Publikation Digitaler Wandel - Gesellschaftstheorie - Gesellschaftliche Alternativen - Kapitalismusanalyse - Digitalisierung der Arbeit - Digitalisierung und Demokratie Marx, Kapitalismus und Technologie

Interview mit Nick Dyer-Witheford

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Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Nick Dyer-Witheford, Timo Daum,

Erschienen

Mai 2018

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Das Management herrscht durch den Einsatz von Technik über die Arbeitsteilung und die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst. Das scheint auch auf Arbeitsverhältnisse wie z.B. bei Uber anwendbar zu sein. Auf der anderen Seite werden heute Kontrolle, Überwachung und Monitoring im Kontext der digitalen Gesellschaft diskutiert im Hinblick auf den User etwa von digitalen Plattformen. Macht es Sinn, die beiden Phänomene gemeinsam zu betrachten, gibt es da eine Verbindung? Hat sich gar die Kontrolle über den kapitalistischen Produktionsprozess auf die Gesellschaft als Ganzes ausgeweitet?

Es stimmt: Das Kapital vereinnahmt heutzutage nicht nur den Arbeitsplatz sondern alle Lebensaspekte. Innerhalb der Richtung des Marxismus, die mein Denken bestimmte und die oft unter der Bezeichnung autonomer Marxismus firmiert, wird dies durchaus zur Kenntnis genommen: von Mario Trontis Konzept der «sozialen Fabrik» bis hin zu den neueren Ansätzen einer marxistischen «Biopolitik» von Michael Hardt und Antonio Negri. Ich denke allerdings, dass wir, um eine solche Analyse brauchbar zu machen, die Besonderheit verschiedener Momente innerhalb dieses Gesamtprozesses hervorheben müssen. Ja, das Kapital ordnet sich die Produktion, die Zirkulation, den wachsenden Einfluss des Finanzsektors (financialization) und sogar die Sphäre der sozialen Reproduktion unter. Aber es tut dies an unterschiedlichen Punkten auf verschiedene Art und Weise. Ein klares oder zumindest geläufiges Beispiel betrifft vielleicht das Thema Überwachung. Wie mittlerweile weithin diskutiert wird, sind kommerzielle (und staatssicherheitliche) digitale Überwachung allgegenwärtig: Sämtliche Facebook-Einträge (wir posten immer noch welche!) werden nachverfolgt und dazu verwendet, Werbeeinnahmen zu steigern, und in diesem Sinne arbeiten wir – unbezahlt – für Facebook. Dieser Prozess steht nicht nur in Beziehung zur Erfahrung eines Arbeiters oder einer Arbeiterin in, sagen wir, einem Lager von Amazon, der oder die einer digitalen Kontrolle jedes Schrittes unterliegt und wo Produktivität in einer Art und Weise gemessen wird, die zu einer Kündigung im Fall ungenügender Leistung führen kann, sondern unterscheidet sich auch von dieser. Wir sollten in der Lage sein, diese beiden Aspekte kapitalistischer Überwachung miteinander in Verbindung zu bringen ohne sie zusammenfallen zu lassen.

 

Die industrielle Revolution hat das Proletariat hervorgebracht. Was einst ein heterogener «wilder Haufen» war wurde geglättet und zur relativ homogenen Arbeiterklasse  mit ihren Organisationen, Lifestyle und Kultur hervorgebracht. Was ist von dieser Klasse übrig, bewegen wir uns wieder auf eine Patchwork-Klasse zu, macht es nach wie vor Sinn, den Begriff im Singular zu verwenden?

Die Marxisten der ersten Welt haben die Homogenität der arbeitenden Klasse immer etwas überbewertet, sogar in der Phase des industriellen Fordismus, in der die gemeinsamen Bedingungen einer großen Anzahl von Arbeiter*innen in halb-automatisierten, routinisierten Fabrik- und Büroumgebungen tatsächlich eine gewisse Basis für Solidarität schufen. Dank der Bemühungen feministischer und nicht-eurozentristischer Denker*innen und auch marxistischer oder  marxistisch beeinflusster Analytiker*innen – wie z. B. Karl-Heinz Roth und Marcel van der Linden und vieler anderer – begreifen wir mittlerweile, dass die arbeitende Klasse sogar in dieser Phase nicht so widerspruchsfrei oder einheitlich war. Heutzutage lässt die weltweite Restrukturierung des Kapitals die Heterogenität des (zumindest potenziell) «wilden Haufens» verschiedenster Arbeiter*innen wieder stark hervortreten. Aber das heißt lediglich, dass das, worum es wirklich immer ging, die Herstellung einer Einigkeit der Klasse über Segmentierung und Hierarchisierung (oder: Schichtung) hinweg, jetzt in größerem Maße anerkannt wird.

Nick Dyer-Witheford ist Associate Professor an der University of Western Ontario (Kanada). Er arbeitet seit vielen Jahren zu Fragen von Kapitalismus und Digitalisierung. Er ist Autor der beiden einschlägigen Bücher «Cyber-Marx: Cycles and Circuits of Struggle in High Technology Capitalism» und «Cyber-Proletariat: Global Labour in the Digital Vortex». Das Interview führte Timo Daum, er ist ist Hochschullehrer in den Bereichen IT, Online und digitale Wirtschaft und Autor der Publikation «Das Auto im digitalen Kapitalismus»

Definieren wir Klasse über ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln – kann man davon sprechen, dass die User auf den Sirenenservern[1] des digitalen Kapitalismus Teil des digitalen Proletariats sind?

Wie ich bereits eben angedeutet habe, ja und nein. Ja, insofern als es schwierig ist, irgendeinen Lebensaspekt zu finden, der nicht mit der fortschreitenden Kommerzialisierung verbunden, um nicht zu sagen in sie versunken wäre. Nein, insofern als all diesen Momenten eine Besonderheit zukommt, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Stellung innerhalb des Kapitalkreislaufs als auch in der Zirkulation lebendiger Energien, auf denen das Kapital parasitiert. Wären all unsere Positionen und Erfahrungen gleich, dann wäre es sehr einfach, Widerstand zu organisieren. Aber dem ist nicht so; die Totalität, in der wir leben, ist komplex.

 

Vorausgesetzt es gibt einen weltweit zunehmenden Pool an arbeitslosen Menschen, die vom Kapital nicht mehr benötigt werden. Wie kann diese globale Kaste gefasst werden, etwa als Surplus-Prekariat? Und könnte das bedingungslose Grundeinkommen in diesem Kontext als Projekt des gegenwärtigen Kapitalismus gelesen werden, diese Masse ruhigzustellen?

Die erneuerte Aufmerksamkeit, die dem Thema «Überschuss-Bevölkerung» nunmehr zuteil wird, ist sehr wesentlich, genauso wie die Entstehung des Begriffs «Prekarität» aus den Kämpfen von Arbeiter*innen, die vielerlei Arten von Unsicherheit ausgesetzt sind – aber ich bin dagegen, das «Prekariat» als eine eigenständige Klasse zu definieren oder die «Überschuss-Bevölkerung» als eine Patentlösung für revolutionäre Projekte zu betrachten. Prekarität und Überflüssigkeit (aus der Sicht des Kapitals) sind generell Bestandteil proletarischer Existenz. Und  ja, ich stimme mit dir darin überein, dass ein Bedingungsloses Grundeinkommen, das lediglich eingeführt wird, um die Instabilität und Risiken des Lohnverhältnisses unwesentlich zu lindern, sehr wohl als sedierende Maßnahme des Kapitals dienen könnte, wenn es sich in naher Zukunft einer Welle von Aufständen gegenübersieht, wie sie 2011 ausbrachen.

 

Hat der Kapitalismus die von Marx ausführlich beschriebenen zyklischen Überproduktionskrisen zähmen können?

Ich widerspreche den Grundannahmen dieser Frage: Der Wall Street Crash von 2008 und die nachfolgende Rezession haben gezeigt, dass das Kapital seine Krisentendenz nicht überwunden hat, von der zahlreiche Faktoren, Überproduktion und Probleme der Profitrate eingeschlossen, an der Flucht in die Finanzwirtschaft mitwirkten, die jene Katastrophe letztlich auslöste. Ja, das Kapital überlebte, aber nur dank groß angelegter Maßnahmen staatlicher Intervention. Und sogar jetzt, eine Dekade später, bleiben die Auswirkungen dieses Eingriffs ungewiss. Die gesamte von Marx beschriebene Krisendynamik bleibt im Spiel, zuzüglich anderer Faktoren — insbesondere ökologische Desaster. Es wird mehr Krisen geben. Wir wissen nur nicht wann.

 

Seit deinem 1999 erschienen Buch Cyber-Marx ist viel Zeit vergangen. Wie hat sich der Diskurs rund um den Cyber-Kapitalismus verändert? In welche Richtung?

Cyber-Marx wurde zu einer Zeit geschrieben, als das Internet in eine Phase weitverbreiteten populären Gebrauchs eintrat, nachdem es sich über seinen ursprünglich militärischen Zweck hinaus ausgebreitet hatte. Das Kapital war noch nicht völlig sicher, auf welche Weise es sich das Digitale einverleiben könne, wie der dot.com-Crash 2000 zeigte. Für eine Weile koexistierten die Möglichkeiten von dot.com und dot.communist in den Netzwerken, und letztere Potenziale wurden mit einigem Erfolg von der Globalisierungskritischen Bewegung genutzt. Aus diesem Kontext und diesem Optimismus entstand mein Buch. Das Zeitfenster schloss sich jedoch. Das Aufkommen von Google und Facebook signalisierte ein sehr hoch entwickeltes Modell für eine Kommerzialisierung des Netzes, ein Modell, dem Nick Srnicek den treffenden Namen «Plattformkapitalismus» verlieh. Im Jahr 2011 sahen wir, dass sogar innerhalb dieses neuen, auf Social Media, Suchmaschinen und Mobiltelefonen basierenden Modells Möglichkeiten des Aufruhrs übrig blieben, wie der Ausbruch sogenannter «Facebook-Revolutionen» veranschaulichte. Aber all dies zeigte die Probleme solcher Versuche auf, die sich mit einer Geschwindigkeit verbreiteten, die die politische Kohärenz überschritt, und mit einer Sichtbarkeit, die sowohl ihre Stärke als auch ihre Verwundbarkeit ausmachten. Mein neueres Buch Cyber-Proletariat, entstanden unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Occupy-Bewegung und den katastrophalen Entwicklungen in Ägypten, Syrien, in der Ukraine und anderswo, enthält eine ziemlich düstere Analyse dieser Schwierigkeiten. Vielleicht allzu düster. Seitdem werde ich dadurch ermutigt, dass ich, im Wesentlichen veranlasst durch Forschungen von Kolleg*innen und Genoss*innen, Zeichen einer neuen Welle von Organisierung am Arbeitsplatz sehe, die digitale Netzwerke für verschiedene Arten von «Plattform-Arbeit» benutzen. Dies gibt der ganzen Geschichte vielleicht eine neue Wendung. Ich, der ich von einem übertriebenen Optimismus über die radikalen Möglichkeiten digitaler Technologien im Jahr 1999 zu einem womöglich übertriebenem Pessimismus zum gleichen Thema gelangt bin, sehe mich natürlich in der Position eines perfekt ausbalancierten Realismus. In punkto Technologie ist Klassenkampf asymmetrisch: Das Kapital behält die Oberhand, ist jedoch nicht omnipotent. Außerdem bringen die Methoden, mit denen es seine digitale Vorherrschaft ausübt, insbesondere durch die neue militärische Dynamik von Cyber-Kriegen (eine Thematik, die ich in meinem in Kürze erscheinenden Buch mit meiner Kollegin Svitlana Matviyenko untersuche) wahrscheinlich chaotische Auswirkungen mit sich, die extrem gefährlich sind, aber auch soziale Aufstände verursachen, und auf genau diese Bedingungen sollten wir uns vorbereiten.


[1] Sirenenserver ist ein von Jaron Lanier geprägter Begriff und bezeichnet große Computernetzwerke, denen wir freiwillig und für sie kostenlos unsere Daten und Informationshoheit geben und die uns umfassend ausspionieren.