Publikation International / Transnational - Krieg / Frieden - Globale Solidarität Alte Denkweisen überwinden

Eva Wuchold über Gewalt, Johan Galtungs Beitrag zur Konfliktbewältigung und das Konzept des «positiven Friedens»

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Erschienen

März 2019

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Eva Wuchold
«Die Konflikte sind schon längst da, bevor sie offen gewaltförmig ausgetragen werden. Hier setzt positive Friedenspolitik präventiv an.»

Eva Wuchold hat an der Europäischen Friedensuniversität in Stadtschlaining/Österreich gelernt, Konflikte und Gewalt in all ihren Facetten zu analysieren. Einer der Lehrenden dort war Johan Galtung.

Eva Wuchold ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung sowie Umweltpolitik. Sie war als Projektberaterin bei NGOs im Bereich Ziviler Friedensdienst und Entwicklungszusammenarbeit tätig. Heute leitet sie das Referat Globale Aufgaben und Sondermittel bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ist dort Referentin unter anderem für Positiven Frieden.

Mit ihr sprach Tom Strohschneider für maldekstra.
 

maldekstra: Wenn dich jemand fragen würde, ob in der Bundesrepublik Frieden herrscht: Was antwortest du ihm?

Eva Wuchold: Frieden als Abwesenheit von Krieg gibt es sicherlich, als Abwesenheit von organisierter militärischer Gewaltanwendung. Das wäre allerdings ein negativer Friedensbegriff. Frieden im Sinne eines innergesellschaftlichen Friedens nicht erst seit dem Erstarken rechter Parteien in Deutschland und Europa eher nicht. Von deutschen Kriegseinsätzen, Waffenexporten aus Deutschland, den auch durch deutsche Politik verursachten unzähligen Toten an den europäischen Außengrenzen oder aber auch der deutschen Autoindustrie als Beschleuniger des Klimawandels mit all seine gravierenden Folgen ganz zu schweigen.

Du sprichst von einem «negativen Frieden» – wie würde ein «positiver» aussehen?

Anders als negativer Frieden, der das Fehlen direkter Gewalt voraussetzt, kann man von positivem Frieden nur bei gleichzeitiger Abwesenheit von struktureller Gewalt sprechen.

Der Begriff geht auf Johan Galtung zurück.

Genau, der Norweger gilt als Gründungsvater der Friedens- und Konfliktforschung. Er versteht darunter die strukturell, also aufgrund von Werten, Normen, Institutionen oder Machtverhältnissen bedingte vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse. Oder, um es allgemeiner auszudrücken: Die Diskrepanz zwischen Gegebenem und Möglichem.

Das ist ein sehr weiter Rahmen.

Ja, er schließt alle Formen der Diskriminierung, Ausbeutung, die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen, Lebenserwartung auch aufgrund von Umweltverschmutzung sowie jegliche Wohlstandsgefälle und ein Verhindern emanzipatorischer Bestrebungen mit ein. Dem legt Galtung in seiner Lehre systemische Faktoren zugrunde, die unabhängig vom Handeln sozialer Akteure sind. Positiver Frieden hingegen ist für Galtung – nicht nur in Abgrenzung vom negativen Frieden als Abwesenheit von organisierter kollektiver Gewalt, sondern auch von der herkömmlichen Vorstellung des Friedens als Synonym für Stabilität und Gleichgewicht oder als Konzept für «Recht und Ordnung» basierend auf einer vorhersehbaren Gesellschaftsordnung – ein Synonym für «alle anderen guten Sachen in der Weltgemeinschaft» und hier vor allem die Zusammenarbeit und Integration zwischen menschlichen Gruppen viel mehr als die Abwesenheit von Gewalt.

Aber läuft das dann nicht letzten Endes nur auf eine andere Umschreibung für die strukturellen Bedingungen von Gewalt hinaus, also auf eine linke, eine materialistische Gesellschaftskritik?

In der Tat versteht Galtung positiven Frieden als dynamischen Prozess im Sinne einer produktiven Schaffung gerechterer sozioökonomischer und politischer Verhältnisse. Auch versucht Galtung in seinem Modell der postrevolutionären Gesellschaft eine Gegenperspektive zu entwerfen, in der die Kosten der strukturellen Gewalt minimiert werden. Allerdings berücksichtigt er dabei Aspekte, die über die Konfrontation Kapitalismus versus Sozialismus weit hinausführen.

Das musst du erklären.

Das Charakteristische an Galtungs Modell ist, dass Gesellschaft ihr Ziel zum einen in der Selbstverwirklichung der Einzelnen sieht, sie also auf Individualismus und individuelle Freiheit setzt, und zum andern das Individuum nicht nur Objekt, sondern auch Maßeinheit der Gesellschaftsordnung ist. Geht man davon aus, dass die Gesellschaft nicht nur von, sondern auch für Individuen gemacht ist, so haben laut Galtung die Werte einer Gesellschaft einen Sinn, die sich auf das Individuum beziehen. Dementsprechend fordert sein Individualismus-Begriff Freiheitsspielräume für alle, selbst für den Andersdenkenden. Ihm geht es um eine Struktur, die Solidarität in Freiheit begründet und die sich auf die Komponenten Autonomie, Partizipation und Kooperation stützt. Darüber hinaus verweist Galtung auf die Tiefenphänomene, Tiefenstruktur und Tiefenkultur, die auf uns alle einwirken, aber als etwas Verborgenes. Galtung sagt, dass eine Struktur den Menschen gewisse Handlungsweisen vorschreibt, die dadurch begründet sind, dass sich alle Menschen so verhalten, ohne dem Grund dafür nachzugehen. Oder dass sie aus ähnlichen Gründen nicht handeln.

Es geht also um Widersprüche, die nicht immer an der Oberfläche sichtbar sind?

So kann man es sagen. Galtung ist nicht nur Soziologe und Politikwissenschaftler, er ist auch Mathematiker. Er hat alle seine Thesen anhand der Analyse und wissenschaftlichen Auswertung dieser Widersprüche entwickelt. So ermittelte er für die Definition des positiven Friedens die Summe relativer konsensueller Werte in der Weltgemeinschaft der Nationen anhand einer Liste von zehn Werten, nämlich: 1. Anwesenheit von Kooperation, 2. Freiheit von Furcht, 3. Freiheit von Mangel, 4. Wirtschaftswachstum und Entwicklung, 5. Mangel an Ausbeutung, 6. Gleichheit, 7. Gerechtigkeit, 8. Handlungsfreiheit, 9. Pluralismus, 10. Dynamik. Das sind sehr komplexe Analysen, es ist nicht einfach nur eine Haltung.

Wie bist du zu Galtungs Konzept gekommen?

Ich habe bei Auslandsaufenthalten etwa in Ambon in Indonesien, wo es 1996 zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen zwischen Maduresen und Dayak kam, oder in Palästina während der Intifada im Jahr 2000, aber auch in Mexiko 1998 oder in Brasilien 2002 persönlich miterlebt, was Gewalt bedeutet. Gleichzeitig habe ich, ebenfalls durch eigene Anschauung, auch mitbekommen, wie wenig die deutsche auswärtige Politik, deutsche Kulturpolitik und deutsche Entwicklungspolitik darauf eingehen können oder wollen. Deshalb habe ich mich nach Abschluss meines Studiums in Deutschland bewusst für ein Studium der Friedenswissenschaften an der Europäischen Friedensuniversität in Stadtschlaining entschieden. Dort haben wir gelernt, Konflikte und Gewalt in all ihren Facetten zu analysieren – stets anhand sehr realer Fallbeispiele –, vor allem aber, was es für einen nachhaltigen Frieden braucht und was das überhaupt bedeutet. Einer der Lehrenden dort war Johan Galtung.

Wie hast du ihn persönlich erlebt?

Ich habe Galtung in erster Linie als Freigeist erlebt. Sein Credo in Bezug auf alle Konflikte, die er uns zu analysieren half, war, «to think out of the box», also kreativ über das übliche Maß hinaus zu sein. Für mich war das, nach allem, was ich in meinem Studium in Deutschland mitbekommen hatte, geradezu revolutionär: Galtungs Ansätze zur Konfliktlösung waren keine Kompromisse, bei denen die Konfliktparteien oft das Gefühl haben, zu viel aufgegeben zu haben. Seine Lehre war, dass der Durchbruch gelingt, wenn sich Konfliktparteien darauf verpflichten, ihre alte Denkweise zu überwinden, wodurch am Ende alle Seiten zufrieden sind.

«Eine Struktur schreibt den Menschen gewisse Handlungsweisen vor, die dadurch begründet sind, dass sich alle Menschen so verhalten, ohne dem Grund dafür nachzugehen.»

Johan Galtung, Soziologe, Politikwissenschaftler und Mathematiker, denkt gerne «out of the box». Foto: Paul Bernhar, via transcend.org

Hat Galtungs Methode Erfolg?

Erfolge hat es gegeben, etwa bei Grenzkonflikten, die über die Bildung gemeinsam verwalteter Nationalparks beendet werden konnten. Beeindruckt hat mich aber vor allem, dass er trotz unzähliger gescheiterter Mediationsversuche, sei es in Sri Lanka oder im Irak, nach wie vor ungeteilte Gewaltfreiheit propagiert, ausgehend von den in seinem Buch «Frieden mit friedlichen Mitteln» beschriebenen Schlüsselkompetenzen, nämlich Empathie, Kreativität und Gewaltfreiheit. Und dass er keine Angst vor steilen Thesen hat, wie zum Beispiel die vom Untergang des US-Imperiums bis zum Jahr 2020, die er in einem Streitgespräch mit Samuel P. Huntington auf Schloss Neuhardenberg aufstellte, egal wie die Reaktionen darauf auch ausfallen. Trotz seines großen Namens hat Johan wie selbstverständlich bei uns im Wohnheim gewohnt, mit uns gekocht, gegessen, in der Sauna gesessen. Er wollte uns für seine Sache gewinnen. Und das hat er durchgängig geschafft, auch indem er uns als gleichwertige Diskussionspartner anerkannt hat.

Als Galtung den Begriff «strukturelle Gewalt» formulierte, fiel das in eine Zeit, in der die Rezeption des Strukturalismus en vogue war. Louis Althusser versuchte beispielsweise eine strukturalistische Reinterpretation der marxistischen Theorie. Spielte das eine Rolle?

Ob Galtung sich mit Althusser auseinandergesetzt hat, weiß ich nicht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang meines Erachtens, dass Galtung in seinem für diese Diskussion grundlegenden Artikel «A Structural Theory of Imperialism» aus dem Jahr 1971 strukturelle Gewalt nicht bloß als andere Umschreibung für die strukturellen Bedingungen von Gewalt begreift, sondern Strukturen als Gewalt selbst definierte, sofern sie Ungleichheit repräsentieren und Menschen davon abhalten, ihr tatsächliches oder vermutetes Entwicklungspotenzial auszuschöpfen. Ungleichheit ist also nicht allein ein Phänomen struktureller Gewalt, sondern zugleich deren Bedingung.

Wenn jede Diskrepanz zwischen dem Gegebenen und dem potenziell Möglichen als Gewalt skandalisiert werden kann, bleibt kaum mehr Raum für gewaltfreie Verhältnisse.

Ich kenne die Kritik an Galtungs Auslegung von Ungleichheit als Gewaltverhältnis, und auch die daran, dass die Definition von struktureller Gewalt weit und vage ist. Ich denke aber, dass es nach wie vor wichtig ist, dass dank ihm der Gewaltbegriff um die Phänomene Armut, Hunger, Unterordnung und sozialen Ausschluss erweitert wurde und damit auch die Friedensoptionen größer wurden. Wie ich auch die Kategorie der kulturellen Gewalt in seinem «Gewaltdreieck» als hilfreich bei der Analyse von Konflikten empfinde: Wenn strukturelle Gewalt institutionalisiert und kulturelle Gewalt verinnerlicht ist, steigt die Gefahr, dass sich auch die persönliche, direkte Gewalt verfestigt. Generell habe ich Galtungs Forschung immer eher als Friedens- denn als Gewaltforschung verstanden.

Wie ordnest du das Konzept in die sonstige friedenspolitische Debatte ein?

Johan Galtung ist gerade auch in Deutschland umstritten, auch unter Forschern, weil ihm oftmals politische und nicht akademische Ziele unterstellt werden. Auch wird ihm vorgeworfen, dass seine Konzepte nicht den Krieg als solchen erklären. Und tatsächlich bezieht sich das Konzept der strukturellen Gewalt nicht auf gewaltförmige Konflikte. Positiver Frieden setzt allerdings negativen Frieden voraus. Ich denke, dass die Kritik Hand in Hand geht mit einer Krise der kritischen Friedensforschung generell, die systemkritische Forscher und damit auch Theorien der strukturellen Gewalt als Angriff auf die Ordnungsmacht des Staates auslegt.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat ein Dialogprogramm unter die Überschrift «Positiver Frieden» gestellt. Warum?

Wir haben das Konzept gewählt, weil es auf einen dauerhaften Frieden abzielt, in dem nicht nur die direkte Gewalt eingestellt wird. Wir fragen: Welche Formen struktureller Gewalt sehen wir? Wie und an welchem Punkt verwandeln sich diese in direkte Gewalt? Welche Formen von Widerstand und soziale und politische Bewegungen gibt es – gegen direkte und indirekte Gewalt? Was sind linke politische Antworten auf direkte und strukturelle Gewalt? Wie kann eine linke «positive Friedenspolitik» aussehen?

Und, wie kann sie aussehen?

Frieden nicht erst zu denken, wenn das Kind schon längst in den Brunnen gefallen ist. Die Konfliktursachen müssen in den Blick genommen werden. Mehr noch: Die Konflikte sind schon längst da, bevor sie offen gewaltförmig ausgetragen werden. Hier setzt positive Friedenspolitik präventiv an – bei politischen Diskriminierungen, Menschenrechtsverletzungen, ungerechter sozioökonomischer Verteilung, den Verhältnissen von Kooperation und Konkurrenz zwischen Staaten und Staatenblöcken um Absatzmärkte und globale Ressourcen in der kapitalistischen Weltwirtschaft, bei Klimaschutz oder geopolitischer Interessenpolitik, die lokale Konflikte schnell zu Stellvertreterkriegen ausweitet. Hier muss sich etwas ändern, wenn Frieden mehr sein soll als bloß die zeitweilige Abwesenheit von Krieg.

Wie schätzt du vor diesem Hintergrund die deutsche Entwicklungspolitik ein?

Die gegenwärtige Entwicklungspolitik zielt nicht darauf ab, Strukturen zu fördern, die Menschen in den Regionen in die Lage versetzen, das, was Galtung als Frieden beschreibt, herzustellen und daran zu partizipieren. Das wird etwa deutlich bei dem Ansatz, die Landwirtschaft in den Entwicklungsländern in einem großen Ausmaß zu industrialisieren. Das verschärft die Ungerechtigkeiten auf dem Land massiv. Diese ganzen rein ökonomisch gedachten und mit privatem Kapital kofinanzierten Projekte, bei denen grüne Innovationszentren auf den Wiesen wachsen, werden keinen positiven Frieden begründen können. Im Gegenteil: Hier werden neue Quellen struktureller Gewalt gefördert.


Dieser Text ist erschienen in: 
Frieden ist mehr als Abwesenheit von Krieg
maldekstra #2 über die strukturellen Ursachen gewaltvoller Konflikte

 

Zum Dossier «Positiver Frieden»

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