 1525. Sie entstanden im mährischen Exil unter Führung von Jakob Hutter. Sie sahen sich in «der heiligen Gemeinschaft nit allein im geistlichen, sondern auch im zeitlichen» und entwarfen «ordnungen der heiligen in ihrer gmainschaft» und lehnten Gewalt ab. Die Beziehungen von Herren und Knechten, Wucherern und Gläubigern, Käufern und Verkäufern, von Herrschsucht, Egoismus und Neid sollten durch ein Miteinander in Liebe, Fürsorge, Solidarität und Mit-Leidens abgelöst werden. Nicht Burg und Dorf, nicht Stadt und Land, nicht Kirche und Laienhäuser, sondern das gemeinsame Leben in Haus und Landschaft waren das Ideal. Kommunismus wurde hier eine Emanzipationsbewegung von unten hin zu einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen, die im Gemeineigentum die Grundlage der Befreiung sah, begründet. Dieser religiöse Kommunismus gewann seine Anziehungskraft als Emanzipationsprojekt auf der Grundlage des Gemeinschaftlichen. Jakob Hutter starb wie viele seiner Anhänger am 25. Februar 1536 auf dem Scheiterhaufen. Seine feste Überzeugung war: «Wenn alle Welt wäre wie wir, dann würden alle Kriege und alle Ungerechtigkeit ein Ende haben.»

Das Kommunistische bleibt von Bedeutung, wenn es um die gemeinschaftlichen Bedingungen des Lebens geht – sei es der Reichtum und die Schönheit der Natur, seien es Bildung, Gesundheitsvorsorge, Pflege, lebendige Städte und vielfältige ländliche Räume. Dies gilt auch global. Jede und jeder hat das Recht auf ein würdiges Leben und wir sind alle in der Pflicht, dazu solidarisch beizutragen. Man könnte auch sagen: Ein Leben in Würde gerade auch der Schwächsten in der Weltgesellschaft, und auf dieser Basis für jeden, hat kommunistische Fundamente. Folgt man der Bibel, so hat Gott dieses Fundament allen gemeinsam gegeben, um es bereichert zu bewahren. Jetzt müssen wir diese Fundamente gemeinsam schützen und ausbauen. Die liberalen Freiheiten sind ohne ein solches Fundament auf Sand gebaut. Man könnte auch sagen: Das kommunistische Prinzip «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen» gilt bei den Grundgütern eines freien Lebens. Das Prinzip «Jedem nach seiner Leistung» gilt erst dort, wo es um mehr als die Grundgüter geht. Die öffentliche Daseinsvorsorge, gemeinschaftlich, sprich: kommunistisch organisiert, ist die Grundlage der Freiheit. Und umgekehrt bedarf es der Freiheit, damit wir diese Grundlage auch demokratisch gestalten und sie nicht zum Gefängnis wird.

 
Für viele Menschen bedeutete seinerzeit die Oktoberrevolution die Befreiung von einer jahrhundertelang mit dem Zarentum verbundenen Knechtschaft. Auch die Geschehnisse von 1989/90 bedeuteten für viele eine Befreiung, diesmal aber vom Erbe der Oktoberrevolution. Kann man das Jubiläum von 1917 begehen, ohne 1989 mitzudenken? Wie sehr haben die Ereignisse von 1989/90 Ihren Blick auf 1917 verändert?

Die Befreiung von der Zarenherrschaft erfolgte schon im Februar 1917. Es waren die Frauen von Petrograd, die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Soldaten, die diese Befreiung herbeiführten. Viele erinnerten sich noch gut an die Revolution von 1905, als dies scheiterte. 1914 hatte der Zarismus Russland in einen furchtbaren Krieg geführt. Und man kann nur erschauern über das Versagen der russischen Eliten nach dem Februar 1917. Weder wurde unverzüglich die verfassungsgebende Versammlung einberufen und damit Freiheit gesichert. Noch wurde das Land nach den vielen Jahrhunderten endlich ganz den Bauern gegeben. Dabei waren viele Millionen Bauern unter Waffen an der Front und im Hinterland. Wie blind muss man noch sein? Und der Krieg wurde fortgesetzt, weiter wurden Menschen «verheizt» für Ziele, die nicht die ihren waren. Immer noch wurde an der Eroberung Istanbuls als neuer dritter Hauptstadt Russlands festgehalten. Auch die Entlassung Finnlands und anderer Nationen in die staatliche Unabhängigkeit wurde nicht umgesetzt.

Die Bolschewiki unter Führung Lenins und Trotzkis haben dies alles angepackt. Deshalb haben sie in einem fürchterlichen Bürgerkrieg bestanden, ein Krieg mit zehn Millionen Toten (neun Millionen durch Hunger und Krankheit). Aber sie sind dabei dem kommunistischen Hochmut verfallen: Da ihre Herrschaft ihnen der Garant schien, damit eine freie Gesellschaft möglich wird, haben sie die Freiheit ihrer Gegner vom ersten Tag an unterdrückt. So wurde aus Befreiung neue harte Unfreiheit. Und Stalin hat dann die alte Garde, für die Freiheit kein leeres Wort war, vernichtet.

Rosa Luxemburg hat aus dem Gefängnis den Bolschewiki, ihren engsten Genossen, entgegengerufen: «Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden» und dies so präzisiert: «Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das heißt nur: Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit – nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen.» Es ist kein Zufall, dass die Worte von Rosa Luxemburg am Anfang und am Ende der staatskommunistischen bolschewistischen Herrschaft standen. Das Jahr 1989 war das Jahr, wo auch den gläubigsten Anhängern des Staatssozialismus klar werden musste, welche falsche Weichenstellung nach dem Oktober 1917 eingeschlagen wurde. Es war eine Befreiung, auch und gerade für mich. Die Stiftung, die ich mitgegründet habe und die der Partei DIE LINKE nahe steht, hat sich deshalb den Namen Rosa Luxemburg gegeben.

 
Gibt es Aspekte der Revolution, die für aktuelle politische Debatten oder auch für die politische Bildung nutzbar gemacht werden könnten?

Es sind zwei Aspekte, die meines Erachtens unbedingt im Gedächtnis bewahrt werden müssen: Erstens müssen wir uns immer im Klaren sein, wie wichtig es ist, die immer wieder entstehenden Elemente von Barbarei zurückzudrängen. Das beginnt beim Kampf gegen Gewalt gegen Geflüchtete oder Andersdenkende. Es hängt aber auch damit zusammen: Wieviel an Kürzungen von Renten und staatlichen Leistungen für Gesundheitsversorgung darf den Bürgerinnen und Bürgern zugemutet werden, wenn ihr Staat nicht zahlungsfähig ist, wie im Falle Griechenlands? Wieso sind Interessen von Gläubigerbanken höher zu stellen als Lebensinteressen von Millionen Menschen? Unsere Umweltzerstörung erzeugt Barbarei. Wenn Papst Franziskus sagt «Diese Wirtschaft tötet», dann sollte man dies nicht als Bonmot ansehen, sondern sich fragen, welche Seiten der heutigen globalen Wirtschaftsordnung tatsächlich barbarisch sind und zu totalitärer Herrschaft führen. Wir müssen die Ursachen bekämpfen, wenn wir die Folgen ablehnen.

Zweitens zeigen Revolutionen wie die in Russland 1917 oder in China nach 1945, aber auch in Mexiko 1905 oder die von 1989/91: In der Stunde der Krise muss das Notwendige getan werden. Die aufgestauten Probleme müssen energisch angegangen werden. Ein Weiter-So ist dann verboten. Gerade die, die die Freiheit bewahren oder ausbauen wollen, müssen bereit sein, den berechtigten sozialen, wirtschaftlichen oder auch ökologischen Interessen und nationalen Erwartungen Rechnung zu tragen und dafür Privilegien der Wenigen, des einen Prozent, beseitigen oder doch zumindest einschränken. Der New Deal von Franklin D. Roosevelt ist dafür ein gutes Beispiel. Auch 1917 gab es Alternativen.

Heute besitzen acht Männer ein Vermögen, das so groß ist wie das der ärmeren Hälfte der Menschheit. Dies ist obszön und kann nicht gut gehen. Die Zeichen an der Wand sind unübersehbar. Unsere gesamte Produktions- und Lebensweise in Westeuropa basiert auf Ungleichheit und Naturzerstörung. Zugleich leben wir unter unseren Möglichkeiten, wenn es um ein gutes Leben, Zeitwohlstand, Zeit für die Menschen um uns geht. Die Kluft zwischen den sich aufstauenden ungelösten globalen wie europäischen Problemen einerseits und den heutigen Formen, diese Probleme anzugehen, wächst immer schneller. Wir gehen sehr heftigen Krisen entgegen. Und um in ihnen die Freiheit zu bewahren und gleichzeitig die kommunistischen Fundamente eines solidarischen Lebens zu schützen und auszubauen, dürfen die Lehren von 1917 wie 1989 nicht vergessen werden.

 
Prof. Dr. habil. Michael Brie, Gründungsdirektor und jetziger Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, langjähriges Mitglied der Programmkommission der Partei DIE LINKE.