Publikation Rosa Luxemburg Zeige uns das Wunder! Wo ist dein Wunder?

Rosa Luxemburg neu entdecken. Michael Brie über die Bedeutung von Luxemburgs Werk für sozialistische Politik heute.

Information

Erschienen

Januar 2019

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Rosa Luxemburg neu entdecken
Bildausschnitt aus dem biografischem Comic von Kate Evans «Red Rosa»

Auch hundert Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod in der Nacht vom 15. auf den 16. Januar 1919 hallen die Worte von Rosa Luxemburg aus ihrer Schrift «Zur russischen Revolution» nach, dass es um ­Diktatur «der Klasse, nicht einer Partei oder Clique […], d.h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie» gehe. Auch den Feinden müsse die Freiheit politischer Artikulation gewährt werden. Sie forderte direkt sozialistische Wege der Vergesellschaftung der Produktion. Michael Brie stellt Luxemburgs gelebten und lebendigen Sozialismus in den Mittelpunkt. Im Hintergrund steht die Frage: Welche Bedeutung hat Luxemburgs Werk für die heutigen Versuche, linke sozialistische Politik strategisch zu begründen?

Einmal fragst Du mich, was mir fehlt. 
Eigentlich das Leben!

(GB 1: 159)

Viele Politiker lassen sich auf einen Begriff bringen, Luxemburg aber ist ein Raum gelebter Widersprüche. Obwohl sie das persönliche Leben sorgsam abschirmte und sich bis in Kleinigkeiten ihre freien Räume bewahrte, waren dieses Leben und ihr politischer Aktivismus nur zwei Seiten ein und desselben erfüllten Lebens. Luxemburgs Welt- und Selbstverhältnis gehören untrennbar zusammen. Sie war immer wieder bereit, ihr Leben zu opfern – schon als Gymnasiastin, dann in der russischen Revolution von 1905/06, in russischen und deutschen Gefängnissen und in der Novemberrevolution. Und sie genoss das Leben – je älter sie wurde, umso bewusster und intensiver. Wer Luxemburg verstehen will, muss neben den Werken auch ihre Briefe lesen. In diesen Briefen erst wird deutlich, was ihr ein gelingendes Leben als Sozialistin bedeutete. Der Wechselbezug der politischen und theoretischen Schriften einerseits und der Briefe Luxemburgs andererseits spiegelt die Spannungen ihres Lebens, und wer diese nicht verstanden hat, hat nichts von Luxemburg verstanden. Ihr Leben kann man nicht allein an ihren Werken messen: Sie hat keinen Staat gegründet wie Lenin und kein Jahrtausendwerk wie Marx’ «Kapital» geschrieben. Ihre politische Wirkung blieb begrenzt und ihre ökonomischen Schriften sind bedeutsam, aber gleichranging mit denen einer Reihe anderer ihrer marxistischen Zeitgenossen.

Misst man Luxemburg an dem, was ihr Werk unmittelbar bewirkt hat, verfehlt man ihre wirkliche nachhaltige Bedeutung, denn es gibt etwas, was Luxemburg weit heraushebt – ihr Leben selbst. […] Das Genie Luxemburgs drückte sich in diesem Leben aus. Es war zugleich hochpolitisch und hochpersönlich, mit existenzieller Konsequenz praktisch eingreifend und theoretisch reflektierend, den Massen zugewandt als begnadete Journalistin und Rednerin und sich ganz auf sich selbst, Malerei, Musik, Pflanzen und Tiere zurückziehend. Immer wieder vertiefte sie sich «von morgens bis abends nichts anderes» machend – in das Schreiben, das Malen, die Botanik. Sie war dann wie im Rausch (GB 5: 74, 234). Kurz darauf wieder jagte sie von einer Massenkundgebung zur anderen. Dies war kein Nebeneinander, sondern intensiv gelebte, sich wechselseitig verändernde Gegensätze. Wie Walter Jens schrieb, versuchte sie, eine Existenz zu leben, «in der sich aus Privatperson und Zoon politikon ein harmonisches, von Selbst-Identität und offenem Weltbezug geprägtes Wesen ergäbe» (Jens 1995: 13). Luxemburg hat Sozialismus als solidarisch-emanzipatorische Bewegung in der Einheit von Änderung der Welt und Selbstveränderung in einer Weise gelebt, die beispielhaft bleibt. […]

Liest man Luxemburgs politische und theoretische Schriften, muss man durch eine heute weitgehend abgestorbene Sprache des Marxismus der Zweiten Internationale dringen. Viele Schlüsselworte haben keine lebendige Entsprechung mehr oder sie muss erst wieder neu hergestellt werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie von Arbeiterklasse oder Proletariat, von Reform und Revolution, von Partei und Sozialismus sprach, ist aus einer anderen Zeit. Aber dringt man durch diese Sprache hindurch, entschlüsselt man die Lebenswirklichkeit dahinter, dann entdeckt man den bleibenden Grund für ihre Ausstrahlung über ein ganzes Jahrhundert hinweg – ihre empathisch einfühlende Beziehung zur Welt. Sie hat in allem nach einem Du gesucht und die Welt als Du angesprochen. Die Kraft dieser Ansprache resultierte aus der Stärke ihrer eigenen Persönlichkeit, aus ihrer «Seele». Gegenüber Leo Jogiches hatte sie 1899 in einem Brief bemerkt: «Namentlich die Form des Schreibens befriedigt mich nicht, ich spüre, dass mir ‹in der Seele› eine ganz neue originelle Form heranreift, die sich nichts aus Formeln und Schablonen macht und sie durchbricht – natürlich nur durch die Kraft des Geistes und der Überzeugung. Ich habe das Bedürfnis, so zu schreiben, dass ich auf die Menschen wie der Blitz wirke, sie am Schädel packe, selbstredend nicht durch Pathos, sondern durch die Weite der Sicht, die Macht der Überzeugung und die Kraft des Ausdrucks.» (GB 1: 307)

Es gibt ein bleibendes Paradoxon: Luxemburg war sehend und blind zugleich. Sie hatte einen grenzenlosen Optimismus, wenn es um die Einsichtsfähigkeit der Arbeiterinnen und Arbeiter ging, ihre kapitalistische Abhängigkeit zu überwinden. Jeder einzelne Kampf schien ihr über das Jetzt und Hier hinauszuweisen. Das Einrichten im Gegebenen, die Selbstgenügsamkeit waren ihr unerträglich. Sie konnte hellsichtig die russische Revolution von 1905 als Ausdruck der lebendigsten Selbstorganisation und Selbstermächtigung von Menschen sehen und übersah fast völlig die unverzichtbare Rolle von fest gefügten Organisationen oder griff sie an als Herrschaftsinstrumente. Sie insistierte auf der Solidarität der Klassen über alle Grenzen von Nationalitäten und Rassen und Geschlechter hinweg und verweigerte sich deshalb gegenüber den besonderen «Judenschmerzen», der Eigenständigkeit von Kämpfen gegen das Patriarchat oder gegen die Vormacht einer Nation über andere. Alles war für sie ein gemeinsamer sozialistischer Kampf, der keine Risse aufzeigen sollte. Deswegen findet man bei ihr aber auch kaum strategisch überzeugende Antworten darauf, wie man unter Anerkennung dieser Risse, ja Spaltungen, eine solidarische Politik verwirklichen kann über die Appelle an das Gemeinsame hinaus. Sie sah sich selbst als Idealistin, so sehr sie sich auf die ökonomischen Interessen berief.

Rosa Luxemburg war weder vor allem Stratege wie Lenin, Theoretiker wie Kautsky, Zweifler wie Bernstein, organischer Intellektueller wie Gramsci, sondern im ganz alttestamentarischen Sinne und doch sehr modern eine Prophetin – eine «Wegführende aus dem Sklavenhaus» (Veerkamp 2013: 53).

Luxemburg […] suchte in der Wirklichkeit das, was ihr selbst entsprach – die Lust, mit erhobenem Haupt die Welt menschlicher zu gestalten, die Radikalität, die ganze Emanzipation zu wollen, die Liebe, die den anderen ganz ergreift und im Innersten erfasst, die Schönheit, die in jedem Blatt, in jedem Vogelruf, in jedem Wohlklang liegt, die Idee, die eine neue Sicht auf die Welt offenbart. […] Ihr Ich sollte ihr nicht verlorengehen in dem Kontakt zur Außenwelt (GB 2: 290). Aus dem Gefängnis heraus schrieb sie im Krieg: «Was mich anbelangt, so bin ich in der letzten Zeit, wenn ich schon nie weich war, hart geworden wie geschliffener Stahl und werde nunmehr weder politisch noch im persönlichen Umgang auch die geringste Konzession machen.» (GB 5: 151)

Und zugleich gab es die Kehrseite höchster Verletzlichkeit, wie sie ihrem Freund Hans Diefenbach (der im Oktober 1917 an der Front fiel) am 30. März 1917 schrieb: «Mitten in meinem mühsam aufgebauten schönen Gleichgewicht packte mich gestern vor dem Einschlafen wieder eine Verzweiflung, die viel schwärzer war als die Nacht. Und heute ist auch noch ein grauer Tag, statt Sonne – kalter Ostwind […] Ich fühle mich wie eine erfrorene Hummel […] Es war immer mein Geschäft, an solchen erfrorenen Hummeln niederzuknien und sie mit dem warmen Atem meines Mundes zum Leben zu wecken. Wenn mich Arme doch die Sonne auch schon aus meiner Todeskälte erwecken wollte!» (GB 5: 195)

Luxemburgs oberster Grundsatz war: «stets ich selbst zu sein, ganz ohne Ansehen der Umgebung und der andere». Sie fügte hinzu: «Ich bin […] Idealist und will es bleiben, sowohl in der deutschen als auch in der polnischen Bewegung.» (GB 1: 323) Sie suchte in Anderen und der Welt, was ihrem Innersten entsprach. Wenn sie emphatisch über Sozialismus sprach, über den elementaren Erfindungsgeist von Menschen, die sich in Bewegung versetzt haben, über das, was eine Partei zu tun hat, über vorkapitalistische oder nachkapitalistische Gesellschaften – sie erfasste sie immer von der Seite, die sie begeisterte und bei ihr selbst erklang. Und wenn sie über den Tod in einem Armenhaus, von den Opfern des Kolonialismus oder des Kriegs, von einem geprügelten Büffel schrieb – sie drückte zugleich das eigene Leid aus.

So schrieb sie, dass die «teuerste Hinterlassenschaft» von Marx die Verbindung zweier Gegensätze sei: «theoretische Vertiefung, um unsern Tageskampf nach dem festen Steuer des Prinzips zu lenken, und entschlossene revolutionäre Tatkraft, damit die große Zeit, der wir entgegengehen, nicht ein kleines Geschlecht finde» (GW 3: 184). Es war dies ein Selbstporträt. Ihre Bewunderung für den politischen Massenstreik drückte sie in Worten aus, die dem entsprachen, was sie für ihr eigenes Wirken erhofft: «Aus dem Wirbel und Sturm, aus Feuer und Glut der Massenstreiks, der Straßenkämpfe steigen empor wie die Venus aus dem Meeresschaum: frische, junge, kräftige und lebensfrohe – Gewerkschaften.» (GW 2: 118)

1915 schrieb sie über das Wirken in sozialistischen Organisationen: «Allein wir wären nicht wert, die nach freiem Menschentum dürstende Seele je an den Quellen des Sozialismus gelabt und neues Leben aus ihnen getrunken zu haben, könnte uns das alles und manches andere noch genügen, was die Stunde von uns fordert. Was wir für die Organisation und durch sie wirken, muss wie eine Schale bis an den Rand mit sozialistischem Geiste erfüllt sein. Dadurch erst und dadurch allein erhält er seinen wahren Sinn und seine höhere Weihe.» (GW 7: 936)

Sie sah sich als jemand, der diesem Geist Ausdruck verleiht. Ohne diesen Geist war ihr die Schale nur eine tote Hülle und persönlich eine Hölle. Ihre Bereitschaft, lieber Niederlagen, auch den eigenen Tod hinzunehmen, als nicht in Identität mit den eigenen Idealen zu leben, rührte her aus dieser direkten Einheit des Innersten ihrer Persönlichkeit und der weltumspannenden Bewegung, für die sie eintrat. Sie sah sich als «ein Land der unbeschränkten Möglichkeiten» (GB 5: 157) und suchte in der Wirklichkeit solche Bewegungen, solche Menschen, solche Gedanken und Formen, die ebenfalls die Grenzen zu sprengen suchten.

Im Gefängnis – bei sich und der Welt

Der Charakter eines Menschen offenbart sich dann vor allem, wenn ihm der Schutzraum des Privaten entzogen wird. Gefängnisse sind solche Orte. […] Rosa Luxemburg war schon vor dem Ersten Weltkrieg mehrfach eingesperrt gewesen. Während des Krieges war sie ein Jahr im «Weibergefängnis» in der Barnimstraße in Berlin und dann, nach kurzer Unterbrechung im Frühjahr 1916, als «Schutzhäftling» in Wronke und Breslau, von wo aus sie erst im November 1918 entlassen wurde. Sie verfasste in «unfreiwilliger Muße» (GB 5: 130) im Berliner Gefängnis u.a. die «Junius-Broschüre» und eine Auseinandersetzung mit der Kritik an ihrer «Akkumulation des Kapitals«, ihre «Antikritik». Während der späteren Gefängniszeit übersetzte sie den ersten Teil der Erinnerungen des russisch-ukrainischen sozialrevolutionären Schriftstellers Wladimir G. Korolenko und schrieb eine Einleitung dazu, konnte viele Artikel nach außen schmuggeln und setzte sich nicht zuletzt mit der russischen Revolution auseinander.

Genauso bemerkenswert wie ihre theoretischen und politischen Gefängnisschriften und Voraussetzung dafür, sie verfassen zu können, waren ihre Fähigkeit und Willenskraft, im Gefängnis zu leben und dies mit großer Intensität. Sie folge, so schrieb sie, einem Imperativ – «vor allem muss man jederzeit als voller Mensch leben» (GB 5: 177). 

Soweit es nur die Umstände und das Aufsichtspersonal und deren Leiter zuließen, bemühte sie sich erstens, auch das Gefängnis in einen Lebensort zu verwandeln, ihm unter widrigsten Bedingungen Züge von Heimat zu verleihen. Sie hat versucht, frühere Gewohnheiten fortzusetzen. Ihre Wohnungen waren ihr immer ungeheuer wichtig gewesen. Sie mussten ihr entsprechen – geordnet und möglichst naturnah. Auch ihre Gefängnisräume wurden «wohnlich» gestaltet, soweit dies überhaupt möglich war. In Wronke legte sie einen Garten an und botanisierte weiter. Sie hielt, so sie konnte, immer einen disziplinierten Tagesablauf ein. Zweitens setzte sie ihren Dialog mit Freundinnen und Freunden fort, knüpfte neue Beziehungen. Was ihr an direkter Beziehung fehlte, überbot sie durch das intensivste briefliche Gespräch. Drittens blieb sie politisch aktiv, griff ein, suchte weiter, mit ihrem Wort Menschen zu erreichen und aufzuklären. Und viertens nutzte sie die Zeit für theoretische und kulturelle Reflexionen. Dank ihrer persönlichen Ausstrahlung konnte sie zumindest in Wronke wesentliche Vergünstigungen erhalten (siehe dazu die Erinnerungen des Gefängnisdirektors, Dr. Ernst Dossmann, in GW 7: 971 und 995).

Das Wahr-Sprechen

In ihren Reden und Artikeln wiederholte Luxemburg immer wieder: «Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer ‹das laut zu sagen, was ist›.» (GW 2: 36, siehe auch die Fußnote in GW 7.2: 577 mit dem Quellennachweis bei Lassalle) Dieses Wahr-Sprechen hatte bei Luxemburg verschiedene Dimensionen.

Erstens ergab sich daraus die Forderung, politische Räume zu schaffen und zu erhalten, in denen die Freiheit des Anders-Denkenden als höchstes Gut geschützt wird. Als Sprechender sollte auch der Feind unangetastet bleiben. Nur in dem Raum des Frei-Sprechens könnten sich Selbstermächtigung und Selbstbestimmung entfalten. Demokratie war für sie deshalb keine Durchgangsstufe und die Diktatur des Proletariats sollte geprägt sein durch «eine freie, ungehemmte Presse, … ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben». Wie sonst, fragte sie, soll denn «Herrschaft breiter Volksmassen» (GW 4: 358) möglich sein?

Zweitens ist Luxemburgs Wahr-Sprechen nicht mit unverbindlichem Gerede zu verwechseln. […] Die Wahrheit liegt zunächst einmal in der oder dem Sprechenden selbst. Es sind in erster Linie Selbstaussagen, verbürgt durch das eigene Tun. Luxemburgs Vermächtnis liegt vor allem darin, dass sie sich den Widersprüchen des Lebens als Sozialistin mit äußerster Konsequenz stellte, bis über den Punkt hinaus, wo Konsequenz zur gröbsten Fahrlässigkeit wird und Tod bedeuten kann. Als der kaiserliche Staatsanwalt sie 1913 wegen möglicher Fluchtgefahr sofort in Gewahrsam nehmen wollte, rief sie am Ende ihrer Verteidigungsrede im Gerichtssaal aus: «Ein Sozialdemokrat flieht nicht. Er steht zu seinen Taten und lacht Ihrer Strafen. Und nun verurteilen Sie mich!» (GW 3: 406)

Dieses Zu-den-eigenen Worten-Stehen zeichnete sie aus. Sie war auch in dieser Hinsicht radikal. Und nur dies machte sie zu einer würdigen Wahr-Sprecherin. Die Wahrheit ihres Sprechens lag in der Wahrheit ihres Lebens. Das Wahr-Sprechen war vor allem ein Ausdruck der im eigenen Leben verbürgten Wahrheit. Sie hielt es mit der Offenbarung des Johannes: «Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.» (Offenbarung 3: 16) 
Drittens nimmt das Wahr-Sprechen den dadurch Angesprochenen in die Pflicht. Auch die Anderen sollen nicht lau bleiben. Dies galt für sie politisch wie menschlich. So schrieb sie an Kostja Zetkin, sich auf ihre «Junius-Broschüre» vorbereitend: «Heute war ich im Opernhaus Konzert, Beethovens Klavierkonzert war wunderschön. Während ich die Musik hörte, reifte in mir wieder der kalte Hass gegen das Menschenpack, unter dem ich leben muss. Ich fühle, jetzt muss über das, was vorgeht, ein Buch geschrieben werden, das weder Mann noch Weib gelesen, auch nicht die ältesten Leute, ein Buch, das mit Keulenschlägen auf diese Herde einschlüge.» (GB 5: 28)

Sie wollte durch das Wahr-Sprechen andere zum wahren Leben auffordern, ja zwingen mit sprachlicher Gewalt. Und dies galt auch in persönlichen Beziehungen. In einem Brief an Leo Jogiches, ihren Lebenspartner, vom 21. März 1895 kann man lesen: «Ach, du Gold! Weißt Du, ich habe sehr grausame Absichten! Wirklich, ich habe mir hier unsere Beziehungen ein wenig durch den Kopf gehen lassen, und wenn ich zurückkehre, so nehme ich dich so scharf in die Klauen, dass Du quiekst, Du wirst sehen! Ich werde dich völlig terrorisieren. Du musst dich unterwerfen, musst Dich ergeben und beugen, das ist die Bedingung für unser weiteres Zusammenleben. Ich muss dich brechen, deine Hörner abschleifen, sonst halte ich es mit Dir nicht aus. Du bist ein schlechter Mensch, dessen bin ich mir jetzt so sicher, wie dass die Sonne am Himmel steht, nachdem ich über deine ganze seelische Physiognomie nachgedacht habe. Und ich ersticke diese Wut in Dir, so wahr ich lebe, solche Halme dürfen nicht ins Kraut schießen. Ich habe ein Recht, das zu tun, denn ich bin zehnmal besser als Du, und verdamme ganz bewusst diese stärkste Seite deines Charakters.» (GB 1: 56f.)

Viertens war das Wahr-Sprechen bei Rosa Luxemburg Erzeugung einer wahren Realität – wahrer Beziehungen, wahrer Lebensformen, wahrer Politik, und sei es als Vor-Schein, wie Ernst Bloch es nennt. Ihre Sprachpraxis verstand sich als gelebte Antizipation dessen, was möglich ist, Wirklichkeit werden könnte, wenn Menschen in der Wahrheit leben. In ihrer Schrift «Zur russischen Revolution» formulierte sie gegen den entstehenden «Realsozialismus» bolschewistischer Prägung ihre Vision: «Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen.» (GW 4: 360)

Dieser Sozialismus wäre eine Gesellschaft lebendigster Vielfalt, die Rosa Luxemburg in ihrem innersten Gehalt nahekommt, jener Rosa Luxemburg, von der Paul Levi 1922 schrieb: «Ihre im Tiefsten ausgeglichene Seele kannte keine Scheidungen und Wände. Ihr war das All ein lebendiger Prozess des Werdens, in dem nicht Hebelkraft und Sauerstoffbehälter das Walten der Natur ersetzen können, in dem das Kämpfen, Ringen, Streben der Menschen, in dem der große Kampf, der dem Einzelnen, der den Geschlechtern, der den Ständen, der den Klassen obliegt, die Form des Werdens war. In der sie drum nicht wollte, dass keiner kämpfe, weil alles von selber werde; in der sie den lebendigsten Kampf wollte, weil er die lebendigste Form des Werdens ist.» (Levi 1990: 223f.)

Fünftens erfolgte Luxemburgs Wahr-Sprechen aus dem Marxismus heraus. […] Luxemburg hat die Widersprüche dieses Marxismus gelebt. Für sie war er weder die reine Lehre noch der Orden der Überzeugten, weder formalisierte Ideologie noch bloßes politisches Instrument, sondern Lebenspraxis und einzig mögliche – revolutionäre – Realpolitik. Luxemburg sah sich damit konfrontiert, wie sie 1903 schrieb, dass sich «ein gewisser drückender Einfluss Marxens auf die theoretische Bewegungsfreiheit mancher seiner Schüler nicht leugnen» (GW 1.2: 364) ließe. Es gäbe eine «peinliche Angst, um beim Denken ja ›auf dem Boden des Marxismus‹ zu bleiben» (ebd.). Dies könne in «einzelnen Fällen für die Gedankenarbeit ebenso verhängnisvoll […] sein wie das andere Extrem – die peinliche Bemühung, gerade durch die vollkommene Abstreifung der Marxschen Denkweise um jeden Preis die ›Selbständigkeit des eigenen Denkens‹ zu beweisen» (ebd.). Das wirft natürlich auch die Frage auf, ob im Rahmen des Marxismus – oder welches Marxismus – die von Luxemburg gelebten Widersprüche produktiv ausgehalten werden können.

Freiheit ist immer die Freiheit der Anderen

Gegen jeden Opportunismus gewandt, forderte Rosa Luxemburg, dass Freiheit, damit sie wirkliche Freiheit ist und nicht der verdeckte Zwang zur Anpassung, die Freiheit der anderen als Andersseiende aktiv befördern müsse. In dieser Hinsicht nahm sie die modernen sozialen Bewegungen vorweg. Sie strebte nach einer lebendigen Welt, in der viele Welten Platz haben. Die Gleichheit in der Freiheit ist eine Gleichheit der Verschiedenen. Das Verhalten als freier Mensch, so verstand und praktizierte sie es, besteht genau darin, anderen die Möglichkeit zu geben, als Andere frei zu sein. Und bevor diese Freiheit ein Recht ist, ist sie ein Anspruch an eigenes Handeln, alle Verhältnisse von Ausbeutung und Unterdrückung – nicht zuletzt der Andersdenkenden – zu überwinden. 

Freiheit in Rosa Luxemburgs Verständnis ist unendlich weit vom marktliberalen Egoismus oder dem Selbstverwirklichungs-Kult entfernt. Freiheit, wie sie Rosa Luxemburg selbst als soziale Tugend praktizierte, war Kampf für die Freiheit der Anderen. Nicht jene Gesellschaft ist eine Gesellschaft von Freien, deren Bürgerinnen und Bürger sich nur gegen die eigene Unterdrückung wehren. Zu schnell, so lehrt die Erfahrung, sind sie dabei, andere zu unterdrücken, wenn Machtverhältnisse es erlauben und eigene Egoismen es als vorteilhaft erscheinen lassen. Nur jene Menschen sind wirklich frei, die sich gegen die Unterdrückung anderer auch dann wehren, wenn sie selbst von dieser Unterdrückung profitieren. In Luxemburgs Verständnis ist Freiheit ein Verhalten, das Verhältnisse konstituiert, durch die anderen die Bedingungen von Freiheit zur Verfügung gestellt werden. Dies betrifft gleichermaßen die Frage grundlegender Freiheitsgüter wie den Abbau jener Privilegien, die nicht zur Überwindung von sozialer Ungleichheit beitragen. Dies aber ist ohne die grundlegende Veränderung der Eigentums- und Machtverhältnisse und die Überwindung von Profitdominanz über Wirtschaft und Gesellschaft unmöglich. Deshalb war sie Sozialistin.

Nur jene Gesellschaft ist frei zu nennen, in der jede und jeder einzelne frei ist. Dies aber ist nur möglich, wenn die freie Entwicklung einer und eines jeden zur solidarischen Entwicklung aller beiträgt. Und nur Blindgläubige oder Zyniker können glauben, so Luxemburg, dass dies die «unsichtbaren» Hände des Marktes oder die «sichtbaren» Hände des Staates auch ohne unser Zutun besorgen würden. Dies genau hieße, bequem oder feige die Verantwortung für Freiheit an andere zu delegieren und damit unfrei zu werden. Politik war für Luxemburg in diesem Sinne immer widerständige Teilhabe an befreiender solidarischer Praxis.
Freiheit, Geld anzulegen, deren Bewegung zu einer totalitären Kapitalverwertung wird, die die Weltgesellschaft beherrscht und Reichtum wie Armut, Gesundheit und Krankheit, Bildung und Analphabetentum, Frieden und Krieg an gegensätzliche soziale Gruppen, Klassen, Völker und Erdteile verteilt, war für Rosa Luxemburg grausame Unterdrückung. Freiheit, die darin besteht, dass wenige Prozent der Weltbevölkerung die große Masse der globalen Ressourcen verbrauchen, hat sie als brutale Herrschaft gebrandmarkt. Die hochgerüstete «freiheitliche Weltordnung» war für sie militaristische Imperialpolitik. Die jetzt neu durchgesetzte Freiheit, sich die genetischen Kodes und die Wissensbestände als privates Eigentum aneignen zu dürfen, hätte sie als verbrecherischen Raub gegeißelt. Die Vernichtung der biologischen Vielfalt dieser Erde hätte sie, die mit jedem geschundenen Tier und jeder zertretenen Pflanze litt, als Barbarei verflucht.

Es gehört zu den hartnäckigsten Vorurteilen der liberalen Gesellschaften, Freiheit stünde im Gegensatz zu Gleichheit und Gerechtigkeit. Rosa Luxemburgs Verständnis von Freiheit hat Solidarität als Grundlage. Nur die, die anderen ein freies Leben ermöglichen, handeln gerecht. […] Dieses Vermächtnis hinterlassen zu haben, dadurch mit ihrem Leben gezeugt zu haben, macht das Wunder der Rosa Luxemburg aus.
 

Literatur
  • Heraklit (2011): Fragmente. In: Marciano, Laura Gemelli (Hrsg.), Die Vorsokratiker. Band 1. Griechisch – Deutsch. Berlin, 284-329.
  • Hetmann, Frederik (1998): Eine Kerze, die an beiden Seiten brennt. Freiburg.
  • Jens, Walter (1995): Rosa Luxemburg. Weder Poetin noch Petroleuse. In: Soden, Kristine von (Hrsg.), Rosa Luxemburg. Berlin, 6-17.
  • Levi, Paul (1990): Einleitung zu «Die Russische Revolution. Eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlass von Rosa Luxemburg». In: Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung (Hrsg.), Rosa Luxemburg und die Freiheit der Andersdenkenden. Extraausgabe des unvollendeten Manuskripts «Zur russischen Revolution» und anderer Quellen zur Polemik mit Lenin. Zusammengestellt und eingeleitet von Annelies Laschitza. Berlin, 177-231.
  • Veerkamp, Ton (2013): Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung. Hamburg/Berlin.

Michael Brie arbeitet als Referent für «Theorie und Geschichte des Sozialismus» am Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Fassung des ersten Kapitels in seinem Buch «Rosa Luxemburg neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen zu ‹Freiheit für den Feind! Demokratie und Sozialismus›», das Anfang Januar im VSA: Verlag Hamburg erscheint. Die Schriften und Briefe von Rosa Luxemburg sind nach den «Gesammelten Werken» (abgekürzt GW) und «Gesammelten Briefen» (abgekürzt GB) zitiert, die vom Karl Dietz Verlag Berlin herausgegeben werden.

Dieser Beitrag ist erschienen in Sozialismus.de NeuesHeft, Heft 1-2019.