Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Arbeit / Gewerkschaften - International / Transnational - Asien - Südasien - Kämpfe um Arbeit Selbsthilfe und Kampf ums Überleben

Migrant*innen in Kolkata arbeiten unter prekären Bedingungen für eine bessere Zukunft

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Antje Stiebitz,

Erschienen

Februar 2019

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Gerberei im Bantala Leather Complex, Dez 2018, Kolkata, Indien
Gerberei im Bantala Leather Complex, Dez 2018, Kolkata, Indien Foto: Antje Stiebitz

Seit mehr als 200 Jahren zieht Kolkata Migrant*innen an: Ihre Wurzeln liegen in China, Armenien, Bangladesch oder in anderen Teilen Indiens. Politische Verfolgung, Hunger und Armut haben sie aus ihrer Heimat vertrieben. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihre Familien hat sie in die ostindische Metropole gezogen. Der Think Tank Mahanirban Calcutta Research Group, Partner der Rosa-Luxemburg-Stiftung Südasien, forscht seit Jahrzehnten zum Thema Migration und ermöglicht damit einen tiefen Einblick in das Leben und Arbeiten von Menschen mit Migrationshintergrund.
 

Beim Betreten der Gerberei liegt ein dumpfes Grollen in der Luft. Es stammt aus hölzernen Fässern, die sich unaufhörlich drehen und an überdimensionale Hamsterräder erinnern. In den Fässern bewegen sich Tierhäute, eingelegt in einen giftigen Cocktail aus Wasser und Chemikalien. Zwischen den hölzernen Streben der Fässer quillt das Wasser hervor, tropft auf den Boden und weicht ihn auf. Jeder Atemzug frisst sich in den Schleimhäuten fest. Die aus Oberlichtern sonnendurchflutete Betonhalle ist eine von 1600 Werksabteilungen des Bantala Leder Zentrums im Osten Kolkatas. In dem rund viereinhalb Quadratkilometer großen Industriezentrum durchlaufen Büffel- und Kuhhäute alle Arbeitsprozesse, die zur Herstellung von Leder nötig sind. 

Samaresh Guchheit ist ein Mitarbeiter der Mahanirban Calcutta Research Group (MCRG) und hat sich in seiner Doktorarbeit mit der Lederherstellung beschäftigt. MCRG ist für ihre Forschung zu Migration, Flucht, Frieden und Demokratie bekannt. Samaresh hat heute eine Gruppe von Teilnehmer*innen einer Migrations-Konferenz in die Gerberei geführt, die MCRG und die Rosa-Luxemburg-Stiftung unlängst in Kolkata organisiert haben. Die internationalen Gäste sollen sich ein Bild davon machen, unter welchen Bedingungen die Menschen hier arbeiten.

Diese Einheit operiere mit 15 Arbeitern und gelte eher als klein, erklärt der Doktorand. Es gebe auch Betriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten. «Die Leute werden pro Stück bezahlt. Sie erhalten zwischen 300 und 350 Rupien am Tag, das sind etwa 4 Euro.» Neben ihm fließt Wasser in ein großes Becken, in dem unzählige graue Tierhäute schwimmen. Samaresh muss beinahe schreien, damit er das Grollen der Fässer übertönt: «Aus dem Leder entstehen Taschen, Schuhe und Handschuhe. Exportiert wird vor allem nach Europa und in die Vereinigten Staaten.»

Die Beschäftigten in den Gerbereien sind fast ausnahmslos Männer. Sie kommen aus den nordindischen Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh, aber auch aus Nepal und Bangladesch. Das Verarbeiten von Tierhäuten gilt unter gläubigen Hindus als «unrein» und wird daher meist von Angehörigen unterer Kasten oder Muslimen ausgeführt. Firas Achmad ist Vorarbeiter, er trägt Kappe und Sonnenbrille. «Die Männer können ihre Lebensbedingungen verbessern, wenn sie hier tätig sind,» erklärt er. «Sie arbeiten hier für zwei oder drei Monate, dann besuchen sie ihre Familien und kehren wieder zu uns hierher zurück.»

Über eine Treppe gelangt die Gruppe von Studierenden und Wissenschaftler*innen auf das Dach der Gerberei. Hier liegen unzählige Tierhäute in der Sonne, mit Nägeln zum Trocknen aufgespannt. «Die Arbeiter hantieren mit giftigen Chemikalien, deshalb leiden sie unter Hautkrankheiten und Atemproblemen», erklärt Samaresh.«Sie sollten Handschuhe und Atemmasken tragen», moniert er. «Doch weder ihr Arbeitgeber, noch die Arbeiter selbst achten darauf. Geld dafür wäre vorhanden, aber es mangelt vor allem am Bewusstsein dafür, dass sie mit toxischen Substanzen hantieren.» Für die Arbeiter ginge es vor allem ums Überleben. Sobald sie sich Nahrung, Kleidung und eine Unterkunft erkämpft hätten, seien sie glücklich. 

Etwa eine Autostunde später erreichen die Konferenzteilnehmer*innen die Hafengegend Khidirpur im Westen von Kolkata. Zwischen Teeverkäufern, Obstständen, Autos und Passanten wird die Shahani Begum Masjid sichtbar, eine Moschee aus dem frühen 19. Jahrhundert. Mohona Mitra gehört der Initiative «Know your Neighbour» (sinngemäß: Kenne deinen Nachbarn) an, die eng mit MCRG zusammenarbeitet. «Als die Briten das Dock Ende des 19. Jahrhunderts ausbauten, kamen viele Menschen hierher, um Arbeit zu finden», erklärt die junge Frau. Daher hätten sich in Khidirpur verschiedene Gemeinschaften angesiedelt. Sie deutet mit der Hand auf den Eingang der Moschee: «Daneben gibt es einen alten Shiva-Tempel und zwei Kirchen.»

Die Bewohner*innen von Khidirpur sprechen Bengali, Urdu, Hindi, Tamil, Telugu und Malayalam. Sie kommen aus Regionen im Norden, Osten und Süden Indiens – auch eine kleine anglo-indische Gemeinschaft gibt es. Aufgrund ihrer Religion, erklärt Mohona, litten insbesondere Muslime unter Ausgrenzung. «Seit der Teilung Britisch Indiens (im Jahr 1947 in Indien und das islamisch geprägtes Pakistan) gelten Muslime hierzulande immer als verdächtig.» Aber es gehe auch um ganz praktische Dinge, beispielsweise sei es für viele von ihnen schwierig ein Darlehen zu bekommen. «Weil sie Urdu schreiben, wird ihre Unterschrift nicht akzeptiert.»

Es ist dunkel geworden. Die Besuchergruppe fädelt sich durch eine der engen Gassen Khidirpurs und erreicht schließlich einen Versammlungsplatz, auf dem eine Menschentraube und zahlreiche Stuhlreihen stehen. Hier hat sich die «Westbengalische Mithila Gesellschaft» versammelt: Eine Slum-Gemeinschaft von ausschließlich männlichen Hafenarbeitern, die alle aus Mithila, einer Gegend im indischen Bundesstaat Bihar kommen. Die migrantische Organisation arbeitet eng mit der Initiative «Know your Neighbour» zusammen. Gemeinsam fördern sie das Verständnis zwischen den Gemeinschaften, indem sie zu Gesprächen und Informationsveranstaltungen einladen.

Grelle Lampen beleuchten den Versammlungsort und die Anwesenden lassen sich auf den sorgfältig aufgestellten Stühlen nieder. Die internationalen Gäste aus Italien, den Vereinigten Staaten und Israel stellen ihre Fragen und die Arbeiter aus Bihar stehen auf, nehmen das Mikrofon in die Hand und berichten aus ihrem Leben: Die Arbeit im Dock sei in den letzten Jahren unregelmäßig geworden, deshalb gingen sie den verschiedensten Jobs nach. Sie handeln mit Schrott oder verkaufen Süßigkeiten. Die meisten von ihnen waren Bauern. Doch karge Ernten trieben sie dazu, Dörfer und Familien zu verlassen und ihr Glück in der fernen Metropole zu versuchen. Hier im Slum mieten sie sich ein Zimmer für eine monatliche Miete von 150 Rupien – das sind knapp zwei Euro. Das Zimmer teilten sie sich mit drei oder vier Personen, das macht 40 oder 45 Rupien für jeden. «Das klingt sehr günstig», erklärt einer der Männer mit lauter Stimme, «aber wir kämpfen hier mit vielen, ganz typischen Schwierigkeiten, die Slum-Bewohner*innen zu bewältigen haben. Beispielweise bringen die Wassermassen des Monsuns Staunässe und die hygienischen Bedingungen sind miserabel.»

Wer zwei oder drei Monate gearbeitet habe, berichten die Männer, steige in den Zug nach Bihar und besuche die Familie. Meist dann, wenn die Familie eine Hochzeit feiert, ein Begräbnis stattfindet oder ein Festival ansteht. «Sobald einer unserer Söhne alt genug ist, sich selbst zu waschen oder alleine in ein Restaurant zu gehen, nehmen wir ihn mit nach Khidirpur.» Manche von ihnen gingen hier zur Schule und machten einen Abschluss. Mohammad Abusa Saidi etwa kann eine solche Erfolgsgeschichte erzählen: «Mein Großvater kam aus Bihar in die Stadt und auch mein Vater arbeitete hier. Ich unterrichte als Lehrer in einer staatlichen Schule und verdiene jetzt so gut, dass ich meine ganze Familie nach Kolkata geholt habe.»

«Manchmal haben wir hier das Problem, dass jemand stirbt. Dann kümmert sich unsere Organisation darum den Körper in sein Heimatdorf zu schicken», erklärt einer der Mitarbeiter der «Westbengalischen Mithila Gesellschaft». Diese 800 oder 900 Kilometer zu überwinden, sei für die Organisation immer wieder ein finanzieller Kraftakt, habe aber absolute Priorität. «Dafür sind wir bereit hart zu arbeiten.» Es ist spät geworden und die Gäste verabschieden sich. Viele von ihnen diskutieren angeregt als sie wieder in ihren Bus steigen, andere sehen müde aus. Der Besuch in Bantala und Khidirpur hat intensive Eindrücke hinterlassen und viele Fragen aufgeworfen.
 

Zur Autorin: Antje Stiebitz berichtet als Hörfunk- und Printjournalistin über die Region Südasien. Das Interview entstand im Auftrag des Regionalbüros Neu-Delhi der Rosa-Luxemburg-Stiftung.