Im Jahr 2012 brachen in Mali Regierung und Armee zusammen. Statt der bunten Trikolore wehte über vielen Städten des Landes die schwarze Fahne der Dschihadisten. Bevor die islamistischen Kämpfer, die sich mit Tuaregrebellen der MNLA verbündet hatten, die Hauptstadt Bamako einnehmen konnten, intervenierte Frankreich mit Zustimmung von Vereinten Nationen (UN) und Afrikanischer Union (AU) und drängte die Dschihadisten zurück in den Norden.[1] Die MNLA, die sich aus Gaddafis Waffenarsenal bedient hatten, der mithilfe der Nato 2011 gestürzt worden war, und die im Norden Malis ihren eigenen Staat Azawad ausriefen, waren zuvor von den Dschihadisten vertrieben worden.
Fünf Jahre nach dem Beginn der Intervention herrscht in großen Teilen des Landes Unsicherheit.[2] Anschläge auf Soldaten der malischen Armee, der MINUSMA (United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali) sowie der französischen Militäroperation Barkhane, die Jagd auf Dschihadisten macht, sind an der Tagesordnung. Die Zahl der bewaffneten Milizen in Mali ist sogar gestiegen, weil Frankreichs Armee sie und andere Kriminelle als Verbündete im Kampf gegen die Dschihadistan benutzt.[3] Unsicherheit herrscht vor allem im nördlichen und zentralem Mali. Aber auch in der Hauptstadt Bamako kam es wie in den Nachbarländern Burkina Faso und in der Elfenbeinküste zu Terroranschlägen auf Hotels und Bars. Die Dschihadisten haben es vor allem auf Personen aus dem Westen abgesehen. Sie wollen Frankreich und seine Verbündete immer weiter in den Kampf um den Sahel verwickeln.
Im Jahr 2015 war nach achtmonatiger Verhandlung in der algerischen Hauptstadt Algier ein Abkommen für Frieden und Versöhnung unterzeichnet worden. Die Entwaffnung der Milizen in Mali kommt aber nicht voran. Stattdessen entstehen immer mehr Milizen, weil man nur so Zugang zu den Reintegrationstöpfen aus UN-Geldern erhält. Die UN drohen der Regierung mit Sanktionen sollte der Friedensprozess keine Fortschritte machen.[4] Doch mit den Dschihadisten, von denen einige der Anführer aus Mali stammen, verhandelt die malische Regierung nicht. Einerseits weil Frankreich dies ablehnt, andererseits weil die ehemalige Kolonialmacht über die in der nord-östlichen Region Kidal beheimateten Tuaregs ihre schützende Hand hält und den Zutritt der malischen Armee verhindert. Die malische Regierung, an der Spitze der Präsident Ibrahim Boubacar Kéita, steht unter Druck. Sie muss Fortschritte in der Aussöhnung des Landes liefern, denn im Sommer sind Präsidentschaftswahlen. Manch ein Sicherheitsexperte hält die Intervention in Mali bereits für gescheitert. Der Vergleich mit Afghanistan drängt sich auf, wo die Taliban und der sogenannte Islamische Staat auf dem Vormarsch sind.
„Was geht uns eigentlich der Sahel an?“ fragt ein französischer Sicherheitsmann, der die Entsendung französischer Truppen nach Mali für einen Fehler hält. „Die Terroristen, welche die Anschläge von Paris oder Nizza begingen, kamen nicht aus Mali, sondern aus den Vororten französischer oder belgischer Städte.“ Warum also die Intervention in Mali? Geht es Frankreich in Mali gar nicht direkt um den Kampf gegen die Dschihadisten, sondern um die Ressourcen in Mali, wie nicht wenige Menschen in Bamako und anderswo im Land meinen? Oder geht es Frankreich um das Uran, das im benachbarten Niger vom französischen Konzern Areva für die Atommeiler in Frankreich abgebaut wird?
Verlorene Republik
Um zu verstehen, warum die malische Regierung, wie der frühere Außenminister Tiébile Dramé meint, bei den Friedensverhandlungen in Algier nur Zuschauer war,[5] muss man sich mit der langsam gewachsenen Kluft zwischen Regierung und Staat in den vergangenen Jahrzehnten auseinandersetzen. Diese Kluft hat in den neoliberalen Reformen der 1990er Jahre ihre Ursache. Mali war damals ein Liebling der Weltbank. In der Tat haben die neoliberalen Reformen die Wirtschaft neu belebt. Nach der Stagnation der 1970er und 1980er Jahre wuchs das arme Land zwischen Mitte der 1990er Jahre bis 2008 kräftig. Das BIP pro Kopf wuchs von ca. 500 auf über 700 US-Dollar an.
Die geringen Zuwächse kamen bei der Mehrheit der Menschen, nämlich 80 Prozent, die in der Landwirtschaft ihr Auskommen sucht, kaum an. Der Staat war in Mali nie wirklich stark präsent. Die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der Weltbank haben aber die wenigen Industrieunternehmen privatisiert und die Zahl der Staatsbedienstete reduziert. Der Regierung ging der Zugriff auf wichtige Posten, die an die eigene Gefolgschaft verteilt werden konnte, verloren.
Nur in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 war der Staat im Leben der Menschen wirklich präsent. Modibo Keita hatte Mali auf den Weg zum Afrikanischen Sozialismus geschickt. Keita und seine Partei, die das Land schnell zu einem Einparteienstaat machten, gingen daran, die verhassten lokalen Chefs, auf die sich der schwache Kolonialstaat der Franzosen stützte, um etwa die Steuern einzutreiben, zu entmachten. Wie Guinea, dass sich schon 1958 für die Unabhängigkeit von Frankreich entschieden hatte, brach Keita mit der ehemaligen Kolonialmacht und schmiss die französische Armee, die Basen in Mali unterhalten hatte, aus dem Land, und führte trotz aller Warnungen aus Paris eine eigene Währung, den Franc malien, ein. Kurz darauf musste dieser abgewertet werden und die Regierung hatte fortan unter den einflussreichen Händlern Malis viele Feinden. 1984 war der Franc malien Geschichte. Seitdem gilt wieder der Franc CFA.
Mit den neoliberalen Reformen der 1990er Jahre begann in Mali, wie anderswo in Afrika auch, die Demokratisierung oder vielmehr der Demokratiediskurs.[6] Überall sprießten in den 1990er Jahren Kleinstparteien aus dem Boden. Neue private Radiosender übernahmen, finanziert durch Nichtregierungsorganisation (NROs), die Deutungsmacht im Land, dessen Öffentlichkeit einst von der Partei und ihrem Radio- und Fernsehsender kontrolliert wurde. Die neue Debattenkultur öffnete ein Ventil. Über die „da oben“ und ihre Misswirtschaft, ihren Klientelismus und Verschwendungssucht wurde Zorn und Häme ausgebreitet. Der Zorn wurde zur Wut und schwoll zu einer Lawine der Gewalt an, gespeist von all jenen, die an nichts mehr glaubten und nichts zu verlieren hatten: den jungen Arbeitslosen in den Städten, den vielen Studenten ohne Perspektive, die noch nicht weggegangen waren, und den Traditionalisten und Religiösen, die die Liberalisierung der Gesellschaft, die Emanzipation der Frauen und der allgemeine Autoritätsverlust ein Dorn im Auge war. Schulen, Universitäten und öffentliche Gebäude wurden zerstört und Andersdenkende angegriffen.[7]
Eine Dürre bringt Projekte
Der Zusammenbruch von Regierung und Armee 2012 und die Intervention Frankreich 2013 ließ viele afrikanische Intellektuelle verlegen aussehen.[8] Was war geschehen, wie konnte die Republik so vor die Hunde gehen, und warum musste Mali ausgerechnet die ehemalige Kolonialmacht um Hilfe rufen?
Bevor die Demokratisierung die politische Moral und Autorität zerbröseln ließ, war lange schon die Hoffnung auf ein besseres Leben in Mali zerbrochen. Wie in Ghana, wo der Vater der Unabhängigkeit Nkrumah von der Armee gestürzt wurde, so gingen auch in Mali 1968 Keita und seine Gefolgsleute für viele Jahre ins Gefängnis. Mit Moussa Traoré hatte sich ein Militär an die Macht geputscht, der das Land in den Jahren des Kalten Krieges zwischen dem Westen und der Sowjetunion hielt. Den Menschen in Mali war das zu Beginn offenbar egal. Der Übergang vom Afrikanischen Sozialismus zur Diktatur der Generäle verlief weitgehend geräuschlos. Keita hatte enttäuscht.
Von Moskau bezog Traoré Waffen im Tausch für Militärbasen, die die Sowjets für ihren Krieg im Südlichen Afrika nutzten. Den Westen brauchte Traoré nach der Dürrekatastrophe 1973, als alle Aussichten auf eine blühende malische Wirtschaft ohne Hilfe der reichen westlichen Staaten und die von dort kommenden NROs zerstoben waren. Die Sahelkrise lenkte die Weltöffentlichkeit auf Afrika. Sie trat eine Lawine von Geldern und Organisationen los, die seitdem über die Region hinwegrollt. Mit Geld und Expertise haben sich die internationalen und privaten Hilfs-, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen sowie Solidaritätskomittees verschiedenster religiöser und politischer Couleur mit ihren Programmen, Projekten und Kampagnen eingenistet. Diese Organisationen sind zu einer privaten indirekten Regierung herangewachsen.[9] Sie haben nicht die Kluft zwischen Regierung und Staat erweitert, sie haben aber das Regieren zu großen Teilen privatisiert.
Die Dörfer der Sahelländer sind gepflastert mit Schildern, die den Besucher über Projekte und ihre Finanzierung aufklären. Zwischen den vielen Projekten sieht man die 4x4 der Hilfsorganisationen hin und her flitzen. Der Staat hingegen bleibt weitgehend immobil. Auf dem Land im Sahel tritt er kaum in Erscheinung. Allein ein paar ältere Autos der Gendarmerie sind von der staatlichen Gewalt dort zu sehen. Ihnen mangelt es aber zumeist am nötigen Benzin, so dass sie und ihre Insassen unter schattigen Bäumen den Tag verbringen und sich von dort auf die Lastwagenfahrer, die auf staubigen Straßen ihrem Ziel entgegenrumpeln, stürzen, die ihnen ein paar private Einnahme bescheren könnten. Die Bevölkerung, auch die Intellektuellen in den Hauptstädten, springen auf die Projektkarawane auf, was bleibt ihnen auch anderes übrig, ist doch der Strom der Projekte angesichts der wenigen Alternativen eine immerhin sichere Einnahmequelle. Um in diesem Spiel dabei zu sein wird so mancher Kompromiss gemacht.
Schlussbemerkung
Die heutige Aufsicht der internationalen Gemeinschaft über Mali ist nicht allein die Folge der neoliberalen Politik. Sie hat auch historische Gründe, die in Mali und in der Region selbst zu suchen sind. Auch die Rebellion der Tuareg hat eine lange Geschichte. Ihr erster Aufstand ereignete sich wenige Jahre nach der Unabhängigkeit. Für viele der Tuaregs ist bis heute die Regierung durch den Süden nichts anders als eine Zumutung, denn für nicht wenige sind die Afrikaner eigentlich nur Sklaven.
Für das Verständnis von Interesse ist das Zusammenspiel von externen Akteuren, der Abhängigkeit der Menschen in Mali und anderswo in der Region von diesen und wie diese die Abhängigkeit in ihrem Sinn zu nutzen verstehen.[10] Die Dürren der 1970er Jahre und die Demokratisierungswelle der 1990er Jahre haben neue externe Akteure ins Spiel gebracht. Dazu zählen auch die kriminellen Netzwerke, die bis heute blühen und die sich neben Dschihadisten und internationalen Armeen weiter ausbreiten. Nach den Jahren des Einparteienstaates eröffnete die neue Parteienkonkurrenz in Westafrika den kriminellen Organisationen neue Möglichkeiten der Einflussnahme. Die Politiker brauchten Geld, um Wahlkämpfe zu organisieren und Konkurrenten auszustechen.
Den Menschen in Mali ist ihre Republik aus den Händen entglitten. Was ihnen bleibt ist das sich einklinken in die internationalen Geldströme, der Drogen- und Waffenhändler, Entwicklungsorganisationen, Militärs und multinationalen Großunternehmen.
Armin Osmanovic ist Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Westafrika, Dakar.
[1] Osmanovic, Armin (2013): Afrikanische Staaten stehen hinter Frankreich, in: Neues Deutschland vom 17.1. 2013. https://www.neues-deutschland.de/artikel/810166.afrikanische-staaten-stehen-hinter-frankreich.html?sstr=Osmanovic
[2] Wiedemann, Charlotte (2018): Viel Militär, weniger Sicherheit. Mali – fünf Jahre nach Beginn der Intervention. Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin. https://www.boell.de/de/2018/01/31/viel-militaer-weniger-sicherheit
[3] König, Jürgen (2017): Umstrittene Mission in der Sahelzone, in: Deutschlandfunk vom 15.9.2017, http://www.deutschlandfunk.de/anti-terror-operation-barkhane-umstrittene-mission-in-der.795.de.html?dram:article_id=395933
[4] Wiedemann (2018); Jolys, Odile (2018): Malis Friedensprozess stock, in: Neues Deutschland vom 15.2.2018, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1079519.mali-malis-friedensprozess-stockt.html?sstr=Jolys
[5] Wiedemann (2018)
[6] Bayart, Jean-François (1999): L’Afrique dans le Monde : une histoire d’extraversion. in: Critique internationale, vol. 5 1999, 97-120.
[7] Mann, Gregory (2015): From Empires to NGOs in the West African Sahel. The road to Nongovernmentality. Cambridge/USA.
[8] Amin, Samir (2013): Rescuing Mali from Islamist Militants, in: Pambazuka News vom 14.2.2013, https://www.pambazuka.org/print/83858
[9] Mbembe, Achille (2001): On the Postcolony. Berkeley.
[10] Jean-François Bayart (1999) hat für diesen, die staatliche Souveränität verändernden Umstand, das Wort extraversion geprägt.