Publikation Stadt / Kommune / Region - Digitaler Wandel - USA / Kanada - Digitalisierung und Demokratie Neuer Gegenwind für Googles «smarte Überwachungsstadt» in Toronto

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Autorin

Ava Kofman,

Erschienen

Dezember 2018

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Nur online verfügbar

Bild: Stephane Legrand / shutterstock.com

Übersetzt durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Genehmigung von The Intercept.

Torontos weltweit ehrgeizigstes «Smart City»-Projekt Quayside steht seit dem vergangenen Herbst, als die Pläne einen Stadtteil «aus dem Internet heraus» aufzubauen bekannt wurden, im Zentrum scharfer öffentlicher Kritik. Quayside ist ein gemeinsames Vorhaben der kanadischen Regierungsbehörde Waterfront Toronto und Sidewalk Labs, einer Tochter des Google Mutterunternehmens Alphabet Inc. Das Projekt sieht die Entwicklung von knapp 5 ha der teuren Wassergrundstücke südöstlich des Toronter Stadtzentrums vor.

Ganz auf der Linie des utopischen Diskurses, der die Entwicklung so vieler digitaler Infrastrukturprojekte begleitet, präsentiert Sidewalk Labs Quayside als die Lösung aller Probleme vom Verkehrsstau und steigenden Wohnungspreisen bis hin zur Umweltverschmutzung. Die Entwürfe für Quayside umfassen ein zentralisiertes Identitätsmanagementsystem, mit dem «alle Bewohner Zugang zu öffentlichen Diensten» wie beispielsweise Bibliotheken oder der Gesundheitsversorgung erhalten. Ein Bewerber bei Sidewalk Labs in Toronto war geschockt, als er im Vorstellungsgespräch gebeten wurde, sich vorzustellen, dass in einer Smart City «Wahlen in Zukunft anders ablaufen könnten.»

Andere vergleichsweise harmlos anmutende Pläne beinhalten autonome Fahrzeuge, «gemischt genutzte» Bereiche, die je nach Marktnachfrage unterschiedlich genutzt werden könnten, beheizte Straßen und eine «sensorunterstützte Mülltrennung.» Das eigentliche Ziel dieser Schätzungen zufolge mehrere Milliarden-Dollar teuren Investition besteht in der Entwicklung dieser Neuerungen in großem Maßstab. Zunächst auf einer über 300 ha großen Fläche am Wasser im östlichen Teil der Stadt und später weltweit. «Ursprünglich stammen die Überlegungen für Sidewalk Labs von den Google-Gründern, die voller Begeisterung an all die Dinge dachten, die möglich wären‚ ‚wenn uns nur jemand eine Stadt gäbe und die Verantwortung übertrüge‘», erläuterte Eric Schmidt, Google-Chef zur Zeit der ersten Ankündigung von Quayside.

Von Beginn an zeigten sich Aktivisten-, Technologieforscher- und einige RegierungsbeamtInnen skeptisch hinsichtlich des Plans, Google und zu Google gehörenden Unternehmen die Verantwortung für eine Stadt zu übertragen. Googles lange Geschichte unethischer Unternehmenspraxen und die Datensammelwut des Konzerns ließen die Alarmglocken schrillen, als es um die Umwandlung eines Teils von Toronto in ein unternehmerisches Versuchslabor ging. Der undemokratische Entwicklungsprozess von Quayside hinter verschlossenen Türen, gekennzeichnet von der mangelnden Beteiligung der Öffentlichkeit, nährte dieses ungute Gefühl. Ein Kritiker bezeichnete Quayside als ein «Kolonisierungsexperiment im Überwachungskapitalismus, bei dem wichtige Fragen des urbanen, bürgerlichen und politischen Lebens mit der Dampfwalze beantwortet werden sollen.» In den vergangenen Monaten trugen eine Reihe von Rücktritten prominenter Mitglieder der Beratungsgremien sowie der organisierte Widerstand besorgter AnwohnerInnen zum wachsenden Unmut der Öffentlichkeit gegenüber dem Projekt bei.

Mit Ann Cavoukian, einer führenden kanadischen Datenschutzexpertin und ehemaligen Datenschutzbeauftragen der Provinz Ontario, trat vor einigen Wochen eine weitere Beteiligte vom Projekt zurück. Cavoukian kam als Beraterin zur Einrichtung eines proaktiven Systems des «Datenschutzes durch Technikgestaltung»(Privacy by Design) zu Sidewalk Toronto (wie das Gemeinschaftsprojekt von Waterfront Toronto und dem Google Unternehmen Sidewalk Labs genannt wird). Man hatte ihr eingangs versichert, die von den AnwohnerInnen gesammelten Daten würden gelöscht und könnten auch nicht individuell zugeordnet werden. Letzen Monat erfuhr Cavoukian dann jedoch, dass Dritte Zugang zu den von Quayside erhobenen individuell zuordenbaren Daten erhalten würden. «Ich hatte mir vorgestellt, wir würden eine datenschutzkonforme Smart City aufbauen und nicht eine smarte Überwachungsstadt», schrieb Cavoukian daraufhin in ihrem Rücktrittsschreiben. Ihre Sorge entspricht den Bedenken von AnwohnerInnen, die seit Langem darauf verweisen, wie delikat es ist, der weltweit profitabelsten Datenkrake ganze Straßenzüge zu überlassen.

Auf die Fragen von The Intercept zum Rücktritt Cavoukians antwortete ein Sprecher des Unternehmens: «Sidewalk Labs hat sich als Unternehmen zur Einführung der Grundsätzen des Privacy by Designs verpflichtet. Obwohl diese Frage geklärt ist, lässt sich wohl nicht so schnell klären, ob die am Quayside-Projekt beteiligten Unternehmen ebenfalls hierzu verpflichtet wären und eventuell liegt dies auch nicht in den Händen von Sidewalk Labs.»

Um nun der Entwicklung von Quayside zuvorzukommen, bevor es zu spät ist, hat ein Zusammenschluss von Experten- und AnwohnerInnen das Toronto Open Smart Cities Forum ins Leben gerufen. Die Gruppe ist das Ergebnis der jüngsten und bisher entschiedensten Bemühungen der BewohnerInnen Torontos endlich die Art von öffentlichen Gesprächen, Teach-ins und Debatten zu führen, die «letztes Jahr, bei der Ankündigung des Projekts» hätten stattfinden müssen, so Bianca Wylie, Mitbegründerin von Tech Reset Canada und einer der führenden OrganisatorInnen des Widerstands gegen Sidewalk Toronto. «Der Prozess, den Sidewalk Toronto da begonnen hat, ist so antidemokratisch, dass die einzige Möglichkeit einer Teilhabe darin besteht, sich in Eigeninitiative mit dem Thema auseinanderzusetzen», sagte Wylie weiter.

Das Toronto Open Smart Cities Forum setzt sich damit an die Spitze der Bemühungen der EinwohnerInnen Torontos, sich gegen die Kommerzialisierung von Bürgerdaten zur Wehr zu setzen. Ihr Kampf wird von StadtbewohnerInnen weltweit genau beobachtet. Denn selbst wer noch nie in Kanada war, könnte schon bald durch die Nutzung der weltumspannenden Dienste Googles den von Sidewalk Toronto entwickelten Produkten, Regelungen und Techniken ausgesetzt sein. «Hier geht es nicht nur um den Verkauf von Daten», sagt Wylie. «Es geht auch darum, wie diese Daten zusammen mit anderen Informationen in weiteren Produkten genutzt werden. Eine ganze Menge von Daten können innerhalb des Alphabet Konzerns zirkulieren, ohne dass sie verkauft werden müssen und darüber sollten wir sprechen.» Ob es Toronto gelingt, den Tochterunternehmen von Google Schranken zu setzen, hat also mit anderen Worten nicht nur Auswirkungen auf die Bevölkerung Kanadas, sondern auch auf die Frage, wer in Zukunft unser bürgerliches Leben kontrolliert.

Die Stadt als Überwachungssystem

Städten, die darüber nachdenken, großen Technologiekonzernen öffentliche Räume zu überlassen, könnten die Auseinandersetzungen um Sidewalk Toronto als jüngstes Warnsignal dienen. Cavoukians Rückzug ist nur der letzte einer ganzen Reihe von Rücktritten, die Wylie als «kontinuierliche Beseitigung von Stakeholdern» bezeichnet. In den vergangenen fünf Monaten sind nebst Cavoukian ein Vorstandmitglied von Waterfront Toronto sowie zwei digitale BeraterInnen von ihren Aufgaben zurückgetreten. Drei weitere digitale BeraterInnen drohen mit Kündigung, sofern der Planungsprozess keine substanziellen Änderungen erfährt.

In Erwartung negativer Schlagzeilen hat Sidewalk Labs bereits 11 Millionen seines ursprünglich geplanten Budgets von 50 Millionen Dollar für «Kommunikation/Engagement/Öffentlichkeitsarbeit» bereitgestellt. Hierzu gehört auch eine Strategie zur Ausbildung von Einflusspersonen «um sich die Unterstützung von Schlüsselfiguren in Toronto für den Innovations- und Entwicklungsmasterplan zu sichern.» Vergangene Woche berichtete iPolitics, dass Lobbyisten für Sidewalk Labs bei mindestens 19 Bundesbehörden vorstellig geworden seien, darunter auch im Büro des Ministerpräsidenten, dem kanadischen Umweltministerium, der Gesundheitsbehörde und dem kanadischen Rechnungshof. Die Treffen fanden allesamt in den Tagen nach dem Rücktritt der früheren Datenschutzbeauftragten der Provinz Ontario Ann Cavoukian statt.

Doch bislang verliert das Projekt seine Verbündeten schneller, als es neue hinzu gewinnen kann. Als Saadia Muzaffar, eine bekannte Technologie-Expertin und Gründerin von TechGirls Canada, vom strategischen digitalen Beratungsorgan von Waterfront Toronto im Oktober zurücktrat, lag dies zum Teil an der «offenen Missachtung der Bürgerbedenken hinsichtlich Daten und digitaler Infrastruktur» des Projekts. In ihrem umgehend in den sozialen Medien zirkulierenden Rücktrittsschreiben kritisierte Muzaffar Sidewalk Torontos unehrlichen Verhandlungsprozess: «Es ist nichts innovatives an einer Stadtentwicklung, die ihre Bewohner hinterrücks entrechtet und den Haushalt um wertvolle Einnahmen beraubt, oder knappe öffentliche Gelder für den Unterhalt von Technologien verwendet, für die die Stadtregierung noch nicht einmal einen Bedarf angemeldet hat.»

Sofern Googles weitere internationale Projekte irgendeinen Aufschluss zulassen, orientiert sich das Vorhaben von Sidewalk Labs wohl am Modell des Silicon Valley, kostenfreie Dienste im Austausch für eine faktisch grenzenlose Sammlung von Daten anzubieten. Die mit Sidewalk Labs verbandelten LinkNYC und InLinkUK-Säulen wurden bereits in New York und London installiert. Diese Säulen verfügen über drei Kameras, 30 Sensoren und Bluetooth-Sender, sammeln anonymisierte Daten zu Werbezwecken und bieten Passanten im Austausch kostenfreies WLAN.

Angesichts der Tatsache, dass man sich dem öffentlichen Raum nicht wirklich entziehen kann, haben die BewohnerInnen Torontos gefragt, wie denn eine sinnvolle Einwilligung zur Datensammlung aussehen könnte. Im Fall von Quayside würden sich die Konditionen ja nicht nur auf die WLAN-Nutzung, sondern auch auf grundlegende öffentliche Dienste beziehen. Die Immobilienentwicklerin Julie Di Lorenzo, die den Vorstand von Waterfront im Juli verlassen hatte, erklärte gegenüber AP, dass ihre Fragen bezüglich AnwohnerInnen, die mit der Nutzung ihrer Daten nicht einverstanden sind, unbeantwortet blieben. Sie hatte wissen wollen, ob alle, die nicht einwilligten, dann nicht in der Stadt wohnen könnten. «Eine Sache ist, sich aus freien Stücken zu Hause Alexa zu installieren», schrieb der Torontoer Journalist Brian Barth. «Eine andere Sache ist es, wenn öffentliche Infrastrukturen – Straßen, Brücken, Parks und Plätze –sozusagen Alexa sind

Zu diesen Bedenken gesellt sich die Tatsache, dass laut einer aktuellen Analyse der Globe and Mail, Sidewalk Labs potentielle BeraterInnen vor Ort dazu aufgefordert hat, ihnen alle ihre geistigen Eigentumsrechte zu überlassen. In einem Kommentar machte der frühere Blackberry-Chef Jim Balsillie deutlich, dass Toronto Waterfront in seiner letzten Vereinbarung die Frage der Rechte an geistigem Eigentum und Daten ausgespart hat; diese fallen somit automatisch Sidewalk Labs zu und verschaffen dem Unternehmen einen enormen Marktvorteil. Und tatsächlich ging Eric Schmidt in einer Ankündigung im vergangenen Jahr soweit, den kanadischen SteuerzahlerInnen dafür zu danken, einige von Alphabets Schlüsseltechnologien im Bereich der Künstlichen Intelligenz geschaffen zu haben, die nun geistiges Eigentum des Konzerns sind. Balsillie verwies darauf, dass die Entwicklungen in Toronto «tiefgreifende und langfristige Auswirkungen auf digitale Rechte und den Wohlstand aller Kanadier haben werden, weil sich geistiges Eigentum und Daten – unsere kostbarsten Ressourcen in diesem Jahrhundert – nahtlos ausbreiten.» Aus diesem Grund haben frühere und derzeitige Beteiligte an Waterfront Toronto gefordert, die Öffentlichkeit müsse finanziellen Nutzen aus dem Projekt ziehen, und betont, dass Kanadas größte Stadt nicht einfach als das urbane Labor eines US-Konzerns betrachtet werden dürfe.»

Der Sidewalk Labs Sprecher sagte: « die Beziehung [des Unternehmens] mit seinen Vertragspartnern hat keinerlei Einfluss auf die Vereinbarungen mit Waterfront Toronto, einschließlich seiner Verpflichtung zum Vorgehen, wie es im Planentwicklungsverfahren beschrieben wird, wo es heißt, dass Waterfront Toronto in der Zukunft möglicherweise Ansprüche auf gewisses geistiges Eigentum von Sidewalk Labs habe. Wenn aber Sidewalk Labs nicht über das geistige Eigentum verfügt, das im Planungsprozess geschaffen wird, dann hätte es natürlich auch nicht die Befugnis, dieses mit Waterfront Toronto oder irgendjemand anderem zu teilen oder diesen zu übertragen.»

Bis vor kurzem verweigerte Sidewalk Labs die Auskunft darüber, wer über die Rechte an den Daten der Quayside Besucher-, Arbeiter- und BewohnerInnen verfügen wird, aus der wie sie es nennen, «am besten vermessenen Gemeinschaft der Welt». Ebenso wenig hat das Unternehmen trotz der direkten Nachfragen bei den öffentlichen Anhörungen, die im Stile von Rathaussitzungen geführt werden, erläutert, ob oder wie die von Sitzbänken, Verkehrsampeln und Abfallcontainern produzierten Daten monetarisiert werden würden (oder, wie der Autor Evgeny Morozov Googles Strategie zusammengefasst hat: «Solange sich niemand beschwert, ist nun alles erlaubt.»)

Offensichtlich als Reaktion auf den zunehmenden öffentlichen Druck gegen das Projekt hat Sidewalk Labs kürzlich seinen ersten Vorschlag zur digitalen Verwaltung der erhobenen Daten veröffentlicht. Darin war der wichtigste Vorschlag, alle Daten in einen «civic data trust», einen Bürgerdatenfonds, zu übertragen. Im Unternehmensblog erläuterte Alyssa Harvey Dawson, Leiterin der Datenverwaltung bei Sidewalk Labs, dass mit der Einrichtung eines Bürgerdatenfonds niemand mehr das Recht haben wird, die aus der physischen Umwelt Quaysides gewonnenen Daten zu besitzen – auch Sidewalk Labs nicht.» Dies würde, schrieb sie «einen neuen Standard in der verantwortungsvollen Datennutzung setzen, der die Privatsphäre und das öffentliche Interesse schützt, während er gleichzeitig Unternehmen, Forschern, Innovatoren, Regierungen und zivilen Organisationen hilft, urbanes Leben durch die Nutzung urbaner Daten zu verbessern.»

ExpertInnen zufolge, die das Projekt genau verfolgen, sind die Details zur genauen Umsetzung dieses Fonds vage und teilweise widersprüchlich. Einerseits soll Sidewalk Labs keinen bevorzugten Zugang zu den erhobenen Daten haben. Auf der anderen Seite, wie Sean McDonald aufzeigt, «würde der vorgeschlagene Fonds Genehmigungen vergeben, um Daten zu sammeln und zu nutzen und je sensibler die Daten, umso geschützter wären sie.» Es stellt sich aber auch die Frage der Zuordenbarkeit bestimmter Daten und ob ihre Anonymität aufgehoben werden könnte, etwa wenn es darum geht, diese Informationen den Strafverfolgungsbehörden zu überlassen. Einige BürgerInnen sind dagegen, Sidewalk Labs überhaupt an der Ausarbeitung eines Vorschlags zum Thema zu beteiligen. «Das ist als würde Uber Regulierungsvorschläge für Fahrgemeinschaften machen oder Airbnb der Stadtverwaltung vorschreiben, wie kurzfristige Vermietungen zu regeln sind. Da besteht definitionsgemäß ein Interessenskonflikt», schreibt Nabeel Ahmed, ein Experte in Sachen Smart City und Mitglied im Toronto Open Smart Cities Forum.

Eine der Aufgaben des neuen Toronto Open Smart Cities Forums besteht darin, die öffentliche Debatte zu verschieben, weg von den neuesten Details der Konditionen die das Unternehmen vorschlägt, hin zu der übergeordneten Frage, ob das Projekt überhaupt fortgeführt werden sollte. Diese Debatte, betont Wylie, sollte zwischen den AnwohnerInnen und der Regierung erfolgen; Sidewalk Labs sollte nicht die einzige Stimme sein, welche die Konditionen bestimmt und die Agenda definiert. «Wir müssen klar und unmissverständlich sagen, dass es sich um öffentliche Infrastruktur handelt», sagt Wylie. «Im März können sie verkünden ‹Diese Daten werden nicht erfasst›, aber im Juli kann das schon wieder hinfällig sein. So lange man die Tür zu dem, was möglich ist, immer weiter offenhält, schafft diese Infrastruktur Möglichkeiten zur Überwachung.»

Übersetzt durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Genehmigung von The Intercept.