Publikation NSU-Komplex Die Staatsräson über die Aufklärung von Straftaten gestellt

NSU und Verfassungsschutz im Münchner Prozess

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Fritz Burschel,

Erschienen

Juli 2018

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Nur online verfügbar

Der Ort des Prozesses: Das Strafjustizzentrum in München.

Obwohl der 6. Strafsenat, der Staatsschutzsenat, des Oberlandesgerichtes München, wo über fünf Jahre lang der NSU-Komplex in Form einer Anklage gegen fünf Beschuldigte verhandelt wurde, von Nazi-V-Leuten, Geheimdienstaktivitäten, irregulärer Aktenvernichtung und anderen Formen der Vertuschung nicht nur durch Verfassungsschutzbehörden wusste, hat er sich um die Jahresmitte 2015 offensichtlich entschieden, diesen Aufklärungsstrang, die Fragen also nach Duldung, Begünstigung und Ermöglichung mörderischen rechten Terrors durch eben diese Inlandsgeheimdienste zu kappen.

Dieser recht abrupte Schwenk des Spruchkörpers und das Downgraden der Causa NSU von einem bizarren Geheimdienstskandal und dem staatlichen betreuten Aufwuchs eines viele Dutzend, wenn nicht hunderte Unterstützer_innen umfassenden Netzwerkes hin zu einem überschaubaren Kriminalfall mit einem aus dem Ruder gelaufenen bewaffneten Arm einer Thüringer Nazi-Kameradschaft, bestehend aus exakt drei Personen und einer überschaubaren Zahl von Helfer_innen, ist bis heute nicht nachvollziehbar. Zu viele Fakten aus dem eigentlich geheimen Bereich des Agierens von Geheimdiensten im NSU-Komplex sind im Laufe der Zeit zutage gekommen, nicht durch Ermittlungen staatlicher Behörden jedoch, sondern im Wesentlichen durch unabhängige Recherchen investigativer Journalist_innen, durch Antifa-Arbeit oder – nota bene! – die Nebenklage im NSU-Prozess, als dass der Aspekt ohne Glaubwürdigkeitsverlust tatsächlich ausgeblendet werden könnte.

Nichtsdestoweniger lehnte der Erkennende Senat unter dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl die überwiegend brillanten und die richtigen Fragen stellenden Beweisanträge des arbeitenden Teils der Nebenklagevertretung ab Herbst 2015 im Dutzend ab und erklärte deren Klärungsbegehren formelhaft für „tatsächlich ohne Bedeutung“ für die Straf- und Schuldzumessung bei den Angeklagten. Das war umso verblüffender, als die Relevanz dieser Beweisanträge für die Aufklärung des NSU-Komplexes und die Rolle der Angeklagten durchaus auf der Hand lag und liegt. Beifang einer solchen Aufklärung wäre aber die Offenlegung einer tiefen Verstrickung staatlicher Stellen in die und eine Mitverantwortung des Staates an den Verbrechen des NSU gewesen, was im Sinne einer zu schützenden Staatsräson mit allen Mitteln zu verhindern war, denn – so wird der Zeuge Klaus-Dieter Fritsche, während der Mordphase des NSU Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), aus einer Zeugenbefragung vom 18. Oktober 2012 vor dem ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags zitiert: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“

Woher aber kam dieser Sinneswandel des Münchener Senats nach zweieinhalb Jahren Beweisaufnahme? Denn zuvor hatte sich Richter Götzl – sehr zum Leidwesen der Sitzungsvertreter_innen des anklagenden Generalbundesanwalts – durchaus auf Abwege begeben. Nach anfänglich häufigen polternden Zwischenrufen, man sei hier schließlich kein Untersuchungsausschuss, und allfälligem Pochen auf das strafprozessuale Beschleunigungsgebot, verstummte die Bundesanwaltschaft (BAW) für etwa zwei Jahre fast völlig, während derer das potenzielle Netzwerk des NSU zumindest in Sachsen und Thüringen ausgeleuchtet werden sollte und fast das gesamte hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) bis hinauf zum damaligen Präsidenten Irrgang vorgeladen wurde, um herauszufinden, welche Rolle sein Mitarbeiter, der V-Mann-Führer Andreas Temme, bei der Ermordung Halit Yozgats am 6. April 2006 in Kassel spielte, bei der er in dessen Internet-Café zugegen war. Nach der eher unambitionierten Befragung von rund 60 aktiven oder ehemaligen Angehörigen der thüringischen und sächsischen Hardcore-Nazi-Szene aus dem Umfeld des europäischen Netzwerkes „Blood & Honour“ und fünfeinhalb Tagen nervtötender Vernehmung des als Zeugen geladenen Temme, der sich wand und bis zum Schluss herumdruckste, er habe von dem Mord nicht das Geringste mitbekommen, legte der „Hohe Senat“ diese offenen Fragen ad acta.

Der Skandal um den VS-Mann Temme

Dabei gehört gerade die Causa Temme zu den empörendsten Vorgängen des an Skandalen nicht eben armen NSU-Komplexes. Nach der Ermordung Halit Yozgats mit zwei Kopfschüssen aus der „Signaturwaffe“ Cˇ eska´ 83, mutmaßlich durch die beide NSU-Haupttäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, hatte sich Temme höchst verdächtig verhalten, sich weder bei seiner Dienststelle noch bei der Polizei gemeldet, obwohl ihm klar gewesen sein muss, dass man ihn ausfindig machen würde. Als er dann als Tatverdächtiger ermittelt und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, gestand er scheibchenweise ein, was er nicht mehr leugnen konnte. Obwohl er zunächst angab, das Internet-Café der Familie Yozgat gar nicht zu kennen, musste er schließlich einräumen, dass er exakt zur Tatzeit dort in der viel befahrenen Holländischen Straße anwesend und in einen Erotik-Chat im Internet eingeloggt gewesen sei.

Aber er blieb vor den Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (PUA) des Bundestags und des Hessischen Landtags und vor Gericht in München bei seiner Version, dass er von der Mordtat nicht das Geringste mitbekommen habe, nicht visuell, nicht akustisch und auch nicht olfaktorisch. Bis heute konnte ihn nichts bewegen, diese offensichtliche Unwahrheit zu widerrufen und endlich zu erzählen, was denn wirklich geschehen war. Diese Halsstarrigkeit ist eigentlich nur so zu erklären, dass er sich der schützenden Hand seines Dienstherren, des Staates Hessen, sicher sein kann. Der damalige Innenminister Hessens und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier hatte die Befragung der damaligen VLeute Temmes untersagt und auch dafür gesorgt, dass das Ermittlungsverfahren gegen Temme selbst schon bald ergebnislos eingestellt wurde. Und das, obwohl Temme noch kurz vor dem Mordanschlag ein Telefonat mit seinem V-Mann Benjamin Gärtner geführt hatte, das elf Minuten dauerte.

Eine insgesamt unglaubwürdige Geschichte, die zunächst auch den Senat in München zu interessieren schien, wiewohl sich das Gericht andererseits bis zum Schluss nicht dazu durchringen konnte, die damaligen Verfahrensakten zu Temme dem Münchener Prozess-Aktencorpus beizuziehen. Dank umfangreicher Recherchen der Nebenklagevertretung der Familie Yozgat und sogar Fahrten nach Karlsruhe, um bei der BAW diese Akten einzusehen, konnten jedoch durchaus brisante Details zutage gefördert werden. So ließen die Anwält_innen etwa die Mitschnitte der Telefonüberwachung Temmes während der Zeit des laufenden Ermittlungsverfahrens gegen ihn neu transkribieren und hörten etwa in das Gespräch des damals Beschuldigten mit dem so genannten Geheimschutzbeauftragten des LfV Hessen hinein, der das Gespräch mit folgendem Satz eröffnete: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo sowas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Sätze wie dieser, die eigentlich nur so verstanden werden können, dass man im LfV schon vor der Tat vom Mordanschlag auf Halit Yozgat wusste, die aber erst Anfang 2015 ins Verfahren eingeführt wurden, veranlassten den Senat nicht, an der Sache dran zu bleiben.

Im Gegenteil, mit der Ablehnung entsprechender Beweisanträge stellte das Gericht Temme ohne Not auch ein Glaubwürdigkeitszeugnis aus. Im Beschluss vom 12. Juli 2016 erklärte das Gericht, sich durch die mehrtägige Vernehmung „einen umfassenden persönlichen Eindruck von dem Zeugen“ verschafft zu haben, dass aber auch bei einer „Gesamtbetrachtung sich keine Umstände [ergeben], die den Senat an der Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen Temme zweifeln lassen“. Und das, obwohl später aus dem hessischen PUA heraus noch eine Strafanzeige gegen Temme erstattet wurde, weil er die Unwahrheit über sein Vorwissen zum NSU vor der Kassler Tat gesagt habe[1], und obwohl das Forscher_ innenteam „Forensic Architecture“ von der Goldsmith-University in London, das den Tathergang minutiös rekonstruiert hat, nachweist, dass Temmes Version der Ahnungslosigkeit nicht stimmen kann.[2]  

Tote Zeugen

Aber die blutige Temme-Posse ist nur eine der zahllosen offenen Fragen bei der Aufklärung des NSU-Komplexes.[3] Selbst handfeste Skandale vermochten nicht, einen öffentlichen Aufschrei gegen diese Art von Geheimdienstarbeit hervorzurufen: Auch der zumindest merkwürdige Tod eines wichtigen Zeugen, der etwa zum Einfluss des Ku-Klux-Klans auf das Geschehen hätte aussagen können, blieb ohne Folgen für den Verfassungsschutz.

V-Mann Thomas Richter, in seiner Heimatstadt Halle/Saale „HJ-Tommy“ genannt und beim Geheimdienst als „Corelli“ geführt, wird am 7. April 2014 tot in seiner Zeugenschutz-Wohnung bei Paderborn aufgefunden. Zwei Jahre später werden in einem Tresor im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ein Handy und mehrere bisher nicht ausgewertete Sim-Karten Corellis gefunden.[4] Auch ein weiterer Zeuge verstarb auf ungeklärte Weise in Stuttgart, wo er in seinem Auto verbrannte.[5] Ebenfalls im Frühjahr 2016 wurde durch Recherchen des Journalisten Dirk Laabs bekannt, dass es in Zwickau einen weiteren V-Mann des BfV gab, der mit dem „Trio“ in Kontakt stand: Ralf „Manole“ Marschner, der amtlich „Primus“ hieß, soll in den Jahren 2000-2002 – zu einer Zeit also, als die rassistische Mordserie schon begonnen hatte – das NSU-Mitglied Uwe Mundlos, vielleicht sogar auch Uwe Böhnhardt, unter falschem Namen in seinem Baugeschäft beschäftigt haben.[6] Möglicherweise arbeitete auch Beate Zschäpe bei ihm in einem seiner neonazistischen Szeneläden.

Die zahlreichen Enthüllungen dieser Art – zu nennen sind noch der ungeklärte Tat-Komplex von Heilbronn, die Rolle des V-Mannes „Piatto“ in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, der schon 1998 auf die Untergetauchten, ihre Suche nach Waffen und bereits erfolgte Banküberfälle korrekt hingewiesen hatte, und etliche weitere „Ungereimtheiten“ – blieben ohne nennenswerte Folgen für die Ämter.  

Die Nebenklage läutet die Stunde der Wahrheit ein  

Mit dem Beginn der Plädoyers der Nebenklage Mitte November 2017 schlug im NSU-Prozess in München noch einmal die Stunde der Wahrheit: Mit brillanten und aufeinander abgestimmten Schlussvorträgen fächerten die Vertreter_innen der Betroffenen und Überlebenden des NSU-Terrors noch einmal den ganzen Skandal auf, den der „NSU-Komplex“ darstellt und zu dessen Aufarbeitung und Aufklärung der Mammutprozess nicht eben viel beigetragen hatte. 95 Betroffene der neonazistischen Verbrechen des NSU hatten sich der Anklage des Generalbundesanwalts gegen die fünf Angeklagten angeschlossen und einige wenige von ihnen meldeten sich in der Plädoyerphase auch selbst zu Wort, ein Recht, das sie nur als Nebenkläger_innen im Strafprozess haben. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn die Enttäuschung gerade bei den Betroffenen ist groß, dass der Prozess es nicht vermocht hat, die wesentlichen Fragen, Ungereimtheiten und Leerstellen des NSU-Komplexes aufzuhellen. Doch der Staat wusste jede Menge, drangsalierte aber über Jahre die Opfer der Verbrechen mit rassistischen und kriminalisierenden Ermittlungen und ist bis heute dabei, die eigenen Tatbeiträge zu vertuschen und die Aufklärung zu behindern.

Die Bundesanwaltschaft hatte in ihrem achttägigen Plädoyer Mitte 2017 zwar hohe Strafen für zumindest drei der fünf Angeklagten, insbesondere eine lebenslange Freiheitsstrafe für Beate Zschäpe bei besonderer Schwere der Schuld und anschließende Sicherungsverwahrung sowie zwölf Jahre wegen Beihilfehandlungen für Ralf Wohlleben und André Eminger gefordert und Eminger aus dem Gerichtsaal heraus festnehmen lassen. Im Kern aber war sie bei der Version geblieben, die schon in der Anklageschrift gestanden hatte und als seien im Verlauf des Prozesses nicht erhebliche Zweifel an ihrer These einer isolierten Drei-Personen- Zelle mit wenigen handverlesenen Helfern und an der Rolle des Staates und seiner Behörden aufgekommen.

Bundesanwalt Herbert Diemer wörtlich: „Es ist einfach nicht richtig, [...] dass Fehler staatlicher Behörden und das Netzwerk nicht aufgeklärt worden seien: Fehler und Verstrickung staatlicher Behörden hat es nicht gegeben, sonst wären sie verfolgt worden.“ Schon im Mai 2017 hatte Diemer mit der Gravität der staatlichen Behörde und in der ihm eigenen gepflegten Rüpelhaftigkeit jene als „so genannte NSU-Experten“ beschimpft, die „skandalträchtige Spekulationen“ in die Welt setzten. In einer Art Vorwort zum Schlussvortrag der Bundesanwaltschaft Ende Juli legte er noch einmal nach und bezeichnete die Kritiker_innen der BAW, die seinen nicht mehr ganz frischen, aber für ihn unumstößlichen Schlussfolgerungen nicht folgen wollten, als „Irrlichter“ und „Fliegengesumme im Ohr“.

Dass die starren Thesen der Bundesanwaltschaft durch ständige Wiederholung nicht an Stichhaltigkeit gewinnen, sondern sogar vom Bundestagsuntersuchungsausschuss in Frage gestellt werden, stört Diemer und seine beiden Kolleg_innen im NSU-Verfahren offenbar wenig. Sie behaupten einfach und kontrafaktisch, dass die „Existenz von rechten Hintermännern an den Tatorten, die einige Rechtsanwälte ihren Mandanten offensichtlich versprochen hatten, [...] sich bislang weder in den seit sechs Jahren laufenden Ermittlungen und der Hinweisbearbeitung, noch in der 360-tägigen Beweisaufnahme [...], noch in den breit angelegten Beweiserhebungen der zahlreichen Untersuchungsausschüsse bewahrheitet“ hätte.

Das klang damals zwar erstmal gut, stimmt nur leider nicht: Der zweite NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss betonte im Abschlussbericht und auch in der Anhörung dazu im Bundestag genau das Gegenteil, dass nämlich die BAW durchaus nicht ausermittelt habe, was zu ermitteln gewesen wäre. Auf Seite 947 des 1.800 Seiten starken Berichts vom Juni vergangenen Jahres heißt es etwa, dass „der Zeitdruck, unter dem die Ermittlungen [...] standen, mit dazu beitrug, das Ermittlungskonzept frühzeitig eng zu fassen. Zwar mag eine zügige Anklageerhebung nicht mit langwierigen Ermittlungen zu bundesweit agierenden Neonazi-Netzwerken vereinbar gewesen sein. Allerdings wäre nach Anklageerhebung eine breitere Ermittlungskonzeption möglich und aus Sicht des Ausschusses auch geboten gewesen. Schließlich stand und steht nicht fest, dass es keine weiteren strafbaren Unterstützungsleistungen gegeben hat.“

Es blieb dann den Nebenklagevertreter_ innen in ihren Plädoyers überlassen, diese sturen und falschen Behauptungen noch einmal in aller Deutlichkeit zu widerlegen und, vom „institutionellen Rassismus“ als Generalbass der Ermittlungsbehörden ausgehend, deren Verstrickung und die unheilvolle Rolle des Verfassungsschutz genannten Inlandsgeheimdienstes herauszuarbeiten. So hielt Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer einen bemerkenswerten Folienvortrag über das Netz von V-Leuten, also Zuträgern des Staates aus der Nazi-Szene, welches das NSU-Kerntrio nachweislich engmaschig umgeben hat: In bizarrem Gegensatz zu Diemers Behauptungen lassen sich mindestens 40 solcher Spitzel in unmittelbarer Nähe von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe ausmachen.

Systematische Vernichtung von Akten und Nachweisen

Und diese Erkenntnisse lassen sich zusammentragen, obwohl das Bundesamt für Verfassungsschutz und eine ganze Reihe der eigenständigen Landesämter redlich bemüht waren, entscheidende Nachweise und Akten systematisch zu vernichten[7] oder Ermittlern, Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und dem Gericht selbst vorzuenthalten. In ihrem fulminanten Plädoyer zeichnete Nebenklageanwältin Antonia von der Behrens[8] die Entwicklung des NSU und seines Netzwerks im „Untergrund“ nach – der keiner war, die Untergetauchten bewegten sich lange Zeit frei und offen in der Chemnitzer Naziszene – und parallelisierte dieses Wissen mit dem, was „Sicherheitsbehörden“ zu dieser Zeit unternahmen und von den Flüchtigen wussten. Sie kommt zu dem Schluss, „dass das Netzwerk des NSU groß und bundesweit war und dass von einem abgeschottet agierenden Trio ebenso wenig die Rede sein kann wie davon, dass die VS-Behörden keine Kenntnisse über Ursprung und Existenz des NSU hatten“.

Trotz dieses Wissens hätten die Behörden nicht eingegriffen, um die Verbrechen zu verhindern, die vor ihren Augen vorbereitet und begangen wurden. Im Gegenteil, mehrere Nebenklageanwält_innen wiesen darauf hin, dass ohne staatliche Hilfe etwa über den Thüringer V-Mann Tino Brandt, dem für seine Spitzeldienste 200.000 DM und reichlich Spesen und technischer Support zuteil geworden waren, die dortige Naziszene nicht in der Weise hätte gedeihen können, dass daraus zunächst der „Thüringer Heimatschutz“ (THS) und dann eben der NSU haben entstehen können.

Warum aber lassen staatliche Stellen derartig monströse Strukturen entstehen? Die Frage nach einem Motiv für das Handeln der Sicherheitsbehörden sei unbeantwortet, so von der Behrens. Die dargestellten Vorgänge zeigten aber deutlich, „dass nichts für Fehler, sondern alles für gezieltes Handeln spricht“.

Verhindern, dass „Regierungshandeln unterminiert“ wird

Die Frage, warum es eine Aufklärung des NSU-Komplexes gar nicht hat geben können, ist unterdessen schon Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung geworden und führt weiter Fragende immer wieder zur zentralen Rolle der Bundesanwaltschaft. In der exzellenten Arbeit von Isabella Greif und Fiona Schmidt dazu wird diese wie folgt auf den Punkt gebracht: „Das Handeln der BAW [torpediert] die Aufklärung von Institutionellem Rassismus und staatlichen Verstrickungen im NSU-Komplex. [...] Die BAW nutzt ihre Möglichkeiten an Ermittlungen und Auskunftsrechten nur so weit aus, dass das Handeln staatlicher Behörden nicht in den Fokus gerät. Indem V-Personen und die Rolle der Verfassungsschutzbehörden unter Leitung der jeweiligen Innenministerien zum Schutze des Regierungshandelns der Strafverfolgung entzogen werden können, wird die Staatsräson über die Aufklärung von Straftaten gestellt. In diesem Sinne schränkt die BAW informationspolitisch nicht nur die Transparenz über ihre eigenen Ermittlungen und die Erkenntnisse anderer Behörden ein, sondern auch eine mediale, prozessuale und politische Öffentlichkeit.“[9]

Die BAW hatte von Anfang an die Aufgabe, den Staat und die geheimdienstliche Sphäre der Staatsräson vor dem Zugriff allzu Wissbegieriger zu schützen, um eben zu verhindern, dass „Regierungshandeln unterminiert“ werde. Wenn es dazu die Verstrickung staatlicher Akteur_innen in rassistische Morde, Sprengstoffanschläge und weitere brutale Verbrechen, mindestens aber ihr Wissen darüber, herunterzuspielen, zu leugnen und zu vertuschen galt, so war das den Aufwand und vorübergehenden Glaubwürdigkeitsverlust wert: Dem Verfassungsschutz, so kann man zusammenfassen, konnte nichts Besseres als der NSU passieren.

Er steht heute besser da denn je, hat mehr Geld, mehr Mitarbeiter_innen und mehr Kompetenzen, V-Leute genießen seit 2015 Straffreiheit bei noch mehr „szenetypischen“ Delikten als bisher. Und der Imageschaden war, zumindest in den Leit- und Qualitätsmedien, trotz bis heute immer neuer skandalträchtiger Enthüllungen und haarsträubender Skandale, schon 2012 im Grunde vergessen.

Der Text erschien zuerst in «DIE ROTE HILFE» 3/2018.


[1] Das Ermittlungsverfahren gegen Andreas Temme wurde unterdessen Anfang Mai 2018 eingestellt.

[2] www.forensic-architecture.org/case/77sqm_926min/

[3] Ein voluminöser interner Untersuchungsbericht aus dem Hessischen Innenministerium aus der Ägide von Innenminister Boris Rhein, der Verbindungen aus Hessen zum NSU untersuchen sollte, ist, nachdem dem hessischen PUA nur 29 Seiten davon vorgelegt wurden, für unerhörte und völlig unübliche 120 Jahre als „geheim“ klassifiziert worden. 

[4] Stefan Aust/Dirk Laabs/Hermann Büchel: Starb VMann Corelli durch Rattengift?, Die Welt vom 8. Juni 2016. 

[5] Feyder/Ullenbruch/Weißenborn: Der Fall Florian Heilig, Stuttgarter Nachrichten vom 17. Februar 2016.  

[6] Aust/Laabs: Der NSU-Komplex – Die Jagd auf die Terroristen, ARD-Dokumentation vom 6. April 2016.

[7] Der wohl erste und wichtigste Vernichter von Akten im NSU-Kontext war der Referatsleiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, „Lothar Lingen“, vulgo Axel Minrath, der bereits am 11. November 2011 sämtliche Akten von NSU-Relevanz zusammensuchen und dann vernichten ließ, insbesondere die Akten zur „Operatrion Rennsteig“, an der auch MAD, BND und weitere LfVs beteiligt waren. Zunächst log er offen und tat, als sei die ganze „Aktion Konfetti“ nur Fristen und dem Datenschutz geschuldet gewesen; erst später musste er die gezielte und willentliche Vernichtung der Akten einräumen. Ein Ermittlungsverfahren wegen „Verwahrungsbruchs“ wurde im Frühjahr 2018 gegen Zahlung von 3.000 Euro eingestellt. Siehe dazu auch den ausführlichen Artikel auf Seite 27 dieser Ausgabe.

[8] Die wichtigsten Nebenklage-Plädoyers und Schlusserklärungen sind zum Glück bereits publizistisch dokumentiert: Antonia von der Behrens (Hrsg.): Kein Schlusswort. Nazi-Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstützernetzwerk: Plädoyers im NSU-Prozess, Berlin 2018, www.vsa-verlag.de/nc/buecher/detail/artikel/kein-schlusswort/ und Mehmet Daimagüler: Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess, Köln 2017, www.luebbe.de/bastei-luebbe/buecher/politik-und-gesellschaft/empoerung-reicht-nicht/id_6504436

[9] Isabella Greif, Fiona Schmidt: Staatsanwaltschaftlicher Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt am Beispiel des NSU-Komplex‘ und des Oktoberfestattentats, Potsdam 2017.