Publikation Demokratischer Sozialismus - Staat / Demokratie - Geschichte Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus? Zur Problemgeschichte, Programmatik und Aktualität des Linkssozialismus

Ein Bericht zur Konferenz im Dezember 2009 von Christoph Jünke, erschienen auf der Website von H/soz/u/kult

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Dezember 2009

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Das seit gut einem Jahrzehnt neu entfachte politische Interesse an Fragen und Themen des Sozialismus hat nun auch die Geschichtswissenschaft erreicht. Eine Renaissance von Fragen der Arbeiter- und Gewerkschaftsgeschichte wird begleitet von einer Reihe von neueren Werken zur Geschichte sozialistischer Bewegungen. Nicht zuletzt Biografien erinnern dabei auch an linkssozialistische Traditionen zwischen oder jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus. Doch was war dieser Linkssozialismus eigentlich? In welchem Zusammenhang stand er zu den ökonomischen und gesellschaftlichen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts? Und sind seine Probleme und Lösungsvorschläge auch heute noch von Interesse für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Das waren die erklärten Fragen einer wissenschaftlich-politischen Tagung, die die Rosa Luxemburg-Stiftung (RLS) Nordrhein-Westfalen mit Unterstützung des Gesprächskreises Geschichte der RLS unter dem Titel „Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus? Zur Problemgeschichte, Programmatik und Aktualität des Linkssozialismus“ am 11./12. Dezember 2009 in Duisburg durchführte.

Der wissenschaftlich bisher kaum systematisch aufgearbeitete Linkssozialismus entwickelte sich geschichtlich aus der internationalen Sozialdemokratie heraus und ist Teil einer ganzen Reihe, durchaus heterogener historischer und auch politisch-theoretischer Strömungen, Individuen und Ansätze, die sich seit den 1920er-und 30er-Jahren innerhalb und außerhalb der beiden Hauptströmungen der linken, sozialistischen Arbeiterbewegung positioniert haben. Sie wollten damit deutlich machen, dass diese Hauptströmungen auf unterschiedliche Weise ihre sozialistischen Ursprünge verlassen haben, und dass es gelte, diese Ursprünge zu erneuern. Verstand sich diese Erneuerungsbewegung in den 1920er-Jahre noch vorwiegend als eine bloße Reformbewegung, so verselbstständigten sich in den 1930er-Jahren, im Angesicht der weitgehenden politischen Ohnmacht der sozialdemokratischen und kommunistischen Bewegungen vor dem Durchmarsch des europäischen Faschismus, der Linkskommunismus auf der einen, der Linkssozialismus auf der anderen Seite zusehends. Hier setzte schließlich auch die Tagung an.

Der an der Universität Warwick lehrende Historiker GERD-RAINER HORN, Autor unter anderem einer Studie über die antifaschistischen Kämpfe und Diskussionen der europäischen Sozialdemokraten in den 1930er-Jahren, erinnerte daran, wie der faschistische Schock vor allem die sozialdemokratischen Arbeitermassen seit Anfang 1934 zu einer Welle des Unmuts und Widerstands getrieben hat. Unter der Führung des linken Flügels der sozialdemokratischen Sozialistischen Arbeiter-Internationale (SAI) um Otto Bauer und Theodor Dan sei es gelungen, die kommunistische Politik massiv und erfolgreich unter Druck zu setzen, um zu einer antifaschistischen Einheitsfront zu gelangen. Gescheitert sei diese politische Wende aber schließlich sowohl an der fehlenden Einheit in der SAI wie auch an der hinhaltenden Politik des Moskauer Stalinismus. So seien der österreichische Schutzbundaufstand, die französischen Massendemonstrationen gegen den Faschismus und die sich radikalisierende spanische Revolution isolierte, zum Scheitern verurteilte Phänomene geblieben – eine verpasste Chance, wie Horn betonte.

REINER TOSSTORFF (Mainz), Autor mehrerer Arbeiten zum spanischen Bürgerkrieg, rekapitulierte den Entwicklungsweg der spanischen Revolution, die als originäre soziale Revolution begann und immer mehr zum Bruderkampf der Linken gleichsam entartete. Hätten die Kommunisten für eine antikapitalistische Zurückhaltung im antifaschistischen Kampf gestanden, hätten die Anarchisten und die Linkssozialisten der POUM die soziale Revolution antikapitalistisch weiterzutreiben versucht. Am Beispiel einiger deutscher Linkssozialisten verdeutlichte Tosstorff schließlich, wie die Erfahrung der blutigen kommunistischen Repression gegen die radikale Linke – ob in Spanien oder in Sowjetrussland selbst – gerade viele Linkssozialisten zu einem tief greifenden und verbissenen Antikommunismus führte, der jede Zusammenarbeit auf Jahrzehnte nachhaltig verhindert habe.

CHRISTOPH JÜNKE (Bochum), Autor einer Biografie des deutsch-österreichischen Linkssozialisten Leo Kofler, erinnerte an die Kämpfe des Austromarxismus der 30er-Jahre, vor allem an Max Adler, den herausragenden Sozialphilosophen des deutschsprachigen Linkssozialismus, der seit den 20er-Jahren von der Notwendigkeit eines neuen, eines linken Sozialismus zu sprechen begonnen habe. Seit 1933 habe Adler vor allem die führenden, reformistischen Sozialdemokraten für die fehlende Einheit der Linken und das historische Versagen vor dem Faschismus verantwortlich gemacht und zur Radikalisierung der sozialdemokratischen Jugend maßgeblich beigetragen. Was Adler allerdings nicht vermocht habe, dieser Bewegung einen politischen Ausweg zu bieten, hätte dann der Parteiführer Otto Bauer mit seinem 1935/36 entwickelten Konzept eines „integralen Sozialismus“ zu leisten versucht. Bauers Versuch einer Synthese zwischen Reformismus und Bolschewismus habe jedoch, im Angesicht des Hochstalinismus, den extremen Spagat zwischen den beiden Enden eines sich immer weiter öffnenden strömungspolitischen Abgrundes nicht zu meistern vermocht. So hätten die nach 1934 als „Revolutionäre Sozialisten“ illegal arbeitenden jungen österreichischen Sozialdemokraten um Joseph Buttinger den strategischen Ausweg nicht mehr in einer neuen Einheit von Reformismus und Bolschewismus gesucht, sondern jenseits von beiden. Jünke sah hierin die paradigmatische Zuspitzung der politisch-strategischen Dilemmata des Linkssozialismus der 30er-Jahre, die auch in späteren Jahrzehnten nicht wirklich gelöst worden seien.

THOMAS KLEIN vom Zentrum für zeithistorische Forschungen in Potsdam, Autor mehrerer Arbeiten zur SED- und DDR-Opposition, zeigte am Beispiel der DDR auf, dass und wie dort bis 1951 sämtliche Versuche einer linken, das heißt, linkskommunistischen oder linkssozialistischen Opposition repressiv verhindert wurden. Die von der stalinistischen Bürokratie systematisch ‚durchherrschte‘ Gesellschaft habe fortan keine sich vom herrschenden Kanon entfernenden Diskurse mehr erlaubt. Einzig in kleinen illegalen Oppositionsgruppen und bei Teilen der dissidenten Intelligenz (beispielsweise bei Robert Havemann und Rudolf Bahro) sei linkssozialistisches Gedankengut auch weiterhin anzutreffen gewesen.

Der jüngst mit einer Überblicksarbeit über den westdeutschen Linkssozialismus der 1950er-Jahre hervorgetretene GREGOR KRITIDIS (Hannover) verdeutlichte die Dilemmata desselben, als er am Beispiel von Wolfgang Abendroth aufzeigte, wie sich dieser im Klima des Kalten Krieges und der übermächtigen Dominanz des sozialdemokratischen Antikommunismus im Westen und des stalinistischen Kommunismus im Osten zu taktischen Zugeständnissen gezwungen sah. Als diese nach seinem Rauswurf aus der SPD im Jahre 1961 nur noch eingeschränkt notwendig gewesen seien, sei es bereits zu spät gewesen: der sich am Rande der Sozialdemokratie formierende Linkssozialismus der 50er-Jahre war zersplittert und demoralisiert gewesen. Und es begann der Aufstieg einer sich davon distanzierenden, vorwiegend studentischen zweiten Generation neuer Linker.

Ein Teil der alten Linkssozialisten, das zeigte daraufhin STEFAN MÜLLER (Duisburg), Autor einer in Kürze erscheinenden Biografie des linkssozialistischen Gewerkschafters Heinz Dürrbeck auf, fand dagegen Unterschlupf in den Gewerkschaften. Unter dem Schutzschirm des IG Metall-Vorsitzenden Otto Brenner und der Federführung von Heinz Dürrbeck und Hans Matthöfer hätten sich Linkssozialisten, nicht zuletzt der Kreis um Peter von Oertzen, für eine neue gewerkschaftliche Bildungsarbeit engagiert. Man wollte sich nun nicht mehr wie zuvor nur an die eigenen Funktionäre richten, sondern an die Mitglieder selbst. Deren Erfahrungen und Bedürfnisse sollten fortan im Mittelpunkt einer Bildungsarbeit stehen, die der Selbstermächtigung der aktiven Gewerkschaftsbasis dienen sollte und dabei offen vor allem auf linkssozialistische und neomarxistische Literaturschulung setzte. Diese neue, Anfang der 60er-Jahre begonnene Bildungspolitik fand jedoch, so Müller, zu Beginn der 70er-Jahre, nach dem Tod von Otto Brenner 1972, ein jähes Ende. Ein bürokratischer Federstrich habe dieses interessante linkssozialistische Experiment weitgehend beendet und einmal mehr die strukturelle Ohnmacht des deutschen Linkssozialismus in seiner Abhängigkeit von den vorherrschenden Apparaten der organisierten Arbeiterbewegung offenbart.

Am Beispiel von Wolfgang Abendroth und Johannes Agnoli verglich RICHARD HEIGL (Regensburg), Verfasser einer Studie über Wolfgang Abendroth und die Neue Linke, die unterschiedlichen Ansätze zu einer marxistischen Staatstheorie, die für unterschiedliche Strömungen dieses „Dritten Weges“ zwischen oder jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus stehen. Der stärker strukturalistische Ansatz Agnolis von der immanenten Transformation der Demokratie sei den antiautoritären Strömungen entgegengekommen, der mehr handlungstheoretische Ansatz Abendroths habe besser den stärker politisch eingreifenden „traditionalistischen“ Neuen Linken zu Gesicht gestanden. Wirklich vergleichbar, so Heigl, seien sie nicht, da sie sich auf verschiedenen Ebenen bewegten.

Eine andere innerlinke Zerrissenheit zeichnete die Historikerin GISELA NOTZ (Berlin) nach, als sie den berühmten Tomatenwurf der SDS-Frauen gegen ihre SDS-Männer nochmals aufleben ließ, um so zu verdeutlichen, dass die Notwendigkeit einer feministischen Kritik und einer autonomen Organisierung von Frauenpolitik sich auch an den männlich geprägten Gepflogenheiten linker Zusammenhänge entzündete, an der Tatsache, dass und wie die Geschlechterfrage und die Frauenunterdrückung auch von Linken immer wieder missachtet und vergessen wurde und werde.

GOTTFRIED OY (Frankfurt a. M.), der die Geschichte neuerer sozialer Bewegungen erforscht, ging darauf ein, wie sich viele der Nach-68er-Linkssozialisten im so genannten Sozialistischen Büro der 70er-Jahre wiederfanden. Deren Versuch, „nicht nach Köpfen zu organisieren, sondern nach Interessen“, habe zwar eine große innergesellschaftliche Dynamik entfaltet, gerade indem sie ein gehöriges, gleichsam antiautoritäres, von linkssozialistischen Konzepten der Selbstorganisation und Selbstbestimmung getragenes Element sozialer Bewegungskultur in Westdeutschland beheimatete. Doch auch das SB zerfiel mit dem Übergang zu den Achtzigern weitgehend geräuschlos.

Als einziger der Referenten versuchte der Hamburger Publizist und Bürgerschaftsabgeordnete JOACHIM BISCHOFF explizit den Brückenschlag von Vergangenheit und Gegenwart, als er schließlich ein ökonomisches, auf Gemeinwirtschaft setzendes Sofort- und Übergangsprogramm gegen die heutige Krise skizzierte, das er als explizit linkssozialistisch betrachtete. Was daran jedoch spezifisch linkssozialistisch ist - außer der bewussten Abgrenzung von undemokratisch strukturierten stalinistischen Planökonomien und eines staatlich regulierten Sozialstaats-Kapitalismus, das blieb eher vage.

So zug sich durch die Tagung der halb wissenschaftlich und halb politisch geführte Streit um einen angemessenen Begriff von Linkssozialismus. Weit genug müsse er sein, die vielfältigen Variationen desselben verstehend aufzunehmen, und trotzdem trennscharf genug, um sinnvoll mit ihm arbeiten zu können. ARNO KLÖNNE (Paderborn) hatte es dabei zu Beginn der Tagung sogar explizit abgelehnt, von dem Linkssozialismus zu sprechen. Stattdessen ging es ihm um das Erbe der Linkssozialisten. Deren Schwäche sei allzu oft ein gewisses Sektierertum gewesen, während die Stärken in der Regel in ihrem Widerspruchs- und Oppositionsgeist gegen die deutsche Tradition eines „Kasernenhofsozialismus“, in ihrem Drang nach intellektueller Erneuerung, ihrem Pochen auf einem zeitgenössischen Streben nach umfassender Volkssouveränität und einem Politikverständnis lagen, das Politik als undogmatischen Lernprozess breiter Teile der Bevölkerung fasse. "Von oben", so Klönne, sei prinzipiell nichts zu erhoffen, "selbst dann nicht, wenn es mal von rosa-roten Ministern wimmeln sollte".

Damit spielte er nicht nur auf die politische Gegenwart einer auch ihre linkssozialistischen Wurzeln mehr oder weniger wieder entdeckenden neuen Linkspartei an. Mehr noch verdeutlichte er, wenn auch nur implizit, die Tatsache, dass der deutsche Linkssozialismus, anders als viele andere linkssozialistische Strömungen im europäischen 20.Jahrhundert, nie über den Status von politischen Kleingruppen und einzelnen Individuen hinausgekommen ist. Die Macht der traditionellen Apparate der klassischen Arbeiterbewegung (Sozialdemokratie, Gewerkschaften, Realsozialismus) konnte sich unter den Bedingungen der spezifisch deutsch-deutschen Blockkonfrontation länger unangefochten halten als in anderen europäischen Ländern. Auch wenn dieser europäische Vergleichskontext spürbar zu kurz gekommen ist auf der Tagung, deutlich wurde, dass linkssozialistische Strömungen und Individuen in der alten Bundesrepublik eine wenn auch nur vorübergehende, so doch zum Teil beträchtliche Wirkung entfalten konnten.

Nicht die vermeintlich aktuellen Lösungsvorschläge linkssozialistischer Strömungen und Individuen standen so im Vordergrund der Tagung, sondern die Problemgeschichte politischer Emanzipationsbewegungen, die sich (mit nur begrenztem Erfolg) neu zu erfinden suchten in einer Zeit, als die klassische sozialistische Emanzipationsbewegung in eine tiefgreifende und nachhaltige Krise geriet. Immerhin fast einhundert Tagungsteilnehmer und eine ganze Reihe (wissenschaftlich betrachtet) junger Referenten verdeutlichten, dass das Publikumsinteresse an dieser Problemgeschichte ebenso wieder zunimmt wie die Forschung über sie.

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Zitierweise Tagungsbericht Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus? Zur Problemgeschichte, Programmatik und Aktualität des Linkssozialismus. 11.12.2009-12.12.2009, Duisburg, in: H-Soz-u-Kult, 12.03.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3031

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