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Altmaiers «Nationale Industriestrategie 2030» bricht mit der marktradikalen Ideologie und birgt progressive Ansätze in sich.

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Autor

Andreas Fisahn,

Erschienen

April 2019

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Altmaiers Vorschläge zur Industriepolitik
Im Februar 2019 präsentierte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier einen Bericht mit dem Titel «Nationale Industriestrategie 2030 - Strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik».
Die Industriepolitik, das BMWi dort vorschlägt, modelliert ein anderes Gesicht des Kapitalismus, könnte die liberalere Variante der Aufkündigung des neoliberalen Marktglaubens werden oder eben die Variante einer exportorientierten Nation, für welche eine Schließung der Märkte eine suboptimale Strategie ist. istockphoto / Aquir

Am 26. Februar 2019 berichtete die Süddeutsche Zeitung: «Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert angesichts der zunehmenden Konkurrenz aus Asien eine grundlegende Neuordnung der Industriepolitik in Deutschland und Europa. Politik und Wirtschaft müssten gemeinsam strategische Planungen ausarbeiten.»[1] Einen Tag später hieß es dann: «Einig sind sich Macron und Merkel auch darin, eine Reform der EU-Industriepolitik voranzutreiben. […] Man habe zwar in Europa ‹eine Vielzahl von Richtlinien, die permanent verabschiedet werden›, so Merkel. Diese gäben aber ‹keine kohärente Antwort› auf die Herausforderungen. […] Macron sagte, man werde einen Fahrplan für die gewünschten Reformen aufstellen. Dazu gehöre eine Änderung des EU-Wettbewerbsrechts. Merkel hatte bereits am Dienstag angesichts zunehmender Konkurrenz aus Asien eine grundlegende Neuordnung der Industriepolitik in Deutschland und Europa gefordert. Politik und Wirtschaft müssten künftig gemeinsam strategische Planungen ausarbeiten. Die deutschen Wirtschaftsverbände reagierten mit Zustimmung, warnten aber auch vor zu starken staatlichen Eingriffen.»[2]

Altmaiers Vorschläge zur Industriepolitik

Es war keineswegs, wie man vielleicht erwartet hätte, der sozialdemokratische Teil der Regierung, der Vorschläge für eine neue Industriepolitik produziert hat. Sie sind vielmehr von Wirtschaftsminister Altmaier auf die Tagesordnung gesetzt worden. Im Februar 2019 hat dieser einen Bericht mit dem Titel «Nationale Industriestrategie 2030» vorgelegt, und der ist – anders als die meisten offiziösen Verlautbarungen – durchaus spannend. So, als wäre seine Partei nicht seit fast 14 Jahren in der Regierung, wird konstatiert: «Die Politik hat die Gesamtheit dieser Entwicklungen viel zu lange ignoriert. Sich damit zu beschäftigen und eigene Konzepte zu entwickeln ist notwendig, denn auch in unseren Partnerländern findet diese Beschäftigung auf politischer Ebene statt und werden dort Weichen gestellt.»[3] Industriepolitik ist keine neue Erfindung und wird – außerhalb Deutschlands – in den Wirtschaftswissenschaften seit längerem wieder intensiv diskutiert.[4] Auch die Industriestrategie 2030 stellt fest: «Industriepolitische Strategien erleben in vielen Teilen der Welt eine Renaissance, es gibt kaum ein erfolgreiches Land, das zur Bewältigung der Aufgaben ausschließlich und ausnahmslos auf die Kräfte des Marktes setzt.»[5] Und es wird auch gleich ein Beispiel für gelungene Industriepolitik genannt, ohne die staatlichen Eingriffe im gleichen Atemzug zu verdammen: «Ein industriepolitisch besonders erfolgreiches Land ist die Volksrepublik China, die 2015 die Agenda ‹Made in China 2025› beschlossen hat.»[6]

Das heißt nun nicht, dass das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) dem Markt abgeschworen hätte. Entsprechende Bekenntnisse findet man an verschiedenen Stellen des Papiers: «Der Staat soll auch nicht willkürlich in den Wettbewerb zwischen einzelnen Unternehmen eingreifen, weder im nationalen noch im internationalen Wettbewerb. Nur so kann der Prozess der optimalen Ressourcenallokation gelingen, kann sich der bessere Anbieter behaupten, entsteht der größte Mehrwert für alle. Die Prinzipien des Marktes und des komparativen Vorteils (Ricardo) sind unverändert gültig.»[7] Aber der Paradigmenwechsel ist mit Händen zu greifen, wenn es heißt: «In manchen Fällen stellen wir fest, dass die Summe der betriebswirtschaftlichen Einzelentscheidungen der Unternehmen eines Landes nicht ausreicht, um globale Kräfte- und Wohlstandsverschiebungen auszugleichen oder zu verhindern: Denn ein Unternehmen hat sein Fortkommen im Blick, nicht das des gesamten Landes. In diesen Fällen – und nur in diesen – findet aktivierende, fördernde und schützende Industriepolitik ihre Berechtigung: Wenn es die Marktkräfte innerhalb der Volkswirtschaft eines Landes nicht vermögen, deren Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Dies ist die Verantwortung und Aufgabe des Staates.»[8]

Was will die Industriestrategie 2030? «Das Ziel der ‹Nationalen Industriestrategie 2030› besteht darin, gemeinsam mit den Akteuren der Wirtschaft einen Beitrag zu leisten zur Sicherung und Wiedererlangung von wirtschaftlicher und technologischer Kompetenz, Wettbewerbsfähigkeit und Industrie-Führerschaft auf nationaler, europäischer und globaler Ebene in allen relevanten Bereichen. […] Ein Ziel ist dabei der schrittweise Ausbau des Anteils der Industrie an der Bruttowertschöpfung auf 25 Prozent in Deutschland und 20 Prozent in der Europäischen Union bis zum Jahr 2030.»[9] Gegenwärtig liegt der Anteil der Industrie an Wertschöpfung in Deutschland bei 23 Prozent – das Ziel ist also nicht allzu anspruchsvoll.

Aber Altmaier insistiert, dass es sich um einen neuen Ansatz handelt, der sich von staatlichen Interventionen der Vergangenheit, das heißt von der bisherigen Industriepolitik unterscheide, weil die gesamtwirtschaftliche, strategische Dimension berücksichtigt werde. So heißt es: «Manche Eingriffe gingen fehl, weil sie zu kurz griffen und der Staat ganz grundsätzlich nicht der bessere Unternehmer ist. Und weil sie – anders als z. B. bei Airbus – auf punktuelle Effekte zielten, Fehlallokationen auslösten, aber keinerlei strategische Funktion erfüllten. Die vorgelegte Industriestrategie wählt daher bewusst einen völlig anderen Ansatz. Sie definiert, in welchen Fällen ein Tätigwerden des Staates ausnahmsweise gerechtfertigt oder gar notwendig sein kann, um schwere Nachteile für die eigene Volkswirtschaft und das gesamtstaatliche Wohl zu vermeiden. Sie ist zugleich ein Beitrag zur Gestaltung einer zukunftsfesten Marktwirtschaft und Basis für eine ordnungspolitische Debatte, die geführt werden muss.»[10] Es könnte also zukünftig um eine neue gesamtwirtschaftliche Koordination und strategische Planung von Innovation und Investition gehen. Dafür soll der Staat in Absprache mit Unternehmen die Initiative übernehmen und sich auch an Unternehmen beteiligen: «Nur in sehr wichtigen Fällen soll der Staat für einen befristeten Zeitraum selbst als Erwerber von Unternehmensanteilen auftreten können. Insgesamt darf sich der Anteil staatlicher Beteiligungen langfristig aber nicht erhöhen. Deshalb kommt die Schaffung einer nationalen Beteiligungsfazilität in Betracht, über deren Umfang regelmäßig dem Parlament zu berichten ist. Der Übernahme neuer Beteiligungen muss grundsätzlich die Privatisierung anderer Beteiligungen gegenüberstehen.»[11] Das ist nicht unbedingt eine grundsätzliche Abkehr von der Privatisierungsideologie, aber doch eine erhebliche Modifikation, insbesondere wenn man das Mittel, die Beteiligungsfazilität, berücksichtigt.

Zu den Bereichen, in denen eine gezielte Industriepolitik erfolgen soll, rechnet die Strategie - nicht unbedingt überraschend – die Plattformökonomie, das Cloud-Learning, die Künstliche Intelligenz, autonomes Fahren und die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte, medizinische Diagnostik, die Nano- und Biotechnologie, das Quanten-Computing.

Paradigmenwechsel - zwei Wege im Postneoliberalismus?

Menschen mit etwas Geschichtsbewusstsein wissen, dass der Kapitalismus bei gleichbleibenden Basisgesetzmäßigkeiten im Laufe seiner Geschichte oftmals sein Gesicht geändert hat, also neue Strategien der Kapitalverwertung entwickelt hat. Dabei standen sich bei gleicher Grundströmung unterschiedliche Varianten gegenüber, das heißt es setzten sich unterschiedliche Pfade desselben Entwicklungsmodells durch. Deutlich lässt sich das am Beispiel der fordistischen Massenproduktion als Antwort auf die Krise 1929 demonstrieren: Die Massenproduktion startete im deutschen Faschismus (etwa mit dem Volkswagen) ebenso wie in der Präsidialdemokratie der USA. Das neoliberale Modell der Ökonomie hatte mit der Krise 2008 ff. – außer in der uniformen deutschen, universitären Volkswirtschaftslehre – seinen Zenit überschritten. Die Finanzkrise entwickelte sich zu einer «organischen Krise» des Kapitalismus. Weil die Zustimmung zum neoliberalen Akkumulationsmodell schwand, geriet die herrschende Deutung und Legitimation in Verruf, kurz: Die Krise wurde zur Hegemoniekrise.[12] Es begann die Suche nach einem neuen Gesicht des Kapitalismus, und dieses Gesicht ist mit Trump ausgesprochen hässlich geraten. Das neue Gesicht begegnet aufmerksamen Beobachtern nicht nur in den USA, sondern hat einen weltweiten Siegeszug angetreten: von Lettland über Polen, Italien und Ungarn bis nach Brasilien. Ein Rollback bei den Freiheitsrechten, der gesellschaftlichen Liberalität insgesamt, ein illiberales Staats- und Gesellschaftsverständnis wird verbunden mit einer nationalistisch ausgerichteten Wirtschaftspolitik, die mit dem Slogan «America first» auf den Punkt gebracht wurde. Die USA setzen zu diesem Zweck auf protektionistische Maßnahmen, aber auch auf die Subventionierung der heimischen Industrie,[13] wobei der alte Mann im weißen Haus offenbar eher auf alte Industrien setzt. Das neoliberale Dogma von freien, globalen Märkten, das jede Wettbewerbsverzerrung verteufelte, ist vom Tisch – der Washington-Consensus ist aufgekündigt.

Die Industriepolitik, die Altmaier vorschlägt, modelliert ein anderes Gesicht des Kapitalismus, könnte die liberalere Variante der Aufkündigung des neoliberalen Marktglaubens werden oder eben die Variante einer exportorientierten Nation, für welche eine Schließung der Märkte eine suboptimale Strategie ist. Altmaier erklärt, dass Industriepolitik nichts vollständig Neues ist, sondern bis in die 1970er Jahre eine etablierte Form der Wirtschaftspolitik und -steuerung war. Die Gründung von Airbus im Jahre 1969 markiert gleichsam einen Höhepunkt dieser Politik. Aber die neue Industriepolitik müsse umfassender sein, sie müsse ein Gesamtkonzept verfolgen, mit dem zukünftige Technologien gefördert und die Konkurrenzfähigkeit bei neuen Technologien (wieder) hergestellt werden kann. Diese strategische Dimension der Wirtschaftspolitik und -steuerung unterscheidet das Konzept des Wirtschaftsministeriums von Instrumenten, die in der EU als Wirtschaftspolitik firmieren.

Kritik der EU-Industriepolitik

Wichtige Meilensteine der EU Industriepolitik sind u.a. die «Strategie Europa 2020» aus dem Jahr 2010 und der so genannte Juncker-Plan, die «Investitionsoffensive für Europa», von 2014. Pianta, Lucchese, Nascia haben 2016 im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine umfassende Analyse der EU Industriepolitik vorgelegt.[14] Sie kritisieren vor allem, dass die EU Industriepolitik in der Regel horizontal wirke, was bedeutet, dass sie keine «Wettbewerbsverzerrungen» produzieren dürfe. Der «horizontale Ansatz» wird dadurch charakterisiert, dass er «alle Wirtschaftstätigkeiten und Unternehmen gleichbehandelt, um ‹Eingriffe› in den Markt zu vermeiden.»[15] Er würde «die Entscheidungsmacht über die Entwicklung der europäischen Wirtschaft weitgehend dem Markt überlassen (das heißt den mächtigsten Unternehmen).»[16] Die Umsetzung des Juncker-Plans wird auch vom Europäischen Rechnungshof kritisiert. Es gäbe jede Menge Mitnahme-Effekte und jedes dritte Projekt hätte auch ohne den Juncker-Plan finanziert werden können, heißt es in einem Sonderbericht. Der Rechnungshof stellte weiter fest, dass die Förderung durch den «Europäischen Fonds für strategische Investitionen» (EFSI), die zentrale Säule des Juncker-Plans, oftmals lediglich andere Finanzierungen der Europäischen Investitionsbank und der EU ersetzt habe. Zudem seien die Schätzungen der zusätzlich durch den EFSI eingeworbenen Investitionen überhöht gewesen, und die meisten Investitionen werden in einigen größeren EU-15-Mitgliedstaaten mit gut etablierten nationalen Förderbanken getätigt – nicht zuletzt, weil alle Projekte von den Staaten kofinanziert werden müssen. Pianta, Lucchese und Nascia kritisieren weiter, dass das Volumen der geschaffenen Fonds zu klein sei, um wirksam werden zu können. Das sei u.a. darauf zurückzuführen, dass die Programme durch eine Umverteilung der Mittel aus anderen Töpfen finanziert werden, also Gelder zwischen verschiedenen Fonds hin- und her geschoben werden oder Ausgaben vorgezogen werden.

Die Verträge als Grenze der Wirtschafts- und Industriepolitik in der EU

Der Grund, warum die EU-Investitionsprogramme dem horizontalen Ansatz folgen und keine gezielten Interventionen vornehmen, ist ebenfalls in den Verträgen zu suchen. Dabei ist es möglicherweise zweitrangig, dass die Verträge die Union gleich mehrfach auf die «offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb» (Art. 119 AEUV) festlegen. Wichtiger ist, dass die Ermächtigung der EU, Industriepolitik zu betreiben, unter den Vorbehalt formuliert ist, dass die Union keine Maßnahme einführen darf, die zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte (Art, 173 III AEUV). Das grundsätzliche Beihilfen- oder Subventionsverbot, das in den Art. 107 ff. AEUV formuliert ist und in vielen Einzelvorschriften zu den Politikfeldern wiederholt und konkretisiert wird, verstärkt das Verbot von Wettbewerbsverzerrungen. Verboten sind Beihilfen «gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen.» Was eine Beihilfe ist, hat der EuGH weit ausgelegt und beispielsweise auch staatliche Bürgschaften an ein Unternehmen dem Verbot subsumiert. Die Kommission stellte die Deutschen Sparkassen deshalb infrage. Allein die Tatsache, dass sich diese in öffentlicher Hand befinden, wertete die Kommission als unzulässige Beihilfe.[17] Diese Auffassung der Kommission wurde im politischen Geschacher um die so genannte Schuldenkrise kleingearbeitet und führte zur Genehmigung von Beihilfen mit Umstrukturierungsauflagen. Vom Beihilfeverbot gibt es selbstverständlich Ausnahmen, die von der Kommission genehmigt werden können und müssen. Aber das Subventionsverbot bleibt für eine strategische Industriepolitik ein Hindernis.

Altmaier sieht das Problem und verlangt, diese Bestimmungen des Vertrages auf den Prüfstand zu stellen. So heißt es im Strategiepapier des BMWi: «Soweit der Staat Eingriffe, die aus übergeordneten politischen Gründen erforderlich sind, in ihren wettbewerbsschädlichen Wirkungen ausgleicht, ist dies keine Subvention, sondern die Wiederherstellung von Vergleichbarkeit im Wettbewerb. Dies muss im Einklang mit EU-Recht möglich sein.»[18] So wird in der Strategie gefordert: «Überprüfung und ggf. Reform des geltenden Beihilfe- und Wettbewerbsrechts. Ermöglichung von zeitlich begrenzten Beihilfen in Bereichen von Innovationen mit hoch innovativen Basiswirkungen, in denen das Erlangen von Wettbewerbsfähigkeit im volkswirtschaftlichen Interesse geboten ist. Erleichterung von Unternehmenszusammenschlüssen in Bereichen, in denen Größe eine unabdingbare Voraussetzung für unternehmerischen Erfolg ist.»[19]

Ähnliches gilt vom Kartellrecht, das Altmaier schon bei der geplanten Fusion von Siemens und Alstrom infrage stellte. Die Fusion ist schließlich an kartellrechtlichen Bedenken der Kommission gescheitert. Grundsätzlich hat auch das EU-Kartellrecht seine Grundlage im EU-Primärrecht. Die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften der Art. 101 und 102 AEUV verbieten horizontale und vertikale Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken. Diese Generalklausel wird konkretisiert; so sind die mittelbare oder unmittelbare Festsetzung von An- oder Verkaufspreisen oder sonstiger Geschäftsbedingungen, die Einschränkung von Erzeugung, Absatz, technischer Entwicklung oder Investitionen, Gebietsabsprachen sowie kollektive Diskriminierungen und Kopplungsverträge verboten. Die Strategie 2030 erklärt «size matters», es gehe darum, «Europäische Champions» zu schaffen, wozu das EU-Kartellrecht auf den Prüfstand gestellt werden müsse: «Oft scheitern deutsche oder europäische Fusionen, die mit Blick auf den Weltmarkt sinnvoll und notwendig sind, an der Fokussierung auf nationale und regionale Märkte im geltenden Recht. Das europäische und deutsche Wettbewerbsrecht müssen überprüft und gegebenenfalls geändert werden, damit für deutsche und europäische Unternehmen ein internationaler Wettbewerb ‹auf Augenhöhe› möglich bleibt.»[20]

Überlegungen zur Anschlussfähigkeit

Das Konzept Industriepolitik 2030 lässt sich lesen als Versuch, eine Alternative zur protektionistischen «our nation first»-Politik zu formulieren, die mit einem ausgrenzenden, rassistischen und deshalb zwangsläufig autoritären oder zumindest illiberalen Kurs nach innen verbunden sein muss. Deshalb folgt das Konzept trotzdem der Logik des globalen Wettbewerbs und des globalen Kampfes um Standort- und Wettbewerbsvorteile. Die «Nationale Industriestrategie 2030» ist eine nationale Strategie, welche die EU zwar einbezieht, aber eher als Hindernis denn als Raum sieht, in dem diese Strategie anzuwenden ist. Zwar wird auch eine Re-Industrialisierung der EU auf 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Ziel aus dem Juncker-Plan übernommen, aber im Zentrum steht die deutsche Wirtschaft, die konkurrenzfähig bleiben oder werden soll. Das deutsche Interesse an der EU wird betont, aber «das deutsche Interesse» wird regelmäßig als das Interesse der deutschen Wirtschaft konnotiert, welche die Nachbarstaaten - zugespitzt - als Absatzmarkt, aber keinesfalls als Konkurrenten in der Produktion braucht. Es handelt sich um eine deutsche Strategie im Interesse der «deutschen Wirtschaft».[21] Auch die Idee, «Europäische Champions» zu schaffen, ist nicht emanzipatorisch, schafft sie doch weitere oder noch größere Großkonzerne, die in der Regel mit großem politischen Einfluss verbunden sind. «Too big to fail» muss ja keineswegs nur für Banken gelten; über Strukturen oder Mechanismen, wie die Großkonzerne jenseits des - eh wenig effektiven - Kartellrechts kontrolliert werden sollen, schweigt die Industriestrategie 2030 sich aus.

Aber das Konzept bezieht Stellung in einem Diskurs innerhalb des Mainstreams oder – wie es die Gramscianer formulieren würden – innerhalb des «herrschenden Blocks», der von links nicht schlicht ignoriert werden kann, weil es Anknüpfungspunkte auch für emanzipatorische Alternativen gibt. Pianta, Lucchese und Nascia haben in ihrer Studie linke Anforderungen an eine europäische Industriepolitik formuliert, die von Tom Strohschneider im OXI-Blog zusammengefasst präsentiert wurden, als Altmaier das Papier des BMWI vorstellte. Zentraler Punkt ist, dass es um eine Demokratisierung gehen muss, also um eine gesellschaftliche Bestimmung der Frage, was in Zukunft wo und wann produziert werden soll, das heißt in welchen Bereichen eine strategische Industriepolitik stattfinden soll. Die Industriestrategie 2030 hat den Schwerpunkt eher in Forschung und Entwicklung, aber Ziel ist es natürlich, entsprechende Produktionskapazitäten zu schaffen. Das allerdings müsste bei einer solchen Strategie sichergestellt werden, nämlich zu verhindern, dass Subventionen dankend entgegengenommen werden, aber die Produktion nicht oder anderswo stattfindet.

Vorgesehen ist in der Industriestrategie 2030 die Einrichtung einer «nationalen Beteiligungsfazilität», was zu verstehen ist als öffentlicher Fonds, der in Unternehmen investiert, um entsprechend Einfluss zu gewinnen. Dem Bundestag soll berichtet werden; ob er aber Kontrollrechte hat und Ziele bestimmen kann, bleibt offen. Die nationale Beteiligungsfazilität lässt sich dennoch als Element zu einer Demokratisierung der Industrie und Wirtschaftspolitik verstehen. Allerdings geht die Forderung nach einer Demokratisierung leicht von den Lippen, ist im Kern aber schwierig zu konkretisieren. Die jüngsten Formen von demokratischer Partizipation liefen oft auf das Gegenteil von gleicher Beteiligung an allgemein wirkenden Beschlüssen hinaus.[22] Geschaffen wurden Institutionen, die eine privilegierte Partizipation der Stakeholder vorsahen, was letztlich auf eine Formalisierung der Lobbyarbeit hinauslief – man denke etwa an EU-Wasser- oder deutsche Hochschulräte. Die Rückbindung an parlamentarische Entscheidungen ist mit dem Problem konfrontiert, dass die Wettbewerbslogik den Volksvertretern gegenwärtig mehr oder weniger in Fleisch und Blut übergegangen ist und die Ermittlung von allgemeinen Bedarfen so schwierig ist. Ähnliches gilt von der Vertretung der Beschäftigten, die sich nur begrenzt aus der Rolle des Co-Managers befreien und allgemeine Interessen in den Vordergrund stellen können. Die LINKE macht in ihrem Europawahlprogramm durchaus weiter reichende, aber skizzenhaft bleibende Vorschläge, nämlich: «Auf nationalstaatlicher und regionaler Ebene sollen Vertreter*innen aus Politik, der Gewerkschaften, Unternehmen, Wissenschaft, Umweltverbänden und Zivilgesellschaft in diesem Rahmen industriepolitische Zukunftspläne aufstellen.»[23] Und: «Wir brauchen demokratische Foren wie regionale Wirtschafts- und Sozialräte oder auch Public Equity-Fonds.»[24]

Die Industriestrategie 2030 benennt - wie gezeigt - die Probleme, die bei ihrer Umsetzung mit dem EU-Recht auftreten und fordert Änderungen. Das ist kein «Neustart der EU», aber der Anfang einer Umprogrammierung ihres genetischen Kerns, der marktradikalen Ideologie. Ein Aufweichen der Wettbewerbslogik muss in einer strategischen Industriepolitik notwendigerweise angelegt sein. Das sollte Anknüpfungspunkt auch für linke Diskussionen sein. Die Strategie, wie die organische Krise überwunden werden kann, steht noch keineswegs fest, denn auch die Trumpsche Variante produziert ökonomische Probleme,[25] welche die Legitimationskrise[26] mittelfristig verschärfen könnten. Genau deshalb gilt es, die Differenzen und Widersprüche im Mainstream zu beachten und auszuloten, wo Anknüpfungspunkte für progressive Politik existieren. Denn eines ist auch klar: Eine progressive, demokratische Industriepolitik beschränkt auf den Nationalstaat bleibt in einer globalisierten Welt unzureichend, denn die strukturellen Zwänge der Konkurrenz bleiben bestehen, und diese Variante ist zweitens durch den autoritären Rechtspopulismus besetzt.


[1]     Kanzlerin Merkel fordert neue Industriestrategie, in: Süddeutsche Zeitung, 26.02.2019.

[2]     Fried, Nico: Einigkeit und Eruptionen, in: Süddeutsche Zeitung, 27.02.2019.

[3]     BMWi, Nationale Industriestrategie 2030 - Strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik, Februar 2019, S. 9 (der missglückte Satzbau stammt aus dem Original).

[4]     Vgl. Greenwald, Bruce/Stiglitz, Joseph A.: Industrial policies, the creation of a learning society and economic development, in: Stiglitz, Joseph A./Lin Yifu, Justin (Hrsg.): The Industrial Policy Revolution I. The Role of Government Beyond Ideology, Basingstoke 2013, S. 43 ff; Reinstaller, Andreas, Hölzl, Werner, Kutsam, Johannes, Schmid, Christian: The development of productive structures of EU Member States and their international competitiveness, WIFO Research Study, Wien 2013.

[5]     BMWi, a.a.O., S. 8.

[6]     BMWi, a.a.O., S. 8.

[7]     BMWi, a.a.O., S. 14.

[8]     BMWi, a.a.O., S. 2.

[9]     BMWi, a.a.O., S. 3.

[10]    BMWi, a.a.O., S. 2.

[11]    BMWi, a.a.O., S. 13.

[12]    Vgl. ausführlich: Deppe, Frank: Überlegungen zum Charakter der politischen Krise, in: Z – Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 117, März 2019, S. 15 ff.

[13]    Das geht gelegentlich auch nach hinten los; im nachstehenden Artikel ein Beispiel, bei dem Trump ein Unternehmen subventioniert, um die Fabrik und Jobs im Land zu halten. Das Unternehmen investiert jedoch in Automatisierung, was zu Streichungen von Jobs führt.

[14]    Pianta, Mario, Lucchese, Matteo, Nascia, Leopoldo: Industriepolitik in Europa – Welchen Spielraum bietet der aktuelle Rechtsrahmen der EU für eine progressive Industriepolitik, Brüssel 2016,

[15]    a.a.O., S. 34.

[16]    a.a.O., S. 29.

[17]    Beschluss der Kommission vom 29.9.2010, C 32/2009.

[18]    BMWi, a.a.O., S. 14.

[19]    BMWi, a.a.O., S. 15.

[20]    BMWi, a.a.O., S. 12.

[21]    Ohne den Streit nun lostreten zu wollen, ob es so etwas heute im Bereich der Großkonzerne noch gibt.

[22]    Vgl. zum Begriff der Demokratie Fisahn, Andreas: Die Saat des Kadmos, Münster 2006, S. 301 ff

[23]    Wahlprogramm der Partei DIE LINKE zur Europawahl 2019, S. 28

[24]    a.a.O.

[25]    Stiglitz, Joseph A.: Ein überaus trumpistisches Jahr, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2019, S. 41 f.

[26]    Der Handelskrieg mit China führt beispielsweise dazu, dass US-Farmer, die zur Wählerbasis Trumps gehören, ihre Soja-Bohnen nicht mehr loswerden.