2018 war auf den ersten Blick ein gutes Jahr für den Westbalkan. Im Mai bekräftigten die EU-Staatschefs in Sofia die europäische Perspektive der Region und versprachen ein stärkeres Engagement. Kurz zuvor hatten die Präsidenten Serbiens und Kosovos angekündigt, ein «historisches Abkommen» zur Beendigung ihres Territorialkonflikts abschließen zu wollen. Und dann war durch den Regierungswechsel in Skopje auch noch Bewegung in den seit fast 28 Jahren schwelenden Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland gekommen: Am Ufer des beide Länder verbindenden Prespa-Sees einigten sich die Regierungschefs Zoran Zaev und Alexis Tsipras im Juni auf die Kompromisslösung «Republik Nordmazedonien».
Auf der anderen Seite ist seit einiger Zeit jedoch folgendes Paradox zu beobachten: Die potenziellen Beitrittsländer sind zwar tatsächlich in vielen technischen Fragen der EU näher gekommen, hinsichtlich demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien haben sie sich jedoch vom europäischen Anforderungskatalog entfernt. Überall herrschen mehr oder weniger autoritäre und klientelistische Regime. Das wird in den EU-Fortschrittsberichten zwar auch angesprochen, doch noch viel zu milde, wie Nichtregierungsorganisationen kritisieren. Für die EU sind in einer potentiell konflikthaften Region wie dem Balkan andere Erwägungen wichtiger. Es gilt, kurz gesagt, «Stabilität vor Demokratie».
Stabilitäts- und sicherheitspolitische Bedeutung hatte auch die Beilegung des (nord)mazedonisch-griechischen Konflikts. Jahrelang hatte Athen die euroatlantische Integration der früheren jugoslawischen Republik unter dem Namen «Republik Mazedonien» durch ein Veto verhindert. Mit der Umsetzung des Namensabkommens wäre der Weg zur Nato- und EU-Mitgliedschaft frei – und der Einfluss Russlands in der Balkanregion weiter zurückgedrängt. Damit das sogenannte «Prespa-Abkommen» jedoch tatsächlich in Kraft treten konnte, musste es jedoch nicht nur durch das mazedonische und griechische Parlament bestätigt werden – in Mazedonien sollte zusätzlich ein Referendum stattfinden. Das Problem: Das international gefeierte Abkommen war in der Bevölkerung äußerst unpopulär. Und so überrascht es nicht, dass angesichts dessen, was auf dem Spiel stand, EU-Entscheidungsträger nicht nur gewillt sind, bei Brüchen rechtsstaatlicher Grundsätze ein Auge zuzudrücken, sondern - wenn es hart auf hart kommt - sogar zu solchen ermutigen.
Schon die Frage des Referendums Ende September war einigermaßen manipulativ: «Sind Sie für die Mitgliedschaft in der EU und der NATO, indem Sie dem Abkommen zwischen der Republik Mazedonien und der Republik Griechenland zustimmen?» Die Vermischung unterschiedlicher Themen war der Grund, warum nicht nur die nationalistische Opposition, sondern auch die mazedonische Linkspartei Levica zum Boykott aufrief. Levica ist gegen einen Nato-Beitritt und setzt sich für eine Balkanföderation ein. Die westliche Unterstützung für die Kampagne der Regierung war dagegen immens: Angela Merkel, US-Verteidigungsminister James Mattis und EU-Außenkommissarin Federica Mogherini waren nach Mazedonien gekommen und riefen die Stimmberechtigten dazu auf, die «historische Chance» wahrzunehmen.
Doch trotz der aufgebotenen Prominenz sollte das Ergebnis zu einer schweren Blamage für das Pro-Lager werden. Zwar hatten sich 91 Prozent der abgegebenen Stimmen für eine Namensänderung in Nordmazedonien ausgesprochen. Mit einer Wahlbeteiligung von lediglich knapp 37 Prozent wurde das erforderliche Quorum von 50 Prozent jedoch klar verfehlt. Nicht nur Zoran Zaev, sondern auch EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn deuteten die Niederlage umgehend in einen überzeugenden Sieg um. Weil das Referendum ohnehin nur konsultativen Charakter hatte, war als nächstes das Parlament gefragt. Zaev immerhin erwog vorgezogene Neuwahlen, um sich neue demokratische Legitimität zu verschaffen, doch der EU-Erweiterungskommissar machte Druck: Die Zwei-Drittel-Mehrheit für die Verfassungsänderung sollte auch so organisiert werden können. Als Kenner der Region waren die ortsüblichen Methoden Johannes Hahn nicht unbekannt. Er hoffe auf einen «Mix aus Balkan und Ratio», erklärte er in einem Interview mit dem österreichischen Kurier.
Die Lösung war ein Amnestiegesetz, von dem jene Oppositionsabgeordneten profitieren sollten, die beim Sturm auf das mazedonische Parlament im April 2017 involviert waren. Anhänger der nationalistischen VMRO-DPMNE hatten damals die Wahl eines neuen Parlamentspräsidenten verhindern wollen. Justizexperten waren angesichts des politischen Eingriffs in laufende Gerichtsverfahren entsetzt, die zuständige Staatsanwältin Vilma Ruskovska bezeichnete die «selektive Amnestie» gar als verfassungswidrig. Nichts einzuwenden hatte dagegen: die EU. Auch schon bei der Flucht des früheren mazedonischen Autokraten Nikola Gruevski ins ungarische Asyl hatte sich Brüssel auffällig mit Verurteilungen zurückgehalten. In Mazedonien wird indes spekuliert, dass die Regierung die Flucht Gruevskis bewusst geduldet haben könnte.
Dass auf dem Balkan für die EU im Zweifelsfall Stabilität Vorrang vor Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erhält, lässt sich nicht nur am Beispiel Mazedonien zeigen: Ob in Montenegro, Serbien, Kosovo oder Bosnien-Herzegowina - überall sind Regierungen an der Macht, für die sich seit einiger Zeit die Bezeichnung «Stabilokratien» durchgesetzt hat. Eingeführt wurde der Begriff durch den montenegrinischen Historiker Srđa Pavlović: Stabilokratien sind semi-autoritäre Regime, die sich als Garanten von Stabilität empfehlen, die EU-Integration als vorrangiges Regierungsziel formulieren - und dementsprechend Unterstützung aus Brüssel erfahren. Auf der anderen Seite unterminieren sie jedoch zu Hause demokratische Prinzipien und Rechtsstaatlichkeit, sie knebeln die Medien und unterwerfen staatliche Institutionen Parteiinteressen.
Paradebeispiel eines Stabilokraten ist etwa Serbiens Regierungschef Aleksandar Vučić, ein ehemaliger Radikalnationalist, der sich zum begeisterten EU-Anhänger gewendet hat und Serbien praktisch in Alleinherrschaft regiert. Auch Mazedonien galt bis vor kurzem als Stabilokratie par excellence. Zwar war offensichtlich, dass der ehemalige Ministerpräsident Nikola Gruevski das Land über die Jahre seiner Herrschaft in eine mafiöse Halbdiktatur verwandelt hatte, doch gleichzeitig präsentierte er sich als kooperativer Manager der Flüchtlingskrise. Für die Schließung der Balkan-Route bedankte sich der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz mit einem Auftritt in Gruevskis Wahlkampf.
Srđa Pavlović hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Beziehung des Westens zu stabilokratischen Regimen dann endet, wenn ein Partner sein Sicherheitsversprechen nicht mehr erfüllen kann oder will - oder wenn eine vielversprechendere Alternative am politischen Horizont auftaucht. Gruevski hatte nun nicht nur das Problem, dass seine Regierungspraxis allzu offensichtlich alle demokratischen Prinzipien verletzte. Aus westlicher Sicht vielleicht noch schwerwiegender war, dass seine ultranationalistische Politik keine Aussicht auf eine Lösung des mazedonisch-griechischen Namensstreit bot. Tatsächlich war Mazedonien schließlich das erste Land in der Region, in dem – durch ein Zusammenspiel von Protesten auf der Straße, sozialdemokratischer Opposition und internationaler Mediation – ein vielversprechender Regierungswechsel gelang. Die Sozialdemokraten hatten nicht nur das Versprechen gegeben, die Versöhnung mit dem griechischen Nachbarn voranzutreiben, sondern auch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wieder herzustellen. Dass sie ihren ersten Sündenfall nun ausgerechnet mit aktiver Duldung aus Brüssel begingen, hat vielen zu denken gegeben, die auf den EU-Integrationsprozess als Motor für politische Reformen setzen.
Zu den tatsächlich positiven Nachrichten gehört immerhin, dass es mittlerweile überall auf dem Balkan auch oppositionelle Bewegungen gibt, die nicht länger bereit sind, die politischen und sozialen Missstände hinzunehmen: In Bosnien-Herzegowina brachten 2014 heftige Sozialproteste das politische System zum Wanken, in Montenegro protestieren immer wieder Tausende gegen das System des Langzeitherrscher Djukanović, und auch in Serbien gehen seit fast zwei Jahren immer wieder tausende bis zehntausende Menschen auf die Straße, um gegen das autoritäre Gebaren des Präsidenten zu demonstrieren. Auffällig ist jedoch, dass auf all diesen Protesten keine EU-Fahnen zu sehen sind. Denn, anders als etwa in Polen, wird diese eben in weiten Teilen der Bevölkerung als Partnerin der herrschenden Klasse wahrgenommen.