Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Stadt / Kommune / Region - International / Transnational - Globalisierung - Migration / Flucht - Westeuropa - Europa solidarisch - Globale Solidarität - Migration und Metropolen Solidarische Städte: Globale Soziale Rechte und das Recht auf Mobilität

«Solidarity Cities» in Europa und Nordamerika sind politisch heterogen und verfolgen unterschiedliche Interessen. Ein Vergleich.

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Stefanie Kron, Henrik Lebuhn,

Erschienen

September 2018

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Solidarity City
Solidarity City: «Alle Menschen sollen teilhaben und das Stadtleben mitgestalten können – unabhängig von Aufenthaltsstatus, finanziellen Möglichkeiten, Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität, Religion, …» solidarity-city.eu

Während die Staatschefs der EU-Mitgliedsländer und der USA migrationspolitische Restriktionen vorantreiben, ihre Grenzen weiter abschotten und dabei den Tod tausender Hilfesuchender auf den Fluchtrouten in Kauf nehmen, erklären Stadtregierungen ihre Städte zu «solidarischen Städten» oder «Städten der Zuflucht». Für die Entwicklung einer linken migrationspolitischen Strategie gilt es, solidarische Städte als Orte der Umsetzung globaler sozialer Rechte in den Blick zu nehmen und sich mit den unterschiedlichen Städtenetzwerken kritisch auseinanderzusetzen.
 

Als im Juni dieses Jahres die neue rechte Regierung Italiens mehreren Rettungsschiffen privater NGOs das Anlegen in italienischen Häfen verwehrte, sollte sich dies als dramatischer Auftakt zu einer weiteren Runde europäischer Festungspolitik erweisen. Seitdem ist die zivile Seenotrettung im zentralen Mittelmeer nahezu blockiert, Kapitänen und Crews drohen strafrechtliche Verfahren u.a. wegen „Unterstützung illegaler Migration.“ Allein im Juni sind dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) daher mindestens 700 Menschen im Mittelmeer ertrunken (Stand: 14.8.2018).

Dagegen begehren Stadtgesellschaften überall in Europa auf. Für internationale Aufmerksamkeit sorgten Mitte Juni die Statements der Bürgermeister süditalienischer Küstenstädte, darunter Palermo, Neapel und Ravenna. Alle kritisierten aufs Schärfste die Weigerung der Zentralregierung, das Rettungsschiff «Aquarius» mit über 600 Bootsflüchtlingen an Bord in einem italienischen Hafen vor Anker gehen zu lassen und erklärten sich bereit, die auf dem Schiff befindlichen Flüchtlinge in ihren Städten aufzunehmen. Auch die Stadtregierungen von Köln, Düsseldorf, Bonn, Berlin und Kiel signalisierten kurz darauf ihre Bereitschaft, Bootsflüchtlinge aufzunehmen. Der Berliner Senat war zuvor mit den Stadtregierungen von Barcelona und Neapel in Verhandlungen um eine Kooperation im Flüchtlingsschutz getreten.

Viele der Städte, die sich derzeit für eine Aufnahme von Geflüchteten einsetzen, gehören dem 2016 gegründeten Netzwerk der Regierungen europäischer Großstädte «Solidarity Cities» an. Der Städteverbund ist allerdings kein aktivistisches Netzwerk. Es handelt sich eher um eine «Elefantenrunde» von Stadtregierungen europäischer Metropolen, zumeist Hafenstädte, die auf eine effizient koordinierte Steuerung dessen drängt, was im Gründungsdokument «Flüchtlingskrise» genannt wird. Gefordert wird von der EU-Kommission eine Erhöhung der Mittel für die soziale Infrastruktur jener Städte in Europa, in denen de facto die meisten Geflüchteten ankommen oder bereits leben.

Politischer Druck kommt aber auch von der aktivistischen Basis. Im vergangenen Jahr haben Flüchtlingsräte, migrantische Organisationen, Willkommensinitiativen, linke Bewegungen, stadtpolitische NGOs, kirchliche Gruppen und Wissenschaftler*innen in Städten wie Berlin, Bern, Köln und Zürich sowie in zahlreichen kleineren Städten das alternative Städtenetzwerk mit dem fast identischen Namen «Solidarity City» ins Leben gerufen. Mit seinen Forderungen geht das Bündnis deutlich weiter als das offizielle europäische Städtenetzwerk: Es geht es um Abschiebestopps und die direkte Aufnahme von Flüchtlingen, aber darüber hinaus auch um eine grundsätzliche Demokratisierung des städtischen Lebens.

Diese Beispiele zeigen die wachsende Bedeutung stadtpolitischer Bündnisse im Kampf gegen den europaweiten Rechtsruck und die Verschärfung der europäischen Grenz- und Migrationspolitik (Kron 2017). Denn nicht nur die Abschottungspolitik im Mittelmeer, die Frage der nationalen Staatsangehörigkeit und des ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus, sondern auch die Politik der Städte und Kommunen spielen für die Lebensbedingungen von Migrant*innen in der EU eine wichtige Rolle. Für die Entwicklung einer linken Strategie auf dem Feld der Migrationspolitik ist es daher zentral, sich mit den unterschiedlichen Städtenetzwerken kritisch auseinanderzusetzen. Vor allem geht es dabei um die Frage, wie sich lokalpolitische Maßnahmen entwickeln lassen, mit denen sich nationale und europäische Migrationskontrollen und Ausschlussmechanismen zumindest auf der kommunalen Ebene umgehen oder sogar außer Kraft setzen lassen.
 

Die solidarische Stadt: Globale Bewegungsfreiheit und soziale Rechte

Was zunächst aussieht, als handele es sich um zwei getrennte Themen – das der EU-Grenzpolitik und das der sozialen Rechte in der Stadt – stellt sich bei genauerem Hinsehen als zusammengehörig heraus. Indem solidarische Städte mit neuen Ideen experimentieren, den Zugang zu Rechten und Ressourcen von Nationalität und Staatsbürgerschaft zu entkoppeln, z.B. durch kommunale Ausweise, stärken sie zumindest implizit auch die Kämpfe für offene Grenzen. Denn obgleich für eine wachsende Zahl von Menschen die Voraussetzung für den Zugang zu sozialen Rechten, ist das von pro-migrantischen Initiativen und Geflüchtetenbewegungen eingeforderte Recht auf (globale) Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit bislang keines der katalogisierten sozialen Rechte im engeren Sinne. Die so genannte Freizügigkeit, d.h. die freie Wahl des Aufenthaltsortes, gehört dem Charakter nach eher zu den individuellen Freiheitsrechten und damit zu den bürgerlichen Rechten. Der Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gibt jedem Menschen das Recht, «sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen sowie jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.» (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948). Die Menschenrechtscharta erkennt also ein Auswanderungsrecht an, nicht aber ein Einwanderungsrecht.

Auch in den 2015 vereinbarten UN-Nachhaltigkeitszielen, auf die sich in affirmativer oder kritischer Weise vor allem humanitäre und entwicklungspolitische NGOs immer wieder beziehen, finden sich globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit nicht als eigenes Entwicklungsziel. Stattdessen handelt es sich nur um einen Unterpunkt, in dem sehr unkonkret formuliert wird, dass «geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle» Formen der Migration geschaffen werden sollen, auch durch die «Implementierung geplanter und gut organisierter Migration». Weitere Unterpunkte haben einen indirekten Bezug zu Migration. Sie beinhalten etwa die Reduktion der Transaktionskosten für migrantische Geldüberweisungen (remittances) oder den Kampf gegen Menschenhandel und Zwangsarbeit. Von einem Recht auf Migration für Alle, ein Recht, das die meisten Menschen in Europa oder Nordamerika selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, ist in den Nachhaltigkeitszielen hingegen nichts zu lesen.

Diese rechtliche und entwicklungspolitische Lücke wird in den Sozial- und Geisteswissenschaften kontrovers diskutiert. Autor*innen, die versuchen, eine globale Perspektive in der Ungleichheitsforschung oder der politischen Philosophie einzunehmen, sehen im ungeteilten Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Zugang zu vielen weiteren (sozialen) Rechten und damit für das Ziel globaler sozialer Gerechtigkeit (vgl. auch Cassee 2016; Forschungsgruppe «Staatsprojekt Europa», 2014). So schreibt der Politikwissenschaftler Joseph Carens, dass die Staatsbürgerschaft in einem wohlhabenden Land angesichts bestehender Mobilitätsschranken für die Mehrheit der Menschen in der Welt mit einem feudalen Privileg vergleichbar sei, da sie Lebenschancen massiv ungleich verteile. Wer das Bekenntnis zur individuellen Freiheit ernst nehme, komme nicht umhin, ein allgemeines Recht auf internationale Bewegungsfreiheit zu akzeptieren (Carens 1987).

Die in der nördlichen Hemisphäre insbesondere von der EU und den USA betriebene «Politik mit dem Visum» und den damit verbundenen «global mobility divide», bezeichnet der Soziologe Stephan Lessenich sogar als einen zentralen Eckpfeiler der «Externalisierungsgesellschaften». Denn so würden die «imperiale Lebensweise» und Privilegien im globalen Norden zu Lasten und Kosten der Menschen im globalen Süden aufrechterhalten: «Mobilitätschancen sind hier eine monopolisierte Ressource, die man selbst in Anspruch nimmt, anderen hingegen verwehrt. Physische Bewegungsregulation – die einen sind mobil, die anderen werden demobilisiert – ist ein wesentliches Element westlichen Lebensstils» (Lessenich 2017: 137).

In den Bewegungen und Netzwerken für eine solidarische Stadt werden das Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit für Alle dagegen faktisch anerkannt, und Versuche unternommen, globale soziale Rechte im lokalen politischen Raum umzusetzen. Besonders deutlich wird dies in der «Charta von Palermo», die Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando 2015 ausformulierte und auf die sich viele solidarische Städte in Europa seither beziehen. Explizit fordert Orlando darin die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigung, die Verknüpfung bürgerlicher Rechte mit dem Wohnort sowie die bedingungslose Gewährleistung des (Menschen-)Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit.
 

Stadtbürger*innenschaft: Rechte für Alle

Solche Politiken der Stadtbürger*innenschaft werden in der anglo-amerikanischen Debatte mit dem Begriff Urban Citizenship bezeichnet. Konzeptionell bezieht sich die Debatte u.a. auf den Soziologen T.H. Marshall und sein 1950 veröffentlichtes Essay «Citizenship and Social Class». Das Citizenship Konzept ist allerdings deutlich weiter gefasst als der deutschsprachige Begriff der (Staats-)Bürgerschaft und ermöglicht ein differenziertes und historisch informiertes Verständnis von sozialer, politischer und ökonomischer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Marshall 1950). In der Debatte um Stadtbürger*innenschaft wird genau diese Perspektive auf die lokale Ebene und auf städtische Prozesse eng geführt (Hess/Lebuhn 2014). Vor diesem Hintergrund wird von städtischen oder regionalen Formen von Bürgerschaft gesprochen, wenn lokalpolitische Instrumente eingeführt werden, die soziale Teilhabe nicht nur für Staatsbürger*innen gewährleisten oder ausdehnen, sondern auch Stadtbewohner*innen integrieren, die keinen formalen Bürger*innenstatus besitzen bzw. diesen auf Grund ihrer marginalisierten sozialen Position nicht zur Geltung bringen können (García 2006).

In den jüngeren Beiträgen zu dieser Debatte wird Citizenship bzw. Bürger*innenschaft dabei nicht nur als Status verstanden, den Menschen entweder besitzen oder eben nicht. Stattdessen wird auch auf die politischen und sozialen Kämpfe fokussiert, durch die Anerkennung, Rechte und der Zugang zu Ressourcen überhaupt erst erstritten werden. Engin Isin und Greg Nielsen haben, v.a. mit Blick auf die Situation von Migrant*innen und Geflüchtete, für diese Kämpfe um Rechte den Begriff «acts of citizenship» geprägt (Isin/Nielsen 2008).
 

Vorbild Sanctuary City

Ein prominentes Vorbild für die europäischen Netzwerke solidarischer Städte bildet die Sanctuary City-Bewegung. Sie hat sich seit den 1980er Jahren in kanadischen und US-amerikanischen Städten und Kommunen entwickelt (Lippert/Rehaag 2013). Angestoßen von der Mobilisierung starker Immigrant Rights-Bewegungen verbieten progressive Bürgermeister*innen und Stadtregierungen ihren lokalen Verwaltungen und der Polizei eine direkte Zusammenarbeit mit den nationalen Einwanderungsbehörden. Razzien und Abschiebungen werden so erheblich erschwert. Denn die Bundesbehörden, welche Kontrollen und Abschiebungen durchführen, sind in aller Regel auf Unterstützung der Behörden vor Ort angewiesen. Doch geht es einigen US-amerikanischen und kanadischen Kommunen meist um deutlich mehr, als «nur» um Schutz vor Abschiebungen und ein mehr oder minder prekäres «Recht zu bleiben».

Einige Städte, zum Beispiel New York City oder San Francisco, geben bereits seit mehreren Jahren eigene kommunale Ausweispapiere aus: So genannte City-IDs (Lebuhn 2016). So soll Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus, aber auch anderen marginalisierten Gruppen in der Stadt, der Umgang mit lokalen Behörden und Verwaltungen erleichtert und mehr Sicherheit im städtischen Alltag geboten werden. Zwar bleibt die Reichweite einer solchen Politik der Anerkennung begrenzt. Dennoch sind die alltäglichen Erleichterungen, die ein Sanctuary City-Status oder ein kommunaler Ausweis mit sich bringen, nicht zu unterschätzen: etwa bei der Anmeldung der Kinder an einer öffentlichen Schule, der Nutzung öffentlicher Bibliotheken, dem Zugang zu städtischen Ressourcen im weitesten Sinne oder auch bei der Eröffnung eines Bankkontos oder dem Abschluss eines Mietvertrags.

Im Vergleich zum deutschsprachigen Raum ist daran auch interessant, dass das Thema Migration nicht über Diskurse kultureller Differenz wie das Integrationsdispositiv, ethnische Zuschreibungen oder die angebliche Herausbildung von Parallelgesellschaften angegangen wird. Stattdessen geht es um das Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft einerseits und den damit einhergehenden Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe anderseits (Holston/Appadurai 1999: 4). Dies wiederum betrifft nicht nur Migrant*innen, auch wenn diese vielfach aus der (formalen) Staatsbürgerschaft ausgeschlossen sind, sondern alle Menschen, die im Zuge von Neoliberalisierungsprozessen ins gesellschaftliche Abseits gedrängt und de facto in ihren sozialen wie bürgerlichen Rechten beschnitten werden.
 

Zum Beispiel: Gesundheit für Alle!

Stadtbürger*innenschaft erschöpft sich also nicht darin, Abschiebungen zu verhindern. Vielmehr geht es darum, soziale Rechte und gesellschaftliche Teilhabe in ihren unterschiedlichen Dimensionen zu stärken: Das betrifft die sozialen Rechte auf Gesundheit, Bildung, Wohnraum, Arbeit, aber auch kulturelle und gender-spezifische Rechte. Entgegen des oftmals geäußerten Vorbehalts, grundlegende Änderungen ließen sich in diesen Bereichen nur auf nationalstaatlicher Ebene erreichen, gibt es durchaus auch auf landes- und kommunalpolitischer Ebene Handlungsspielräume, zumindest wenn Aktivist*innen, Lokalpolitiker*innen und Verwaltungen am gleichen Strang ziehen (vgl. Fried 2017).

Beispielhaft lässt sich dies auf dem Feld der Gesundheitspolitik zeigen. Obwohl kaum ein Bereich so streng reguliert wird wie der Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem, ist es inzwischen in mehreren Bundesländern gelungen, die medizinische Versorgung von Menschen ohne Zugang zu den gesetzlichen Krankenkassen über alternative öffentliche Programme zu ermöglichen. Das wiederum kommt nicht nur Migrant*innen ohne regulären Aufenthaltsstatus zugute, sondern auch vielen anderen Menschen, die auf Grund ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung aus der Regelversorgung gedrängt worden sind. In Berlin etwa sollen ab Herbst 2018 jährlich 1,5 Millionen Euro für die ärztliche Behandlung mit einem anonymen Krankenschein bereitgestellt werden. Den Krankenschein selbst erhalten die Betroffenen über eine nicht-staatliche Beratungsstelle, ohne dabei ihre Identität oder ihren rechtlichen Status angeben zu müssen. Solche Programme sind zwar alles andere als perfekt, denn sie funktionieren noch immer als eine Art Parallelsystem. Aber sie entlasten aktivistische Netzwerke wie das Medibüro Berlin, welche bislang ehrenamtlich eine medizinische Versorgung für benachteiligte Gruppen geleistet haben, und stellen die Versorgung auf institutionelle Füße. Vor allem aber stehen sie für die Einsicht, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, das Recht auf Gesundheit für alle Menschen zu gewährleisten und öffentlich zu finanzieren. 
 

Radikale Demokratisierung oder neoliberale Diversity?

Gerade aufgrund solcher sozialpolitischen und materiellen Komponenten unterscheiden sich städtische Politiken zur Umsetzung globaler sozialer Rechte von Diversity-Programmen neoliberaler Färbung. Viele Länder und Kommunen haben in den vergangenen Jahren solche Diversity-Programme eingeführt (vgl. u.a. Rodatz 2014). Auf europäischer Ebene fungiert seit 2008 das Intercultural Cities Programme (ICC) als Netzwerk für mittlerweile über 100 Städte in Europa, die sich interkulturelle Reformen auf die Agenda geschrieben haben (Lebuhn 2018).

Dass solche Programme zum Ziel haben, Migration zu normalisieren, anstatt sie von vorne herein als «Problem» für die Städte darzustellen, ist ohne Frage zu begrüßen. Zugleich ist der Diversity-Begriff hier oft an Konzepten aus der Unternehmensführung orientiert. Migration wird als ökonomische Ressource verstanden, die den Städten im inter-urbanen Wettbewerb von Nutzen sein kann. So hebt das World Economic Forum (WEF) in einer Studie von 2017 zu den Auswirkungen von Migration in Großstädten weltweit hervor, dass inklusive städtische Migrationspolitiken die «ökonomische Entwicklung» im urbanen Raum positiv beeinflusse. Wird der Bürgerbegriff bemüht, so hat er eher Qualitäten wie «Eigenverantwortung» und «Selbstoptimierung», kombiniert mit der Indienstnahme neokommunitaristischer Vorstellungen einer zivilgesellschaftlichen «Verantwortlichkeit für die Gemeinschaft». Anders als in der Solidarity City-Debatte, die dem «Recht auf Stadt»-Ansatz nahe steht und das «Recht auf Rechte» einfordert, werden Fragen von Umverteilung, Gerechtigkeit oder sozialer Absicherung bestenfalls nachgeordnet. Anknüpfungspunkte für eine linke (Bewegungs-)Politik gibt es daher kaum.
 

Kritik und Gegenkritik

Obwohl sich die Politikansätze vom Solidarity City-Netzwerk und die Sanctuary City-Politiken deutlich von den städtischen Diversity Management-Programmen unterscheiden, werden auch sie aus linker Perspektive kritisiert. Als problematisch gilt vor allem, dass Politiken der Stadtbürger*innenschaft nur «lokal» wirken und in ihrem Anspruch meist ganz «realpolitisch» bleiben. In der Praxis sind die städtischen Bewegungen rund um die Idee der solidarischen Stadt dennoch von großer Bedeutung. Denn zum einen haben sie den Anspruch, breite politische Allianzen zu mobilisieren. Das Solidarity City-Netzwerk etwa möchte «solidarische Orte und Strukturen einer ‹Stadt für Alle›» entwickeln, in der die «Menschen unabhängig von Status und finanziellen Kapazitäten wohnen, arbeiten und leben» können. Das macht die Kampagne auch für mietenpolitische und gewerkschaftliche Initiativen attraktiv. Zum anderen werden Möglichkeiten – nicht nur für Migrant*innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus – geschaffen, den Zugang zu Rechten und Ressourcen zumindest auf der Ebene der Stadt zu ermöglichen. Für die betroffenen Menschen, denen sonst laut nationaler Gesetze und Bestimmungen grundlegende Rechte wie etwa der Zugang zu Wohnraum, Bildung, Gesundheit und Arbeit verwehrt werden, hat dies einen ganz unmittelbaren und kaum zu unterschätzenden Nutzen.

Ein großes Problem ist ohne Frage, dass städtische Regelungen auf Grund ihrer lokalen Reichweite keinen Zugang zu sozialen Sicherheitssystemen gewähren, die meist auf Bundesebene angesiedelt sind. Albert Scherr und Rebeccas Hofmann (2016) argumentieren zudem, dass auch kein regulärer Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht würde und Sanctuary City-Politiken, wie wir sie aus Nordamerika kennen, daher die Entstehung einer «Schattenwirtschaft» begünstigten. Schließlich würde auch kein wirklicher Schutz vor Abschiebungen geschaffen, was bei den Betroffenen möglicher Weise ein trügerisches Sicherheitsgefühl produziere.

Dem lässt sich allerdings entgegenhalten, dass trotz aller Beschränktheit nichts dagegen spricht, auf lokaler Ebene etwas zu unternehmen, um den Alltag von Geflüchteten sicherer zu gestalten. Auch die Kritik mit Blick auf die «Schattenwirtschaft» ist nicht unproblematisch. Denn es wird dabei übersehen, dass der lokale Schutz vor Abschiebungen auch die Durchsetzung regulärer Arbeitsstandards für Alle erleichtert. Gerade Menschen ohne regulären Aufenthaltsstatus wird es leichter gemacht, Rechtsberatungen der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in Anspruch zu nehmen und auch gerichtlich gegen betrügerische Arbeitgeber*innen vorzugehen – sprich: Der Entstehung von «Schattenwirtschaft» wird auf der Seite des Kapitals begegnet und Migrant*innen werden in ihren Arbeitskämpfen gestärkt. Dennoch ist klar: Ob Solidarity City oder Urban Citizenship – Politiken der Stadtbürger*innenschaft sind zwar ein wichtiger, aber doch nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
 

Globale Soziale Rechte und Kämpfe der Migration

Die Bewegungen und Bündnisse der solidarischen Städte und Sanctuary Cities in Europa und Nordamerika sind politisch heterogen, verfolgen unterschiedliche Interessen und wecken diverse Erwartungen anderer politischer Akteure. Es lassen sich vier Dimensionen der kommunalen migrationspolitischen Intervention unterscheiden: Hierzu gehört erstens der Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung und Abschiebung irregulärer Migrant*innen und abgelehnter Asylbewerber*innen. Dies ist das gemeinsame Kennzeichen der inzwischen auf 560 Städte, Bezirke und Bundesstaaten angewachsenen US-amerikanischen und kanadischen Sanctuary City-Bewegung (Kron 2018). Die zweite Dimension ist jene der menschenrechtlichen Intervention. Den Bürgermeister*innen europäischer Städte wie Berlin, Köln, Düsseldorf, Bonn, Barcelona, Palermo und Neapel, die sich im Sommer 2018 öffentlich mit der Bereitschaft, Bootsflüchtlinge direkt in ihren Städten aufzunehmen, äußerten, geht es vor allem um eine menschenrechtliche Intervention in die humanitäre Krise. Drittens sind die Politiken der Stadtbürger*innenschaft zu nennen. Mit innovativen Experimenten zur Stärkung von Urban Citizenship, wie z.B. kommunale Ausweise in New York, San Francisco, Barcelona und Zürich sowie die geplante anonyme Gesundheitskarte in Berlin, versuchen Stadtregierungen globale soziale Rechte auf der kommunalen Ebene umzusetzen und damit vom Aufenthaltsstatus und von der Nationalität der Stadtbewohner*innen zu entkoppeln. Die vierte Dimension schließlich ist das «Recht auf Stadt». So geht es dem aktivistischen Solidariy City-Netzwerk um eine grundlegende Demokratisierung des städtischen Lebens. Es handelt sich um eine soziale Bewegung, die für eine solidarischere, sozial gerechtere und partizipativere Stadt für Alle kämpft. Während also neoliberale Akteure wie das WEF städtische Politiken der Inklusion und Diversity als Motoren für ökonomische Entwicklung hervorheben, sehen bewegungslinke Akteure in den solidarischen Städten einen «Raum für progressive Politiken in Europa» (vergl. Watch the med — Alarmphone, Bericht vom 27. Juli 2018).

Bei aller Unterschiedlichkeit artikulieren die Bündnisse und Netzwerke solidarischer Städte und Sanctuary Cities einen tiefen politischen Dissenz mit den im wachsenden Maße restriktiven und exklusiven Migrationspolitiken auf der nationalen und regionalen Ebene. Darin liegen ihre politische Relevanz und ihre potentielle Stärke. Doch stoßen sie dabei eben auch an Grenzen. So kann es langfristig nicht das Ziel sein, die Frage der sozialen Rechte auf die kommunale Ebene zu verlegen und so einen regulatorischen Flickenteppich zu produzieren. Die kommunale Anerkennung des Rechts auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit hat zwar einen starken appellativen Charakter, wird aber für die meisten Flüchtlinge kaum positive Auswirkungen haben, solange nationale und regionale Regierungen – wie im Fall der Seenotrettungsblockade im Mittelmeer – demonstrativ weiter ihre Abschottungspolitik betreiben.

Damit globale Bewegungsfreiheit in den Katalog der verbrieften Menschenrechte gelangen kann und globale soziale Rechte über einzelne urbane Räume hinaus umgesetzt werden können, sind neue oder verstärkte Bündnispolitiken, beispielsweise mit der entwicklungspolitischen Zivilgesellschaft, aufgeschlossenen Verwaltungen und progressiven Politiker*innen auf den nationalen und regionalen Ebenen notwendig. Eine wachsende Zahl von Politiker*innen und Aktivist*innen der stadtpolitischen Bündnisse weiß inzwischen, dass Kämpfe der Migration und Politiken der Stadtbürger*innenschaft keine Partikularinteressen bedienen, sondern gerade das gemeinsame Interesse (vermeintlich) unterschiedlicher Gruppen betonen, nämlich soziale Gerechtigkeit. Gerade mit der Verknüpfung der Forderung nach dem Recht auf Bewegungsfreiheit und den globalen sozialen Rechten in der Stadt eröffnet sich die Möglichkeit, den neoliberalen und rechtsextremen europäischen Eliten eine solidarische Antwort entgegenzusetzen, die sich der Spaltung in «wir Europäer» oder «wir Deutsche» versus «die Anderen» erfolgreich entzieht.  
  

Stefanie Kron ist Referentin für Internationale Politik und Soziale Bewegungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Henrik Lebuhn ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Stadt- und Regionalsoziologie der Humboldt Universität zu Berlin und Redaktionsmitglied der Zeitschrift PROKLA.
 

Literatur

  • Carens, Joseph H., 1987: Aliens and Citizens: The Case for Open Borders. In: The Review of Politics 49/2, 251-273.
  • Fried, Barbara (2017): «Sanctuary Cities sind in Deutschland nicht utopisch.» Interview mit Helene Heuser, in: Luxemburg, Nr. 1/2017 (7.4.2018)
  • García, Marisol (2006): Citizenship Practices and Urban Governance in European Cities, in: Urban Studies, 43. Jg, Nr. 4, S. 745–765
  • Hess, Sabine/ Lebuhn, Henrik (2014): Politiken der Bürgerschaft. Migration, Stadt, Citizenship, in: sub/urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung, Nr. 3, S. 11-34
  • Holston, James/ Appadurai, Arjun (1999): Cities and Citizenship, in:  Holston, James (Hg.), Cities and Citizenship, Durham, London: Duke University Press, S. 1-18
  • Isin, Engin F./ Nielsen, Greg M. (Hg.) (2008): Acts of Citizenship, Zed Books. London
  • Kron, Stefanie (2017): Struggles for Urban Citizenship in Europe, in:  Krenn, Martin/Morawek, Katharina (Hg.), Urban Citizenship. Democratizing Democracy, Zürich: Verlag für moderne Kunst, S. 77-88.
  • Kron, Stefanie (2018): Zweierlei Solidarität, in: Jungle World 32, S. 3.
  • Lebuhn, Henrik (2016): «Ich bin New York» - Bilanz des Kommunalen Personalausweises in New York City, in: Zeitschrift Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, 2016. Jg, Nr. 3, S. 114-119
  • Lebuhn, Henrik (2018): Stadtbürgerschaft «Light». Migration und Vielfalt in der neoliberalen Stadt, in: Prokla - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Nr. 191, S. 325-333.
  • Lessenich, Stephan (2016): Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin/München: Hanser Verlag.
  • Lippert, Randy K./ Rehaag, Sean (Hg.) (2013): Sanctuary Practices in International Perspectives. Migration, Citizenship and Social Movements, Routledge. Abingdon/Oxon/New York.
  • Marshall, Thomas Humphrey (1950): Citizenship and social class and other essays, Cambridge
  • Rodatz, Mathias (2014): Migration ist in dieser Stadt eine Tatsache. Urban politics of citizenship in der neoliberalen Stadt, in: sub/urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung, 2. Jg, Nr. 3, S. 35-58
  • Scherr, Albert/ Hofmann, Rebecca (2016): Sanctuary Cities: Eine Perspektive für die deutsche Kommunalpolitik?, in: Kritische Justiz, 2016. Jg, Nr. 1, S. 86-97