Publikation Demokratischer Sozialismus - Sozialismus Wir müssen mehr über den Sozialismus reden

Die Linke drückt sich vor der Frage, was damit eigentlich gemeint ist. Georg Spoo findet: Es wird Zeit, dass sich das ändert.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Georg Spoo,

Erschienen

September 2018

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«Der Sozialismus funktioniert erst in einem vollautomatisierten gesellschaftlichen Produktionszusammenhang richtig? Dieses Argument führt in techno-deterministische Resignation und politischen Defätismus und stellt den Kapitalismus als gesellschaftliche Produktionsweise eigentlich nicht ernsthaft infrage.» CC BY 2.0, Steve Jurvetson, via Flickr
Die Krise der Gesellschaft und die Krise der Linken: Warum über den Sozialismus sprechen?

Über viele Jahre hinweg war der politische Raum hermetisch geschlossen und die utopische Vorstellungskraft sediert: Kapitalismuskritik und Sozialismus führten ein absolutes Rand- und Nischendasein. Die Linke war entsprechend kaum gefordert, ihre politischen Zukunfts- und Zielperspektiven plausibel zu machen. In diesen Zeiten herrschte bei vielen Linken das Selbstverständnis vor, unterhalb der Wahrnehmungs- und Relevanzschwelle des gesellschaftlichen Diskurses die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft voranzutreiben, um im Moment einer Öffnung des politischen und diskursiven Raumes eine elaborierte politische Alternative anzubieten. Seit wenigen Jahren hat diese Öffnung stattgefunden. Wir erleben eine «Krise in der Krise», die darin besteht, dass die ökonomische Krise durch die Funktionseliten weder politisch noch ideologisch reguliert werden kann: Ein neuer stabiler ökonomischer Akkumulations- und politischer Regulationsmodus ist nicht absehbar. Der westliche «Wohlstandsliberalismus» ist in seiner Überzeugungs-, Bindungs- und Legitimationskraft stark geschwächt oder hat sie sogar ganz verloren.

Anders als erhofft, profitiert von dieser krisenhaften Öffnung nun aber nicht die Linke, sondern die Rechte. Ob selbstverschuldet oder nicht: Die Linke ist weitgehend darin gescheitert, von der Kritik des Kapitalismus und der Idee des Sozialismus zu überzeugen und für sie zu begeistern. Ihre Abwesenheit in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatte ist geradezu gespenstisch, beinahe eine pervertierte Wiederkehr des «Gespenst des Kommunismus». Die Linke scheint heute stärker in der Defensive als noch vor der ökonomischen und politischen Krise. Ein strategischer Rückzug in die Echokammer der Kritik wäre aber der falsche Ausweg aus dieser Misere. Der Weg darf nicht scheu zurück oder nach innen, er muss mutig nach vorne und nach außen gehen: Politik ist immer auch eine Frage der gesellschaftlichen, individuellen und existenziellen Stimmungen, der Atmosphären, der Gefühle und Energien. Diese sind derzeit zu einem großen Teil auf Angst, Rückzug, Einmauerung, Kleinlichkeit, Kränkung und Regression eingestellt. Diese Tendenz macht auch vor der Linken nicht halt, die sich vor den Herausforderungen der Welt zu häufig in die wohlfeile Erhabenheit eines sterilen und elitären Moralismus oder in ein eitles Beleidigtsein zurückzieht. Demgegenüber muss die Linke selbstbewusst und lustvoll die entgegengesetzte Richtung einschlagen: Die wirklich andere Welt, die echte Zukunft ist derzeit eine Leerstelle, und das führt bei denen, die nicht auf Rückzug gestimmt sind, zu politischer wie normativer Orientierungslosigkeit und Verunsicherung. Die Linke muss daher den Mangel des Utopischen und den Verlust der Zukunft bekämpfen. Das darf aber nicht zu einer erneuten Weltflucht in Luftschlösser führen. Vielmehr muss die linke und sozialistische Idee der Zukunft so formuliert werden, dass sie Perspektiven, Orientierung und Halt auch für die politische Gegenwart stiften und Handlungsspielräume erschließen kann. Nur dann ist sie mehr als eine Idee, nämlich eben auch die «wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt» (Marx). Die Zukunft wird nur dann ernsthaft erschlossen, wenn man keine Scheu vor der Gegenwart und vor der Wirklichkeit hat. In der gegenwärtigen politisch-normativen Umbruchsituation zerrinnt vielen die Welt und ihre Zukunft in den Fingern. Die Linke muss daher eine Welt und eine Zukunft eröffnen, in der die Menschen leben wollen, und die sie auch erreichen können. Die Linke muss klar sagen können, was sie will und wie sie dahinkommen will. Das ist in Zeiten eines beginnenden politischen Nihilismus offenbar der einzige Weg, der aus der Defensive herausführt.

Die Sozialismusdiskussion: Linke Vermeidungsstrategien

In der linken Diskussion wird die Frage, was mit Sozialismus eigentlich gemeint ist und wie man ihn erreichen kann, jedoch oftmals vermieden. Sozialismus bleibt eine vage Blackbox, ein leeres Schlagwort, ein blinder Fleck. Das bedeutet aber, dass weder den Linken selbst noch allen anderen Menschen eigentlich klar ist, was mit Sozialismus genau gemeint sein soll. Es ist nicht naiv, mehr über den Sozialismus sagen zu wollen als rudimentäre und letztlich auch nichtssagende Allgemeinplätze. Es ist vielmehr umgekehrt naiv, zu meinen, eine glaubwürdige und mehrheitsfähige politische Alternative auf einem blinden Fleck begründen zu können. Es muss dabei nicht darum gehen, eine künftige sozialistische Gesellschaft schon in Gänze und im Detail zu entwerfen. Vielmehr geht es darum, im «mittleren Abstand» Grundfragen und Grundprobleme des Sozialismus zu identifizieren und zu diskutieren, die auch für die linke und gesellschaftliche Diskussion und Praxis in der Gegenwart relevant sind.

Ein erster Einwand gegen eine solche Sozialismusdiskussion lautet, dass das Ziel, nämlich eine ungefähre Vorstellung davon, was mit Sozialismus gemeint ist, in solchen Diskussionen notwendigerweise verfehlt wird: Der Horizont solcher Diskussionen kann nämlich, so der Einwand, nur die Geschichte und die Gegenwart, aber nicht die noch ausstehende Zukunft sein, und das Zukunftspotenzial des Sozialismus wird daher durch die Gegenwartsperspektive verfälscht. Über die künftige Gesellschaft wird daher ein «Bilderverbot» verhängt. Wenn die Zukunft aber von der Gegenwart her erreicht werden soll, dann trägt jene immer die Spuren dieser. Der Sozialismus ist keine politische Theologie der Erlösung, sondern eine reale Befreiung der Gegenwart. Ein verwandter zweiter Einwand lautet, dass solche Diskussionen anmaßend, ja sogar autoritär und entmündigend sind. Denn sie würden den Akteuren, die künftig einmal den Sozialismus verwirklichen, vorschreiben, was und wie sie es zu tun haben. Diese Akteure, so eine Variante dieses Einwandes, werden aber vor ganz anderen Problemen und Herausforderungen stehen, als wir es uns heute vorstellen, und werden aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Situation auch eine ganz andere und neue Perspektive auf diese Herausforderungen haben. Wenn das aber stimmt, ist es zumindest nicht schädlich, auch heute schon erste Annäherungen an das sozialistische Projekt zu versuchen. Die veränderte Perspektive künftiger Akteure wird womöglich überholte Vorstellungen aus der Vergangenheit nämlich kaum als Hindernis oder gar Vorschrift empfinden. Vielmehr scheint es umgekehrt naheliegend, dass bereits geführte Diskussionen und erarbeitete Probleme und Perspektiven künftigen Diskussionen als Ausgangs- und Orientierungspunkt dienen können. Und schließlich sind ja auch Linke heute bereits selbst schon Akteure der Veränderung, die nicht erst mit der faktischen Transformation gesellschaftlicher Institutionen einsetzt, sondern zumindest ihre Vorgeschichte in vorhergehenden Debatten, Annäherungen und Versuchen hat.

Solche Einwände gegen die Diskussion von Sozialismuskonzeptionen hängen insgeheim oftmals einem «revolutionären Perfektionismus» und «Singularismus» an: Gesellschaftliche Veränderung wird als ein einmaliger Akt verstanden, der entweder gelingt – oder scheitert. Demgegenüber scheint es plausibler, dass Veränderung immer auch ein Prozess, eine Entwicklung in Ungleichzeitigkeit, in langen Anläufen und mit Schüben ist, und dass Scheitern, Fehlschläge und missglückte Versuche dem sozialistischen Projekt selbst eingeschrieben sind und mitgedacht werden müssen, durchaus auch als produktive und lehrreiche Momente. «Lineare oder bruchhafte Veränderung», «Reform oder Revolution» scheint somit eine falsche und unproduktive Alternative – aber diese Ansicht ist bereits eine spezifische Position innerhalb einer Diskussion, wie sozialistische Veränderung gelingen kann.

Ein dritter Einwand gegen die Diskussion von Sozialismuskonzeptionen lautet, dass sie schlicht überflüssig und verfrüht ist, solange die objektiven Bedingungen noch nicht «reif» sind. Unter objektiven Bedingungen werden entweder die gesellschaftlichen Konflikte und Kämpfe oder der Entwicklungsstand der Produktivkräfte verstanden. Anders als bei den ersten beiden Einwänden wird hier nicht die Position vertreten, dass es für das sozialistische Projekt bereits schädlich sein könnte, «verfrüht» die Grundlagen des Sozialismus zu diskutieren. Da dieser dritte Einwand an einer bestimmten geschichtsphilosophischen Konzeption orientiert ist, die falsch sein könnte, ließe sich in einer sozialistisch-säkularen Variante der Pascal'schen Wette einwenden: Es ist möglich, dass diese Diskussionen überflüssig, verfrüht und ohne Wirkung sind. Da aber die Möglichkeit besteht, dass sie doch einen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Kämpfe nehmen, verliert man nichts, wenn man sich ihnen widmet.

Ein stärkeres Gegenargument lautet, dass die gesellschaftlichen und politischen Kämpfe und Konflikte durch eine ausgearbeitete sozialistische Perspektive stärker Orientierung, Gewissheit und Selbstbewusstsein gewinnen können und eben nicht allein durch objektive Bedingungen bestimmt werden. Das Argument der unzureichenden Entwicklung der Produktivkräfte hört man bisweilen in der Variante, dass der Sozialismus eigentlich erst in einem rundum vollautomatisierten gesellschaftlichen Produktionszusammenhang funktionieren kann. Dieses Argument führt aber in techno-deterministische Resignation und politischen Defätismus und stellt den Kapitalismus als gesellschaftliche Produktionsweise eigentlich nicht ernsthaft infrage: Wirtschaftsliberale verteidigen den Kapitalismus mit dem Argument, dass er die bislang effizienteste und gerechteste Weise ist, die gesellschaftliche Produktion und Konsumtion zu koordinieren; gerade weil sie ungesteuert und ungeplant verläuft. Wenn diese marktvermittelte Koordination von Produktion und Konsumtion aber einmal gar nicht mehr erforderlich wäre, weil sämtliche Bedarfsgüter ohne Arbeitsaufwand maschinell erzeugt werden können, dann wäre natürlich auch der Markt als Koordinationsinstanz überflüssig – das würde wohl selbst der eisernste Marktverfechter zugeben. Begründet sich eine sozialistische Position also allein durch dieses Argument, ist sie trivial und politisch bedeutungslos. Der Lackmustest für den Sozialismus besteht demgegenüber darin, ob er – solange wir noch nicht im Paradies der Vollautomation leben – eine «bessere», das heißt eine effizientere, gerechtere, demokratischere oder «menschlichere» Koordination von Produktion und Konsumtion ermöglicht. Solange nicht plausibel gezeigt werden kann, wie das gelingen könnte, ist es kein Wunder, wenn kaum jemand vom Sozialismus überzeugt ist.

Fragen und Herausforderungen des Sozialismus: Normen, Politik und Ökonomie

Es ist also dringend Zeit, dass die Linke über den Sozialismus diskutiert und auch nach «außen» kommuniziert, was sie sich darunter eigentlich vorstellt. Eine solche offen, pluralistisch und auch kontrovers geführte Sozialismusdiskussion wäre ein klärendes und bestärkendes Experimentier- und Testfeld für die Linke, welche Gesellschaft man eigentlich will. Sie würde sich im besten Fall zu einer gesellschaftlichen Selbstverständigung über diese Frage ausweiten. Die Diskussion, was Sozialismus ist und wie die Gesellschaft aussehen soll, in der man leben will, hat mindestens zwei Ebenen, nämlich einmal eine «ideell-normative» und eine «reell-institutionelle» Ebene.

Auf der «ideellen» Ebene wird verhandelt, welche normativen Grundüberzeugungen und welche utopischen Motive im sozialistischen Projekt leitend sein sollen. Wie die derzeitigen Diskussionen etwa zwischen «kosmopolitischen Universalisten» und «lokal- oder nationalpolitischen Kommunitaristen» zeigen, besteht selbst hinsichtlich des normativen Grundes einer besseren, freieren und gerechteren Gesellschaft keine Einigkeit. Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Würde sind offen und müssen mit konkretem Inhalt gefüllt werden. Auch die utopischen Grundimpulse, die zum Sozialismus motivieren, können sehr verschieden sein: Besteht der utopische Impuls in größtmöglicher Freiheit, in einer permanenten Selbstentwicklung und Persönlichkeitsentfaltung, in Lebenssteigerung und -intensivierung zur Ausdehnung und Vernetzung des gesellschaftlichen Zusammenhanges? Oder besteht dieser utopische Impuls eher in einer Entschleunigung des Lebens, in einer Befreiung vom Wachstums- und Fortschrittsdruck und in der Ruhe des Müßiggangs?

Auf der «reellen» Ebene werden hingegen stärker die strukturellen und institutionellen Fragen und Probleme des sozialistischen Projekts diskutiert: Die zentrale ökonomische Herausforderung des Sozialismus besteht in einer gelungenen Koordination von Produktion und Konsumtion. Häufig lautet die Antwort auf diese Herausforderung, dass im Sozialismus das Prinzip gilt «Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen» (Marx). Wie in letztlich unpolitischen Sci-Fi-Techno-Konzeptionen des Sozialismus wird mit dieser Auskunft das Koordinations- oder Allokationsproblem aber dadurch «gelöst», dass einfach die Voraussetzungen dieses Problems geleugnet werden. Denn wenn die gesellschaftliche Produktion und Konsumtion so organisiert ist, dass wirklich jede und jeder nach ihren bzw. seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen produziert und konsumiert, dann gibt es schlicht kein Koordinationsproblem mehr: Konsumtion und Produktion sind dann immer schon miteinander vermittelt, also unmittelbar identisch und jede Instanz der Vermittlung ist überflüssig. Es ist aber fraglich, ob ein solcher Zustand jemals erreicht werden wird.

Denn erstens ist die Vorstellung einer zügigen Automatisierung der gesamten Produktion eine naive Phantasie, die den nötigen zeitlichen und Ressourcenaufwand und die erforderliche Spezialisierung und Professionalisierung der Arbeitskraft maßlos unterschätzt; zweitens müssen auch Maschinen produziert, bedient und gewartet werden; und drittens ist fraglich, ob ein vollautomatisierter Produktionszusammenhang im Sinne eines Rückbaus gesellschaftlicher Entfremdung, einer Steigerung gesellschaftlicher Transparenz und Selbstbestimmung und eines nicht-instrumentellen Naturverhältnisses überhaupt wünschenswert ist. Solange Arbeitskraft und Konsumgüter nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, bleibt die Koordination von Produktion und Konsumtion ein gesellschaftliches Grundproblem, das durch Automatisierung bestenfalls verschoben, aber nicht aufgelöst werden kann. Solange sozialistische Gesellschaften an ökonomischer Komplexität, Differenzierung und Arbeitsteilung festhalten, müssen die verschiedenen Tätigkeiten koordiniert und mit dem gesellschaftlichen Bedarf abgestimmt werden: Es ist sehr wahrscheinlich, dass es unterschiedliche individuelle Vorstellungen davon gibt, welche Güter gesellschaftlich unbedingt produziert werden müssen und auf welche verzichtet werden kann, und es sind abweichende Präferenzen über gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Entwicklungspfade zu erwarten (Investition der gesellschaftlichen Arbeitskraft in bessere Gesundheitsversorgung oder Luxusgüterproduktion?). Und wahrscheinlich wird auch die jeweilige individuelle Arbeitsbereitschaft voneinander abweichen. Weiterhin gibt es bestimmte Güter, die grundsätzlich nicht allen Menschen zur Verfügung gestellt werden können, wie etwa bestimmte attraktive Wohnlagen. Und dann gibt es wiederum besonders gefährliche und unbeliebte Tätigkeiten, wie etwa Stahlkochen, oder Tätigkeiten, die sich grundsätzlich nicht automatisieren lassen und auch nicht automatisiert werden sollten, wie etwa Pflegearbeit.

Das Problem der Koordination von Produktion und Konsumtion wird auch durch die Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der Ökonomie nicht aufgelöst: Denn wenn Markt und Geld als Vermittlungsinstanzen wegfallen, stellt sich die Frage, durch welche Instanz, durch welche Kriterien und nach welchem Prinzip diese Koordination sozialistisch organisiert werden soll. Verstaatlichung und Vergesellschaftung bedeuten darüber hinaus nicht automatisch, dass diese Koordination gerechter, fairer und menschlicher gelingt. Vielmehr kann gerade das Gegenteil eintreten: Wenn die Verteilung von Arbeit und Gütern entweder durch neue politische Instanzen vermittelt oder ohne intermediäre Instanzen und allein durch politische Deliberation organisiert wird, können im ersten Fall schnell neue Ungleichheits- und Herrschaftsformen entstehen oder im zweiten Fall die gesellschaftlichen Konflikte um diese Verteilung sogar zunehmen.

Ähnlich kompliziert wie die sozialistische Transformation des Ökonomischen ist die sozialistische Transformation des Politischen. Wird einfach der bürgerlich-parlamentarische Staatsapparat übernommen oder wird sich mit dem veränderten politischen Inhalt auch die politische Form verändern? Nach dem Scheitern der realsozialistischen Verstaatlichung der Gesellschaft scheint es naheliegend, demgegenüber den Staat zu vergesellschaften. Aber wie wird das sozialistische Gemeinwesen dann politisch organisiert? In welcher Arena werden politische Entscheidungen getroffen und wie werden verbindliche Übereinkünfte sichergestellt? Wie werden politischer und gesellschaftlicher Dissens und Kontroversen vermittelt und in welchem Modus Konflikte moderiert?

Was bedeutet eigentlich Vergesellschaftung?

Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, was die Vergesellschaftung der Ökonomie und des Staates eigentlich genau bedeutet. Häufig wird unter Vergesellschaftung erstens Entdifferenzierung, das heißt die Rücknahme der Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme (Politik, Ökonomie, Recht, Kultur usw.), zweitens Demediatisierung, das heißt ein Abbau von Vermittlungs- und Mediationsinstanzen verstanden, und dann drittens die totale Politisierung – oder treffender: Agoraisierung – aller Lebensbereiche, sodass buchstäblich alles zum Gegenstand kollektiver Deliberation und freier Entscheidungsfindung werden kann oder sogar muss. Eine solche Auflösung der gesellschaftlichen Vermittlung in Unmittelbarkeit oder der Differenz in Identität ist aber hoch problematisch: So stellt sich etwa die Frage, ob eine solche Auflösung nicht zu einer heillosen Überforderung des Politischen führt? Verwandelt eine solche Politisierung die Menschen nicht in von Dauerplenen gestresste und erschöpfte Politaktivisten? Ist es sinnvoll, die historisch entwickelten Subsysteme einer Gesellschaft allein einem System zu unterstellen? Ist es etwa im Falle des Rechts nicht sogar mit erheblichen Gefahren verbunden? Haben als «entfremdend» erlebte Vermittlungsinstanzen nicht auch eine zivilisierende und entlastende Wirkung? Ist es wünschenswert und möglich, die Gesellschaft in ein riesiges Rätesystem aufzulösen? Gesellschaftliche Differenzierung birgt die Gefahr, dass sich Teilsysteme gegen das Ganze verselbstständigen und eine dominante Position einnehmen. Die Auflösung der Differenzierung birgt hingegen die Gefahr, dass im Schein gesellschaftlicher Einheit gesellschaftliche Differenzen ohne Vermittlungs- und Kontrollinstanzen ausgetragen werden und neue anarchische Herrschaftsverhältnisse erzeugen.

Vielleicht ist es aber auch ein Missverständnis, Vergesellschaftung als totale Politisierung zu verstehen? Denn in einer solchen Politisierung wird die Politik als einziges partikulares Teilsystem festgehalten und zum Gesamtsystem der Gesellschaft aufgespreizt. Dabei handelt es sich um eine Art «Entdifferenzierung unter Beibehaltung der Differenz». Müsste demgegenüber eine gelungene «Entdifferenzierung» der gesellschaftlichen Teilsysteme – anstatt der Verlängerung der Politik also etwa die Aufhebung des Gegensatzes von Politik und Wirtschaft – nicht gerade darin bestehen, eine neue Einheit zu begründen, die die Differenzierung in sich fasst und die Teilsysteme als Teilsysteme dadurch auflöst? Denn nur dann wird eine wirklich neue Einheit begründet, anstatt ein Element der Differenz zum Prinzip einer dadurch einseitig werdenden Einheit zu machen. Aber damit werden die Probleme keineswegs geringer, weil gar nicht klar ist, was die Gestalt einer solchen «wahren» und umfassenden gesellschaftlichen Einheit sein könnte.

Diese Überlegungen reißen viele Fragen nur perspektivisch, versuchsweise und im Ansatz an. Ein sozialistisches Projekt kann nur dann Selbstsicherheit gewinnen und überzeugen, wenn die mit ihm verbundenen Fragen, die Herausforderungen und Probleme nicht vermieden, sondern offensiv angesprochen und diesbezügliche Kontroversen ausgetragen werden. Freilich werden Veränderungen kaum allein durch ausgefeilte theoretische Konzepte initiiert, sondern durch die politische und gesellschaftliche Praxis. Eine streitbare, solidarische und an der Sache orientierte, nicht einseitige Debatte über diese Veränderung, in der sich die verschiedenen Ansichten nicht gegeneinander verschanzen, ist jedoch selbst schon ein integrales Element genuiner sozialistischer Praxis.[*]

 
Georg Spoo promoviert zu Kant und Fichte und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg.

Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin



[*] In diesem Sinne ist auch der vorliegende Text keine Privatproduktion, sondern wäre ohne den Austausch und die Diskussionen mit Freunden nicht in dieser Form möglich gewesen. Besonders inspirierend waren die Diskussionen mit Philip Bergstermann, Samuel Strehle und Michael Brie.