Publikation Arbeit / Gewerkschaften - International / Transnational - Südasien Auf dem Rücken der Entrechteten

Ohne Arbeitsmigrant*innen wäre Indiens Wirtschaftsaufschwung nicht möglich

Information

Reihe

Online-Publ.

Autorin

Judith Unglaub,

Herausgeber*innen

Rosa-Luxemburg-Stiftung, Regionalbüro Südasien, Neu Delhi,

Erschienen

Januar 2019

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Nur online verfügbar

Nanda Jai (1. von rechts) wartet mit anderen Frauen auf einen Arbeitsauftrag. Surat, Indien, Dezember 2018, Foto: Judith Unglaub

Jahr für Jahr zieht es hunderttausende Inder*innen aus den ländlichen Gebieten in die industriellen Zentren des Landes. Unter widrigen Arbeits- und Lebensbedingungen verdienen sie gerade so viel, dass es zum Überleben reicht. Mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi engagiert sich die Organisation Prayas (Prayas Centre for Labour Research and Action) für die Rechte der Migrant*innen.

«Wir bauen die Häuser für die Reichen und dafür lassen sie uns auf der Straße verhungern!» Nanda Jai schaut nachdenklich in die Ferne während die Sonne aufgeht. Ihr Ehemann Sushil steht ein wenig entfernt in einer Gruppe junger Männer. Es ist kurz nach 7 Uhr und immer mehr Menschen finden sich auf dem großen Platz im Zentrum der Stadt Surat an der indischen Westküste ein. Männer und Frauen, teilweise mit ihren Kindern, versammeln sich in Grüppchen. Ihr Ziel: Arbeit für mindestens einen Tag finden.

Die Vier-Millionen-Stadt im Bundesstaat Gujarat gehört zu den am schnellsten wachsenden Städten der Welt. Reich geworden ist sie durch die Textil- und Diamantenindustrie. Aufgrund des Booms wird viel gebaut. Der Sektor ist einer der größten Arbeitgeber der Region – ohnehin ist Indien längst eine Wirtschaftsmacht, der Anteil am Welthandel steigt jährlich an. In den vergangenen zehn Jahren konnte das Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt werden und stieg 2017 laut Weltbank auf rund 2,6 Billionen US-Dollar an. Im weltwirtschaftlichen Vergleich liegt Indien somit auf Platz 6.

Doch ohne Arbeiter*innen wie Sushil und Nanda Jai wäre diese prosperierende wirtschaftliche Entwicklung kaum möglich, denn das Wachstum des Landes stützt sich vor allem auf saisonale Arbeitsmigrant*innen wie sie. Trotz der wachsenden industriellen Zentren ist ein Großteil der indischen Bevölkerung noch immer stark von der Landwirtschaft abhängig, welche jedoch kaum noch rentabel ist. Um ihre Familien weiterhin versorgen zu können, sind viele gezwungen, ihre Heimatregion zu verlassen. In der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen und höhere Einkommen zieht es immer mehr Menschen in die industriellen Ballungszentren des Landes. Mittlerweile gehen diesen Weg zwischen 120 und 200 Millionen Inder*innen pro Jahr wie die im Dezember 2018 erschienene Studie «They leave their homes to build ours» (sinngemäß: Sie verlassen ihre Häuser, um unsere zu bauen) der Hilfsorganisation Prayas feststellt.

Die Arbeitsmigrant*innen bieten ihre Arbeitskraft als Tagelöhner auf den Großbaustellen der Städte an. In Surat gibt es rund 15 dieser sogenannten Labour Chowks (sinngemäß: Arbeiter*innen-Markt). Die Auftraggeber kommen am Morgen zu den zentralen Plätzen und wählen diejenigen aus, die ihnen geeignet erscheinen. Die Szenerie erweckt ein befremdliches Gefühl. Wenn Frauen engagiert werden, erledigen sie meist leichtere Arbeiten wie Ziegelsteine gießen oder Sand von Steinen separieren, welche später als Baumaterial weiter verwendet werden. Die Arbeitskraft der Männer wird direkt auf den Baustellen für den Aufbau von neuen Häusern eingesetzt. In allen Bereichen sind die Arbeiter*innen ohne jegliche vertragliche Grundlage beschäftigt.

Hunderte junger Männer versammeln sich am Morgen in Surat auf dem Labour Chowk, um Arbeit zu bekommen. Surat, Indien, Dezember 2018, Foto: Judith Unglaub

Die Auftraggeber bevorzugen Arbeitsmigrant*innen gegenüber lokalen Kräften, da diese sich aus Angst und Not kaum gegen die widrigen Lebens- und Arbeitsumstände wehren. Dass auch sie Rechte als Menschen und Arbeiter*innen haben, ist nur wenigen bewusst. Und noch viel weniger trauen sich, diese auch einzufordern. Arbeitsschutz, vertragliche Vereinbarungen, geregelte Arbeitszeiten – davon haben bislang die wenigsten etwas gehört. Hingegen sind Zehn- oder Zwölf-Stunden-Tage, ausbleibende Lohnzahlungen und (teils tödliche) Unfälle auf den Baustellen die bittere Realität. Ungelernte Arbeitskräfte erhalten rund 350 indische Rupie pro Tag, etwas mehr als vier Euro. Gelernte Arbeiter*innen werden mit dem doppelten Tagessatz entlohnt. Trotzdem schaffen es viele, einen Teil ihres Lohnes an die zurückgebliebenen Verwandten in den Heimatdörfern zu schicken. Zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensumstände tragen diese Gelder nicht bei, allerdings ermöglichen sie die landwirtschaftlich ertraglosen Monate zu überstehen oder den Kindern eine schulische Grundausbildung.

Vor allem für die Arbeiterinnen sei das Leben fernab von ihren Heimatdörfern beschwerlich, berichtet Anoushka Rose, Mitarbeiterin von Prayas. Als Frauen auf den Baustellen würden sie dreifach diskriminiert: als ungelernte Arbeiterinnen, als Migrantinnen und als Frauen aus niedriger Kaste. Für die gleiche Arbeit verdienten sie ein Fünftel weniger als Männer. Wegen des traditionell patriarchalischen Systems seien die Frauen zudem für die Versorgung der Männer und Kinder verantwortlich, schwangere Frauen arbeiten oftmals bis zur Entbindung. «Wieso bekommen wir für die gleiche Arbeit weniger Lohn als unsere Männer?», fragt Nanda, während die Frauen um sie herum zustimmend nicken. «Sie sind sich der Ungerechtigkeit bewusst», weiß Anoushka Rosa. «Sie wissen oft aber nicht, wie sie dagegen vorgehen sollen. Prayas zeigt ihnen Wege auf und unterstützt sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte.»

Die Lebensumstände der Arbeitsmigrant*innen sind erschütternd. In Surat leben etwa zwei Drittel von ihnen unter erbärmlichen Bedingungen – neben Zuggleisen, Hauptstraßen oder auf Straßeninseln. An vielen Stellen sind über die letzten 20 Jahre improvisierte Zeltdörfer auf Freiflächen entstanden. Das neue Zuhause der Migrant*innen bilden Hütten, gebaut aus Plastikplanen, ohne Schutz vor der Witterung, ohne Zugang zu sanitären Anlagen, ohne fließend Wasser und ohne Privatsphäre. Nach Einbruch der Dunkelheit wärmen sie sich am offenen Feuer und bereiten das Abendessen zu.

Die Stadtregierung verschließt die Augen vor der Realität der Menschen und auch die wenigen Stimmen, die sich trauen zu sprechen, finden kaum Gehör. Bislang gibt es keine effektiven Strukturen, um den Menschen eine menschenwürdige Umgebung zu schaffen. Zwar gibt es ein staatliches Unterstützungsprogramm doch Untersuchungen von Prayas ergaben, dass nur wenige der 80.000 Arbeitsmigrant*innen in Surat hierfür registriert sind. Die bürokratischen Hürden scheinen für viele unüberwindbar, die meisten können weder lesen noch schreiben. Aus Scham andere Leute um Unterstützung zu fragen, bleiben die Antragsformulare häufig leer. Es scheint als würden diese Instrumente nur existieren, um den Schein zu wahren; die Regierung verhält sich auffällig passiv den Missständen gegenüber, hingegen droht die Stadtverwaltung immer wieder die improvisierten Siedlungen abzureißen.

Es ist inzwischen 11.30 Uhr auf dem Labour Chowk in Surat. Nanda und Sushil haben noch immer keinen Auftrag bekommen. Der Platz leert sich bereits langsam. «So ist das eben manchmal, aber an 20 von 30 Tagen im Monat bekommen wir Arbeit», sagt Sushil. Und seine Frau Nanda ergänzt: «Dann kommen wir eben morgen wieder.» Wenig später nimmt sie ihren Beutel mit dem vorbereiteten Pausenessen und tritt zusammen mit ihrem Mann den Rückweg an. Bis sie am nächsten Morgen um 7 Uhr wieder am Labour Chowk warten werden.