Publikation Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Libanon / Syrien / Irak - Globale Solidarität Nicht monolithisch

Reflexionen über die Kommunistische Internationale in der Levante

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Erschienen

Juli 2019

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Erstausgabe der Zeitschrift “al-Ansaniyya” vom 15. Mai 1925.
Erstausgabe der Zeitschrift “al-Ansaniyya” vom 15. Mai 1925. Die Zeitschrift war das Sprachrohr der libanesischen Volkspartei, dem Vorgänger der Kommunistischen Partei von Syrien und Libanon. Centre des Archives Nationales, Beirut

Im Sommer 1936 kam es im Hauptquartier der Komintern in Moskau zu einem Disput zwischen Najati Sidqi, einem palästinensischen Araber und Mitglied der Kommunistischen Partei Palästinas, und Khalid Bagdash, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Syriens und des Libanon.[1] Das Streitgespräch zwischen Bagdash und Sidqi drehte sich um den Nutzen des Nationalismus für den kommunistischen Kampf. Sidqi argumentierte, der Nationalismus könne die werktätigen arabischen Massen vereinen und ihnen dabei helfen, sich von Fremdbestimmung und imperialer Herrschaft zu befreien. Bagdash hielt dagegen, Nationalismus sei reaktionär und stehe der Entwicklung des Klassenbewusstseins und der kommunistischen Revolution in der arabischen Welt im Weg.

In the Komintern-Diskussion über die Frage des Nationalismus, die bereits seit den 1920er Jahren lief, teilte Mao Zedong Sidqis Ansicht und sah im Nationalismus eine wichtige Waffe gegen den Kolonialismus. Dimitroff wiederum war anderer Auffassung. Er entschied, den jungen arabischen Kommunisten auf eine «Bildungsreise» nach Taschkent zu schicken – aus nächster Nähe zu sehen, wie die Sowjetunion mit nationalen Identitäten umging, würde ihn schon aus seiner nationalistischen Träumerei wecken.[2]

Die Szene ist sehr vielsagend – Bagdash und Sidqi streiten über Nationalismus und arabische Einheit; Mao und Dimitroff entzweien sich über die Themen Nationalismus und Antikolonialismus; und Dimitroff ergreift die Gelegenheit, um dem jungen arabischen Kommunisten eine «Lektion» zu erteilen. Was in dieser Szene zum Vorschein kommt, ist eine Reihe von Widersprüchen, die für die kurzlebige Kommunistische Internationale bezeichnend waren.

Hundert Jahre nach ihrer Gründung gedenken wir der Kommunistischen Internationalen – eine Organisation, die mit dem Versprechen antrat, «das Menschenrecht zu erkämpfen», wie es im Lied „Die Internationale“ heißt, und zwar kraft der «Weltidee einer kommunistischen Partei».[3] Doch diese Idee traf auf bestimmte Lebensrealitäten und Trennlinien, die nicht nur entlang sozialer Klassen verliefen, sondern auch entlang von Konstrukten wie „Rasse“, Geschlecht und nationale Identität. Die Komintern war ein Experiment, dessen eigentlicher Anspruch darin lag, Solidaritäten zu knüpfen, die auf die Überwindung solcher Unterschiede abzielten. Dass sie darin gescheitert ist, dass sie nur wenige Jahre nach ihrer Gründung aufgelöst wurde, dass ihre kurze Lebensdauer von verschiedenen internen Spaltungen geprägt war: Sollte all das maßgeblich dafür sein, wie wir die Komintern heute – 100 Jahre nach ihrer Gründung – betrachten und bewerten? Sollten unsere Erinnerung und das Erbe der Komintern an die Binaritäten gekoppelt sein, die sie während ihres Bestehens belastet haben – seien es Nationalismus/Internationalismus, Ost/West, Kolonisatoren/Kolonisierte, angestammt bzw. einheimisch/importiert bzw. fremd, oder Erfolg/Scheitern? Was noch wichtiger ist: Wenn wir diese Unterscheidungen infrage stellen, was können wir daraus für die Gegenwart lernen?

Die folgenden Reflexionen über die Dritte Internationale und ihre Beziehungen zur Levante[4] sollen dieses Geschichtskapitel keineswegs umfassend darstellen. Mir geht es vielmehr darum, die binären Unterscheidungen, die der Geschichte der Komintern eigen sind, genauer zu untersuchen und ihre «Gegensätzlichkeit» zu hinterfragen. Vielleicht kann man diesen binären Unterscheidungen nur dadurch entgehen, indem man die Wechselwirkung zwischen den vermeintlichen Gegensätzen beleuchtet und die Grenze problematisiert, die sie zu trennen scheint. Denn zumindest für einige, die damals bei der Komintern mitgewirkt haben, verliefen diese Trennlinien nicht so eindeutig.[5] Kommunisten wie Sidqi und Bagdash jedenfalls haben die Linien, entlang derer die Grenzen zu verlaufen schienen, unentwegt angefochten.

«Die Völker des Ostens»: Die Verschränkung von Kapitalismus und Imperialismus

Im Zuge der imperialistischen Expansion im 19. und 20. Jahrhundert verleibte sich die moderne kapitalistische Wirtschaftsordnung auch Semi-Peripherie-Regionen wie die Levante ein. Der Übergang der Levante in die Moderne war also eine Begegnung mit der Verschränkung von Kapitalismus und Imperialismus. Auch die Komintern erkannte, wie bedeutend die koloniale Frage und ihre Überschneidungspunkte mit dem Kapitalismus waren, und wandte sich in den frühen 1920er Jahren, nach der gescheiterten Revolution in Europa, dem «Osten» zu. Dass die Komintern mit der Levante und wahrscheinlich auch mit dem Rest der kolonisierten Welt in Kontakt kam, unterläuft also von Anfang an den klassischen Deutungsrahmen des historischen Materialismus. Wladimir I. Lenin sprach folglich nicht nur von der Notwendigkeit, sondern auch von der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die «Völker des Ostens erwachen».[6] Diese Verantwortung – mitsamt ihrem Beiklang von zivilisatorischem Paternalismus – brachte die Komintern dann als Grenzposten zwischen «dem Westen und dem Osten» in Stellung. Zudem stellte sie die Komintern im Kontext der zivilisatorischen Hierarchie über den «Osten».

Für die levantinische Bevölkerung war die die aufstrebende Sowjetunion nicht Teil des «Westens», denn letzterer stand für Imperialismus und die Kolonisierung ihrer Heimatländer. Die Sowjetunion verkörperte dagegen die Erfolgsgeschichte des «Ostens» – einem Osten, der sich modernisieren und vor allem auch gegen westliches Militär behaupten konnte, das die Grenzen der Levante und der restlichen Welt bedrohte.[7] Wesentlich für das binäre Modell Osten/Westen waren also auch die Unterscheidungen Kolonisator/Kolonisierte und Unterdrücker/Unterdrückte. Die Notwendigkeit, den antikolonialen Kampf in «den unterentwickelten Ländern und Kolonien» des Ostens zu unterstützen, war ein vorrangiges Anliegen der Komintern. Ihr Internationalismus war daher auch eng mit dem Kampf gegen den Imperialismus verwoben. So gesehen leuchtet ein, dass die Komintern im Jahr 1920 den Kongress der Völker des Ostens organisierte und ihre eigene Ost-Abteilung aufbaute. Es erklärt auch, warum die Komintern die 1927 in Berlin gegründete Antiimperialistische Liga unterstützte und warum letztere schließlich in der Komintern aufging – man wollte ein Gegenstück zu ihrem westlichen Pendant schaffen, dem Völkerbund.[8] Mit der Gründung der Kommunistischen Universität der Werktätigen des Ostens (KUTW) errichtete die Komintern dann eine der tragenden Säulen ihrer «Ost-Infrastruktur».[9]

Najati Sidqi und Khalid Bagdash waren beide Absolventen der KUTW. Wahrscheinlich haben beide dieselben Kurse zum Marxismus-Leninismus und zum Historischen Materialismus besucht, die damals neben anderen Veranstaltungen an der KUTW angeboten wurden. Vielleicht sind sie auf den Uni-Fluren sogar Nâzim Hikmet, Vijaya Lakshmi Pandit und anderen Persönlichkeiten begegnet, die ebenfalls die Hochschule besuchten. Ihre gegenläufigen Ansichten zur nationalen Frage machen jedenfalls zwei Dinge deutlich: Erstens scheiterte die KUTW und auch die Komintern daran, eine geschlossene Haltung zu dem Thema einzunehmen, was letztlich ein Hinweis darauf ist, dass auch die kommunistische Führungsriege selbst bei dem Thema uneinig war. Zweitens zeugen die Unstimmigkeiten davon, dass sich im Falle der beiden Kommunisten – der eine aus Palästina, der andere aus Syrien – auch sehr unterschiedliche Biografien und Lebenserfahrungen gegenüberstanden.

Arabische kommunistische Parteien und die nationale Frage

Najati Sidqi trat der Kommunistischen Partei Palästinas (KPP) im Jahr 1924 bei – zu einem Zeitpunkt, als die Partei einen von der Komintern angeordneten Prozess der «Arabisierung» durchlief. Die KPP war 1923 aus Abspaltungen sozialistisch-zionistischer Gruppen hervorgegangen, vor allem der Sozialistischen Arbeiterpartei (MPS).[10] Um nicht in den Verdacht zu geraten, man unterstütze die Balfour-Deklaration und das zionistische Projekt in Palästina, erkannte die Komintern die KPP im Jahr 1924 widerwillig an. Ihre Aufnahme in die Dritte Internationale war auch daran geknüpft, dass die KPP ihrem zionistischen Erbe abschwören und die arabische «nationale» Frage anerkennen sollte. Die Komintern forderte unablässig, dass die KPP zu einer Regionalmacht aufsteige, die die Interessen der einheimischen arabischen Bevölkerung vertreten und das arabische Proletariat gegen den Zionismus und die britischen Besatzungskräfte verteidigen würde. Für Kommunisten wie Najati Sidqi, die der KPP in ihrer «Arabisierungsphase» beitraten, blieb die «Nation» ein wichtiger Bezugsrahmen, denn sie stellte ein Mittel zur Befreiung von kolonialistischer und kapitalistischer Unterdrückung dar, die in Form des zionistischen Projekts in Palästina konkrete Gestalt annahm. Dies wiederum erklärt die Schwierigkeiten der KPP im Umgang mit verschiedenen wichtige Begebenheiten in der palästinensischen Geschichte, insbesondere mit den Ereignissen des Jahres 1929, dem arabischen Aufstand 1936 und der Teilung Palästinas 1948.

Die nationale und koloniale Frage spielte ebenfalls eine zentrale Rolle für die Geschichte der Kommunistischen Partei Syriens und des Libanon. Äußerst aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Perspektive, mit der einer der Parteigründer im Nachhinein auf den Kommunismus und die Sowjetunion blickte. In einem Interview aus dem Jahr 1981 erklärte Yusuf Yazbik seine damalige Begeisterung für den Kommunismus damit, dass er in ihm ein Konzept sah, das «jegliches Übel – wie etwa Armut, Ignoranz, Ausbeutung und Korruption – aus der Welt» schaffen würde.[11] Zudem erklärte er, dass man die Anziehungskraft der Sowjetunion «vor dem Hintergrund der frühen 1920er Jahre verstehen muss, als nämlich der Westen die arabischen Länder besetzt hatte und die Sowjetunion als revolutionärer Staat galt, der der restlichen unterdrückten Welt seine helfende Hand reicht. Wir – als junge Intellektuelle, die von unseren gesellschaftlichen Verhältnissen enttäuscht waren – nahmen die ausgestreckte Hand mit Begeisterung an.»[12]

Die Gründung der Kommunistischen Partei Syriens und des Libanon (KPSL) im Jahr 1925 fiel mit der Großen Syrischen Revolution zusammen, einem der wichtigsten Aufstände gegen die Besetzung arabischer Länder durch Westmächte in der Mandatsperiode. Die Unterstützung der Syrischen Revolution bestimmte die erste Öffentlichkeitskampagne der syrischen und libanesischen Kommunistinnen und Kommunisten, und in ihrer ersten öffentlichen Stellungnahme forderte die Partei die Unabhängigkeit Syriens und letztlich auch des Libanon.[13] Syrische Revolution und nationaler Befreiungskampf führten auch zur Zusammenarbeit zwischen libanesischen bzw. syrischen Kommunisten und der Kommunistischen Partei Palästinas sowie zwischen kommunistischen und nicht-kommunistischen Revolutionärinnen und Revolutionären.[14] Infolge der Beteiligung der Kommunisten an der Syrischen Revolution gingen die französischen Mandatskräfte ähnlich hart mit ihnen ins Gericht wie mit den syrischen Revolutionären. Beiruts Gefängnisse waren voll mit KPSL- und KPP-Führungskadern, und an den Wänden der Gefängniszellen prangten Parolen wie «Proletarier aller Länder, vereinigt euch» und «Lang lebe die syrische Unabhängigkeit». Die Inhaftierung der kommunistischen Kader und der Nationalisten währte bis 1928.

Nun könnte man meinen, diese Kooperationen und sich überlagernden Interessen wären an die «Einheitsfront-Strategie» der Komintern angelehnt gewesen. Doch erstens ist es wichtig zu beachten, dass die KPSL erst 1928 in die Komintern aufgenommen wurde. Zweitens kam es bei diesen kommunistischen Parteien auch nach 1928 dazu, dass die Grenzen zwischen verschiedenen linken Strömungen und den Befürwortern eines nationalistisch geprägten Internationalismus zunehmend undeutlicher wurden. Letzterer Aspekt ist besonders relevant, da die KPSL in den frühen 1930er Jahren einen Führungswechsel vollzog, als Khalid Bagdash 1932 Fuad al-Shamali als Parteivorsitzender ablöste.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1995 war er als Generalsekretär der KPSL und später der Kommunistischen Partei Syriens tätig.[15] Doch auch Bagdash war nicht immer folgsam – jedenfalls nicht so, wie man es von einem durch die Komintern geschulten Kader erwarten würde, der noch bis 1936 den Nutzen des Nationalismus infrage gestellt hatte. In den ersten fünf Jahren seiner Amtszeit als Generalsekretär war er vor allem darum bemüht, dass seine Partei und er selbst Anschluss an den aufstrebenden Nationalen Block in Syrien finden.

«Ich bin gekommen, um die Freiheit der arabischen Welt an der Front vor Madrid zu verteidigen»

Den Beschluss über die Auflösung der Komintern im Jahr 1943 feierte Bagdash und verkündete: «Man sagt, wir unterstünden einem internationalen Zentralorgan und erhielten unsere Befehle von einer Fremdmacht! Doch jetzt, wo die Kommunistische Internationale aufgelöst ist, ist unsere Partei praktisch und formal unabhängig von jeglichen internationalen Verflechtungen.»[16] Anschließend erklärte er, die KPSL sei eine der ersten Parteien, die den Auflösungsbeschluss begrüßten, und fügte hinzu, die Unabhängigkeit von der Komintern sei im Interesse der Partei, da sie sich seit ihrer Gründung für die nationale Befreiung und Einheit ausgesprochen hatte. Diese Erklärung, der die Führungsetage der Partei beipflichtete, machte Bagdash im Sommer 1943, als die Partei erstmals an den Parlamentswahlen in Libanon und Syrien teilnahm. Die Wahlen 1943 gingen in beiden Ländern mit einem Erdrutschsieg für die nationalistischen Eliten aus. Zwar zog keiner der Kandidaten, die das kommunistische Lager unterstützte, ins Parlament ein, doch die Kommunisten hatten fraglos einen Achtungserfolg zu verbuchen. Waren Bagdashs Äußerungen über die Auflösung der Komintern ernst gemeint? Oder waren sie bloß eine Taktik, um die Massen für seine erste Parlamentskandidatur zu gewinnen? Um das zu beantworten, braucht es noch weitere Forschung zu diesem Geschichtskapitel. Fest steht aber, dass sich die Partei durchaus Vorwürfen ausgesetzt sah, ausländischen Kräften nahezustehen und ihnen treu zu sein, und dass Bagdash hoffte, diese Vorwürfe widerlegen und aus der Welt schaffen zu können.

 

Tatsächlich war es damals ein gängiger Topos, den Kommunismus als etwas «Fremdes» und/oder «Importiertes» darzustellen; nachweislich neigten sogar Kommunistinnen und Kommunisten selbst dazu. Während Bagdash die Komintern als Beleg für die Abhängigkeit von ausländischen Kräften ins Feld führte, stellte Najati Sidqi die «Authentizität» des Kommunismus im arabischen Kontext infrage. Als er in Jerusalem erstmals mit dem Kommunismus in Berührung kam, sprach Sidqi von «importierten Ideen», die er mit der jüdischen Einwanderung von Osteuropa nach Palästina in Verbindung brachte. Dieser Topos und die Binaritäten, die er generiert – ausländisch/einheimisch oder importiert/angestammt –, können ohne den historischen Kontext des Übergangs der Levante in die Moderne nicht begriffen werden. Sie müssen im Zusammenhang mit der nahdawi-Debatte und verwandten Diskursen in der modernen arabischen Welt betrachtet werden, die sich vor dem Hintergrund des westlichen Imperialismus und der Ausweitung des kapitalistischen Wirtschaftssystems herausbildeten.[17] Diesen gesellschaftlichen Diskursen mussten sich auch diejenigen stellen, die sich der Moderne widersetzen wollten – in diesem Fall mithilfe des Kommunismus und der internationalen Solidarität der Arbeiterklassen. Oft war das ein Drahtseilakt entlang verschiedener politischer Positionen und Territorien, bei dem man Werten wie der universellen sozialen Gerechtigkeit und internationalen Solidarität treu bleiben musste. Derselbe Sidqi, der den Kommunismus als «importiert» bezeichnet hatte, ging später bereitwillig an die Front nach Spanien und kämpfte im Auftrag der Komintern an der Seite der Internationalen Brigaden. 1936 erklärte er in Barcelona: «Ich bin arabischer Freiwilliger und ich bin gekommen, um die arabische Freiheit an der Front vor Madrid zu verteidigen […]. Ich bin hier, um Damaskus in Valdepeñas zu verteidigen; und Jerusalem auf den Feldern vor Cordoba; und Bagdad in Toledo; und Kairo in Andalusien; und Tétouan in Burgos.»[18]

Das Erbe der Komintern und dessen Implikationen für die Geschichte der Linken

Wenn wir uns heutzutage an die Komintern erinnern, dann müssen wir uns an die Individuen erinnern, die diese Organisation aufgebaut und an sie geglaubt haben. Wir müssen bereit sein zu erkennen, wie durchlässig die Grenzen waren, die diese Individuen überschritten. Wir müssen außerdem die Widersprüche nachvollziehen, die mit dem Experiment einhergingen, das die Komintern im arabischen und auch im globalen Kontext darstellte – auf der einen Seite die Hoffnungen und Möglichkeiten einer neuen Welt, die auf sozialer und politischer Gerechtigkeit für alle gegründet war, und auf der anderen Seite die Ungleichheiten und Hierarchien, die dieser Welt innewohnten.

Wir müssen die Komintern als Gefüge begreifen, das einen Austausch zwischen Sidqi, Bagdash, Mao und Dimitroff möglich machte, und zugleich anerkennen, dass die ungleichen Machtbeziehungen zwischen diesen Individuen im Rahmen der Komintern fortgeschrieben wurden. Vielleicht war die Kommunistische Internationale außerstande, diese Differenzen und die ihr eingeschriebenen Binaritäten zu überwinden. Vielleicht ist es ihr aber auch teilweise gelungen – einige der Individuen, die an diesem Experiment teilnahmen, haben jedenfalls genau das auf unterschiedliche Weise versucht. Die Tatsache, dass sie entlang dieser Differenzen oder Trennlinien agierten und ihre Absurdität erlebten, ist bereits ein Beleg dafür, dass diese «neue Welt» möglich ist. Wir sollten uns an die Kommunistische Internationale – als Konzept, als Experiment, als Organisation und als pädagogischen Raum – nicht trotz, sondern genau wegen dieser Widersprüche und Binaritäten erinnern.

Das Nachdenken über die Geschichte der Komintern verkompliziert die Geschichte der Linken, da es die Illusion unterläuft, die Linke, ihre Strategien und ihre Organisationsformen, einschließlich der Komintern, seien monolithisch. Diese skizzenhafte Reflexion über die Dritte Internationale – die meisthin als dogmatisches und homogenes Gebilde in die Geschichte eingegangen ist – zeigt, dass die Linke immer schon von einer gewissen Fluidität geprägt war, wenn es um die Ausformung ihrer Rahmenbedingungen und Binaritäten ging. Eine solche Perspektive kann aufschlussreich sein, vor allem in einer Zeit, in der die Linke und insbesondere die arabische Linke nach Antworten suchen mit Blick auf Identitätsfragen, den heutigen Nutzen klassischer Deutungsrahmen (wie jenen des historischen Materialismus) und auf die gegenwärtig verfügbaren Möglichkeiten für Kritik und Widerstand.

Dr. Sana Tannoury-Karam hat vor kurzem ihr Postdoc-Fellowship zur Geschichte des Nahen Ostens an der Rice University abgeschlossen und arbeitet ab Herbst 2019 als Dozentin an der Lebanese American University in Beirut. Übersetzung: Utku Mogultay, Lektorat und Redaktion: Albert Scharenberg


[1] Die Autorin bedankt sich bei Samer Frangie für sein konstruktives Feedback.

[2] Vgl. dazu Najati Sidqis Memoiren, die von dieser Begebenheit und seinen Erfahrungen mit dem Kommunismus berichten. Sidqi, Najati/Abu Hanna, Hanna (2001): Mudhakkirat: Najati Sidqi. Beirut: Mu’assasat al-Dirasat al-Filastiniyya, 2001.

[3] Vgl. MacAdams, James A. (2017): Vanguard of the Revolution: The Global Idea of the Communist Party. Für eine kritische Geschichte der Dritten Internationale vgl. James, C.L.R./Høgsbjerg, Christian (2017) [1937]: World Revolution, 1917-1936: The Rise and Fall of the Communist International. Durham: Duke University Press.

[4] Ich verwende den Begriff «Levante» (al-mashriq) in seinem vor dem Ersten Weltkrieg üblichen Sinne und beziehe mich damit auf den Libanon, Syrien und Palästina.

[5] Für eine Perspektive auf die Geschichte der arabischen Linken, die diese Grenzen problematisiert und die Behauptung einer homogenen kommunistischen Bewegung in der Levante wiederlegt, vgl. Sana Tannoury-Karam, The Making of a Leftist Milieu: Anti-Colonialism, Anti-Fascism, and the Political Engagement of Intellectuals in Mandate Lebanon, 1920-1948 (PhD diss., Northeastern University, 2017).

[6] Lenin, Wladimir Iljitsch (1954): Referat auf dem II. Gesamtrussischen Kongress der Kommunistischen Organisation der Völker des Ostens, 22. November 1919. In: Lenin, W.I. (1961): Werke. Band 30, September 1919 - April 1920. Berlin: Dietz Verlag.

[7] Zu Antifaschismus und arabischem Kommunismus vgl. auch Sana Tannoury-Karam, This War is Our War: Antifascism Among Lebanese Leftist Intellectuals, in: «Journal of World History», 30:3 (September 2019, i.E.).

[8] Für Näheres zur Antiimperialistischen Liga vgl. den in Kürze bei Leiden University Press erscheinenden Band „The League Against Imperialism: Lives and Afterlives“.

[9] Vgl. dazu auch Kirasirova, Masha (2017): The «East» as a Category of Bolshevik Ideology and Comintern Administration: The Arab Section of the Communist University of the Toilers of the East, in: «Kritika», 18:1, S. 7-34.

[10] Zur Geschichte der Kommunistischen Partei Palästinas vgl. Budeiri, Musa (2010): The Palestine Communist Party 1919-1948: Arab and Jew in the Struggle for Internationalism. Chicago: Haymarket Books. Vgl. auch Lockman, Zachary (1996): Comrades and Enemies: Arab and Jewish Workers in Palestine, 1906-1948. Berkeley: University of California Press.

[11] Vgl. Ismael, Tareq Y./Ismael, Jacqueline S. (1998): The Communist Movement in Syria and Lebanon. Gainesville: University Press of Florida, S. 12.

[12] Ebd. Für Näheres zu dieser historischen Episode vgl. Yazbiks Autobiografie: Yazbik, Yusuf Ibrahim (1974): Hikayat Awwal Nawwar fi al-ʻAlam wa fi Lubnan: Dhikrayat wa-Tariikh wa-Nusus [Die Geschichte des 1. Mai in der Welt und im Libanon: Erinnerungen, Geschichte und Dokumente]. Beirut: Dar al-Farabi.

[13] Die erste Abhandlung über die Parteigeschichte der Kommunistischen Partei Syriens und des Libanon stammt vom kürzlich verstorbenen Kommunisten Muhammad Dakrub; vgl. Dakrub, Muhammad (1974): Judhur al-Sindiyana al-Hamraʼ: Hikyat Nushuʼ al-Hizb al-Shuyuʻi al-Lubnani, 1924-1931 [Die Wurzeln der roten Eiche. Die Geschichte der Gründung der Kommunistischen Partei Libanons]. Beirut: Dar al-Farabi.

[14] Für einen persönlichen Erfahrungsbericht aus dieser Zeit vgl. auch al-Shamali, Fuad (1935): Asas al-Harakat al-Shuyu‘iyya fi al-Bilad al-Suriyya al-Lubnaniyya [Die Gründung der kommunistischen Bewegungen in Syrien und im Libanon]. Beirut: Matba‘at al-Fawa’id.

[15] Die Kommunistische Partei Syriens und des Libanon spaltete sich 1943 in zwei Parteien auf, nämlich die Kommunistische Partei Libanons und die Kommunistische Partei Syriens.

[16] Rede von Khalid Bagdash, abgedruckt in der Parteizeitung «Sawt al-Sha‘b» am 12. Juni 1943.

[17] Hier beziehe ich mich auf die arabische nahda bzw. Renaissance des 19. und 20. Jahrhunderts. Mehr zu diesem Thema beispielsweise in Ilham Khuri-Makdisi, The Eastern Mediterranean and the Making of Global Radicalism, 1860-1914 (Berkeley: University of California Press, 2010); Dyala Hamzah, ed., The Making of the Arab Intellectual (1880-1960): Empire, Public Sphere and the Colonial Coordinates of Selfhood (New York: Routledge, 2012); Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939, 2nd ed. (Cambridge: Cambridge University Press, 1983); Christoph Schumann, ed., Liberal Thought in the Eastern Mediterranean: Late 19th Century until the 1960s (Leiden; Boston: Brill, 2008).

[18] Sidqi/Abu Hanna (2001),a.a.O., S. 127.