Publikation Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - GK Geschichte - 70 Jahre. Befreiung! Neuanfang? Verzögerter Widerstand

Die Arbeiterbewegung und der Erste Weltkrieg. Manuskripte Neue Folge 14 von Bernd Hüttner.

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Mai 2015

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Ab ungefähr 1870 befindet sich das deutsche Kaiserreich in tief greifenden sozialen Umbrüchen: Die Bevölkerung und die Produktion wachsen, das Bildungsniveau steigt, die Gesellschaft verstädtert sich Die mit der nun auch in Deutschland beginnenden kapitalistischen Moderne verbundene Beschleunigung bereitet vielen Menschen Unwohlsein. Doch trotz der Militarisierung der Gesellschaft und der überall noch dominanten autoritären Strukturen (gerade auf dem Land) herrscht vor allem in den Städten Aufbruchsstimmung und Zukunftsoptimismus – nicht zuletzt in der Arbeiterbewegung: Die Utopie scheint greifbar, die technische Entwicklung werde zum Übergang in den Sozialismus führen.

Künstlerische Avantgarde, Jugendbewegung und Psychoanalyse bringen neue, radikale Ideen und Weltsichten hervor. Die Aussicht auf ein neues, besseres Leben beflügelt die Menschen. 1907 etwa gründet sich der Deutsche Werkbund. Er erhebt als Zusammenschluss von Industriellen, KünstlerInnen und AutorInnen Sachlichkeit, Schlichtheit und Gediegenheit zu neuen Leitbildern einer rationalen, gleichwohl industriellen Produktion, die den Massen zugutekommen und ihre Lebensbedingungen verbessern sollte. Die Arbeiterbewegung mit ihren drei Säulen Partei, Gewerkschaft und Kultur- bzw. Konsumorganisationen gewinnt zunehmend an Stärke. 1912 wird die SPD stärkste Fraktion im Reichstag. Der Einbau sozialistischer Ideen in den Kapitalismus hat bereits begonnen, und die über den Tellerrand ihrer Klasse hinausschauenden Teile des Bürgertums begreifen, dass die Organisationen der ArbeiterInnen nicht mehr zerstört werden können.

Die rasante Herausbildung von Neuem entwertet und zerstört Hergebrachtes. All die genannten Prozesse führten schon vor 1914 zu einer tiefen Verunsicherung des Männlichen und des Untertanen. So kann der Erste Weltkrieg – frei nach Klaus Theweleit – durchaus auch als eine Gegenrevolution, als blutiges Instrument zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der konservativen, harten, soldatischen Männlichkeiten interpretiert werden. Die soldatischen Männer und ihre Verbündeten in der Schwerindustrie wollen ihre Körpergrenzen aufrechterhalten, gegen Verweichlichung und Verweiblichung angehen – und wenn es den eigen Tod kosten sollte. Wie der Krieg jedoch ablaufen würde, davon hatten die wenigsten eine Vorstellung. Das technisierte Töten in den «Blutmühlen» traumatisierte eine ganze Generation und schuf so die mentalen Voraussetzungen für den Aufstieg des Nationalsozialismus.

Der Erste Weltkrieg brachte eine doppelte Katastrophe für die Arbeiter. Er war zum einen ein Krieg gegen die Arbeiter und Bauern aller Länder, denn sie hatten das Gros der Toten zu beklagen. Viele Kader der Arbeiterorganisationen waren an der Front oder anderweitig im Kriegseinsatz – und fielen als widerständige Akteure im Reich aus. Und zum anderen spitzte der Umgang mit dem Ersten Weltkrieg die Widersprüche innerhalb der Arbeiterparteien zu und führte schließlich zur Spaltung der Arbeiterbewegung in SPD und KPD, die dann angesichts der Russischen Revolution eine unerwartete, parallele Dynamik bekommen sollte – ein Schisma, das bis heute anhält.

Die Linken vermochten während und nach dem Krieg nicht, das durch das massenhafte Töten und Sterben entstandene Sinnvakuum zu füllen. Menschen wollen, dass der Tod der eigenen Verwandten und Freunde auf dem Schlachtfeld oder der Hungertod an der Heimatfront einen Sinn ergibt, und sei er noch so bescheiden. Und diesen Sinn stifteten die Nationalisten, Militaristen und die sozialdemokratischen Vaterlandsverteidiger. Die Linke konnte dazu keine Gegenerzählung anbieten. Das Problem im Verhältnis von Intellektuellen und Bevölkerung hat Antonio Gramsci bereits Anfang der 1930er Jahre gesehen: «Das volkshafte Element ‹fühlt›, aber versteht oder weiß nicht immer, das intellektuelle Element ‹weiß›, aber es versteht und vor allem ‹fühlt› nicht immer. Die beiden Extreme sind folglich Pedanterie und Spießbürgertum auf der einen Seite und blinde Leidenschaft und Sektierertum auf der anderen.»

Ähnliches ist heute beim Umgang mit den geschichtspolitischen Debatten zum Ersten Weltkrieg zu beobachten. Das Handeln und Fühlen von Menschen verstehen zu wollen, diesem Bedürfnis kamen beispielsweise die vielen lokalen und regionalen Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg nach. Sie zeigten den Wahnsinn des Krieges sehr wohl und in teilweise drastischen Bildern oder durch andere Dokumente. Das vieldebattierte Buch von Christopher Clark passt relativ gut zu diesem Bedürfnis, da es persönlich argumentiert. Die linke Kritik blieb dagegen abgehoben, letztlich akademisch. Die mechanistisch-ökonomistische Erklärung des Ersten Weltkrieges etwa aus der Entwicklung der Produktionskräfte heraus blieb seltsam stumpf. Die Publikationen und Argumente der Linken erwiesen sich – erwartetermaßen – als randständig. Einige Beiträge von Wolfram Wette erzielten größere Resonanz, und das in fünf Auflagen erschienene Werk von Jörn Leonhard gilt allgemein als Antithese zu den Büchern von Clark und Herfried Münkler, wird aber nicht der Linken zugerechnet. Der nachfolgende Beitrag von Axel Weipert gibt einen Überblick über die geschichtspolitische Debatte der letzten Monate.

Die Literatur zum Verhalten der SPD und zu vielen anderen Aspekten des Kriegsbeginns und dann wieder des Kriegsendes ist umfangreich, aber es bleibt die Frage, warum es so – vergleichsweise – wenig Widerstand gab. Dass es durchaus Widerstand gab, dies zeigen die Beiträge in dieser Publikation, die widerständiges Verhalten schildern und Bedingungen und Räume für Widerstand ausloten. Nachfolgend finden sich Überblicke ebenso wie Lokalstudien, Artikel über programmatische und theoretische Debatten in Parteien und bei einzelnen, wichtigen Intellektuellen neben solchen über konkrete Proteste und Streiks.

Ich danke allen Autorinnen und Autoren vielmals für ihre Mitwirkung.
Bernd Hüttner Berlin, Mai 2015