Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - Kampf gegen Rechts - Selber machen «Was interessiert mich denn Cottbus?»

Dynamiken rechter Formierung in Südbrandenburg: Der Verein Zukunft Heimat

Information

Erschienen

Mai 2019

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Zugehörige Dateien

«Was interessiert mich denn Cottbus?»

Lassen Sie sich von dem etwas zweideutigen Titel dieser Broschüre nicht irritieren. Die Zeile «Was interessiert mich denn Cottbus» stammt aus einem Gedicht des DDR-Lyrikers Adolf Endler. In der «Sunlight-Serenade»1, einer Art poetischen Blues‘, äußert sich der Dichter scheinbar verächtlich über die Lausitzmetropole und schiebt noch die regionale Ergänzung nach: «Was interessiert mich denn das Lausitzer Land». Aus dem Gesamtkontext wird jedoch deutlich, dass der Missmut nicht der Stadt geschuldet ist, sondern einem Liebeskummer.

«Es ist ein kalter Januartag 2018 in der südbrandenburgischen Stadt Cottbus. Etwa 1.500 Menschen haben sich nach einem Aufruf des Vereins Zukunft Heimat an diesem Samstagmittag vor dem Einkaufszentrum Blechen-Carré in der Innenstadt versammelt. Viele Bürger_innen sind gekommen, aber auch stadtbekannte Neonazis und Hooligans zeigen Präsenz. Einige Personen halten Schilder, auf denen ‹Schnauze voll›, ‹Faxen dicke› oder ‹Grenzen dicht› steht, andere präsentieren die blauen Banner der Partei Alternative für Deutschland (AfD). (...) Aus den Lautsprechern eines vorbeifahrenden Feuerwehrautos knarzt es: ‹Wir grüßen die Patrioten in Cottbus!› Jubel in der Menge.»

Cottbus – für viele ist diese Stadt verknüpft mit der geflüchteten-feindlichen Bürgerbewegung Zukunft Heimat und mit dem gesellschaftlichen und atmosphärischen Rechtsruck, der sich dort in den letzten anderthalb Jahren vollzogen hat. Cottbus ist aber auch das «Tor zum Spreewald». Und aus eben diesem kam jene Bewegung hinter Christoph Berndt in die Stadt: aus Zützen bei Golßen. Die Dynamiken, die sich hier entwickelten, wir verfolgten sie mit Sorge.

Nach dem Sommer 2015 kamen Zehntausende Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen krisengebeutelten Teilen der Welt erschöpft nach Europa und nach Deutschland. Überall im Land entstanden Willkommensinitiativen – auch in Brandenburg. Gleichzeitig stieg die Zahl rechter und rassistischer Anschläge und Angriffe auf Geflüchtete und ihre Unterkünfte in einem Maße an, wie wir es in Deutschland viele Jahre nicht mehr gesehen hatten. Das betrifft beileibe nicht nur Cottbus oder Brandenburg, sondern das gesamte Bundesgebiet.

Warum also eine Broschüre zu den Ereignissen in Cottbus, wo es doch in den zurückliegenden Jahren auch in Bautzen, in Wurzen, in Köthen, Chemnitz, Mainstockach und Dortmund zu ähnlichen Entwicklungen gekommen war? In Cottbus hat sich das alles geradezu modellhaft abgespielt: Die Entstehung einer in Teilen rassistischen, in Teilen auch neonazistischen Bewegung «besorgter Bürger»; ihr Zusammengehen mit einschlägigen Protagonist_innen einer neurechten Intelligenzija wie dem Institut für Staatspolitik; das Auftauchen gut organisierter und «alteingesessener» Neonazis; die tatkräftige Unterstützung von Zukunft Heimat sowohl durch Mitglieder der völkischen Identitären Bewegung oder des rechten Kampagnennetzwerkes Ein Prozent als auch durch die in allen Umfragen durch die Decke gehende und unterdessen in allen deutschen Landesparlamenten und im Bundestag sitzende autoritär-nationalistische AfD.

Doch zum Panorama der Cottbuser Erzählung gehört noch mehr: Die oftmals uneindeutigen Handlungsweisen städtischer Verantwortlicher und Vertreter_innen von Landesregierung und -verwaltung; das zum Teil hochproblematische Agieren und Sprechen von Medienvertreter_innen in den Konflikten seit dem Auftauchen von Zukunft Heimat; und auch die zuweilen hilflosen Reaktionen der Zivilgesellschaft.

Und dazu gehört darüber hinaus ein ganz wesentliches Merkmal dieses und vergleichbarer Konflikte im ganzen Land: Es wird immer viel und oft extrem klischeebehaftet und abwertend über Geflüchtete gesprochen und sehr selten mit ihnen. Dabei sollte es doch nicht nur aus unserer, sondern auch aus journalistischer Sicht ein Anliegen sein, gerade die Betroffenen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, rassistischer Beschimpfungen und rechter Gewalt zu Wort kommen zu lassen.

Es geht uns in keiner Weise darum, die Stadt Cottbus zu schmähen, eine Stadt, in der es auch eine aktive und lebendige demokratisch gesinnte Zivilgesellschaft gibt, die wiederum mit den zahlreichen ausländischen Studierenden, den Geflüchteten und anderen Migrant_innen im Gespräch ist, die Gesicht zeigt gegen menschenfeindliche Ideologien, die sich um Geflüchtete kümmert, sie auch professionell berät und ihnen Schutz, Schirm und Solidarität gegen rechte Angriffe bietet. Vielmehr geht es uns darum zu verstehen, wie sich die Situation in Cottbus auf diese Weise entwickeln konnte – auch um im besten Fall Dynamiken in anderen Orten zu erkennen und ihnen begegnen zu können.

Gleichwohl gibt es natürlich immer Faktoren, die eine Analyse nicht ohne weiteres übertragbar machen – die Ungewissheit, wie es in der Lausitz in der Zeit nach der Braunkohle weitergehen wird zum Beispiel oder eine politische Kultur, in der auch 30 Jahre nach der Wende Demokratie, Autorität und Vertrauen in den Staat eine andere Rolle spielen als in einer bayerischen Kleinstadt oder in einer norddeutschen Metropole. Und trotzdem kann der Blick auf Cottbus verstehen helfen.

Bundesweit, europaweit und global beobachten wir den Vormarsch inhumaner, rechter Ideologien, wir erleben die Entstehung neuer ultranationalistischer Bewegungen und die Durchdringung der betroffenen Gesellschaften mit einem reaktionären Bekenntniseifer, der die Grenzen des Sagbaren immer weiter nach rechts verschiebt. Dagegen vorzugehen, eine humane Orientierung stark zu machen, einen verbreiteten komplizenhaften Konsens zu stören und eine offene Gesellschaft ohne völkisch-nationalistische Ausschlüsse durchzusetzen, muss unser aller Verantwortung und Ziel sein.

Auch deshalb interessiert uns Cottbus sehr wohl, und zwar sehr.

Wir wünschen Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre!
 

Silke Veth, Direktorin der Akademie für Politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V.
Siegfried-Thomas Wisch, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Mittelmark-Brandenburg und Vorsitzender des Aktionsbündnisses Brandenburg
 

Diese Broschüre ist entstanden in Kooperation mit dem Aktionsbündnis Brandenburg gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit.
 

Inhalt:
  • «Wir grüßen die Patrioten in Cottbus!»
  • Anfänge im Unterspreewald
  • «Zeigen, dass es Grenzen gibt» – rechte Mobilisierungen ab 2015
  • Rechte Dominanzkultur in der Lausitz
  • Der Gewaltdiskurs um junge Geflüchtete in Cottbus
  • In die Großstadt – Zukunft Heimat in Cottbus
  • «Eine fröhliche Regatta» – wie das Netzwerk funktioniert
  • «80 Prozent der Menschen sind gegen uns»
  • Cottbus unerhört – mediale Verirrungen
  • Zuzugsstopp!? Die Landespolitik reagiert
  • Leben ohne Hass
  • Wurzeln schlagen oder auf zu neuen Ufern?
  • «Als ob wir nicht in der Lage sind, unsere Probleme selbst zu lösen» – die Reaktionen der Stadt
  • «Eine direkte Antwort gibt es nicht»
  • Fazit
  • Literatur
  • Links
  • Zeitleiste

Zur Broschüre


Weiterführende Links: