Publikation Geschlechterverhältnisse - Rassismus / Neonazismus - International / Transnational - Migration / Flucht - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Kämpfe gegen Rassismus und Ausbeutung

Libanons progressive Bewegungen vor alten und neuen Herausforderungen

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Eva Dingel,

Erschienen

August 2019

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Nur online verfügbar

Plus ça change, plus c’est la même chose – je mehr sich etwas verändert, desto ähnlicher bleibt es sich

Mit diesem Zitat lassen sich aktuelle Entwicklungen im Libanon recht gut beschreiben. Viele strukturelle Probleme im Land sind seit Jahren unverändert, obwohl sich die Situation im und um den Libanon herum in den letzten Jahren mit dem Krieg in Syrien dramatisch verändert hat. Aber es gibt auch Anlass zu Hoffnung, und vor allem viele Aktive, die sich für positive Veränderungen und soziale Gerechtigkeit einsetzen.
 

Situation syrischer Geflüchteter im Libanon

Vielen von uns begegnen Nachrichten über den Libanon häufig im Kontext des Krieges in Syrien. Als Nachbarland hat der Libanon bekanntermaßen einen Großteil der aus Syrien Geflüchteten aufgenommen, aktuell leben etwa 1,5 Mio. syrische Geflüchtete im Land. Häufig wird im Zusammenhang mit der Aufnahme von Syrer*innen in Deutschland der prozentuale Vergleich zwischen den beiden Ländern aufgemacht: Gemessen an der libanesischen Gesamtbevölkerung von nur 5 Mio. ist der Anteil syrischer Geflüchteter im Libanon natürlich sehr viel höher als in Deutschland, wo etwa 1 Mio. Syrer*innen bei einer Gesamtbevölkerung von 82 Mio. Menschen leben. Was diese Zahlen aber nicht vermitteln ist, wie im Libanon mit syrischen Geflüchteten umgegangen wird. Laut einer Recherche der American University of Beirut (AUB) leben etwa 75 Prozent der Syrer*innen im Libanon unterhalb der Armutsgrenze. 74 Prozent haben keinen legalen Status, sind somit gezwungen, sich durch Schwarzarbeit über Wasser zu halten und sind Ausbeutung, willkürlicher Festnahme und gender-basierter Gewalt ausgesetzt. Aufgrund der Unwilligkeit des libanesischen Staates, sich konstruktiv zu dieser Zuwanderung zu positionieren und einen stabilen Rahmen dafür zu entwickeln, leben die meisten zugewanderten Syrer*innen in informellen Siedlungen ohne belastbare Infrastruktur und Absicherung der elementarsten Grundrechte. Etwa 300.000 geflüchtete Kinder im Land haben keinen Zugang zu Bildung.

Zur Autorin: Eva Dingel hat im Rahmen ihrer Forschung länger im Libanon gelebt, 2016 erschien ihre Dissertation über die Hisbollah und die ägyptischen Muslimbrüder bei I.B. Tauris/Bloomsbury unter dem Titel 'Power Struggles in the Middle East'. Sie lebt und arbeitet in Berlin als freiberufliche Autorin, Projektberaterin und Gründerin eines politischen Dialogprojekts.

Misshandlungen und offener Rassismus

Seit 2014 hat die libanesische Regierung die Zuwanderung von schutzsuchenden Syrer*innen erschwert und es durch Grenzkontrollen und rechtliche Auflagen für viele unmöglich gemacht, in den Libanon zu gelangen. Seit 2017 fährt vor allem der libanesische Innenminister Gebran Bassil eine immer härtere Linie gegen den Aufenthalt von Syrer*innen im Land, äußert sich offen rassistisch und lässt die Sicherheitskräfte Geflüchtete festnehmen und ihre ohnehin prekären Unterkünfte zerstören. Laut Human Rights Watch haben allein 2018 libanesische Städte und Gemeinden Tausende Syrer*innen ohne rechtliche Grundlage oder Anlass aus ihren Niederlassungen vertrieben. In der zweiten Jahreshälfte 2018 verließen zwischen 55.000 und 90.000 Syrer*innen den Libanon und gingen zurück nach Syrien, oft unter massivem Druck der lokalen und nationalen libanesischen Behörden. Dort erwartet sie ein gefährliches und ungewisses Schicksal. Es gibt nach wie vor Kampfhandlungen, Festnahmen durch die Sicherheitskräfte sind jederzeit möglich, immer wieder «verschwinden» Menschen. Zudem enteignet das Regime zunehmend Haus- und Landbesitzer*innen im Rahmen von Umsiedlungen, um neue demographische Realitäten zu schaffen. Auch auf die Vereinten Nationen übte die libanesische Regierung Druck aus, trotz des großen Risikos für die Betroffenen die Rückführung Geflüchteter nach Syrien zu organisieren. Der große Aufschrei innerhalb der libanesischen Bevölkerung angesichts dieser Misshandlungen von Syrer*innen und des offenen Rassismus gegen sie bleibt allerdings aus. Hier macht sich auch die lange, konfliktbehaftete Geschichte der syrisch-libanesischen Beziehungen bemerkbar. Dass es die beiden Staaten überhaupt gibt, ist der kolonialen Aufteilungslogik innerhalb der Region geschuldet: 1916 vereinbarten Frankreich und Großbritannien im Sykes-Picot-Abkommen, das heutige Syrien, den Libanon und Palästina unter sich aufzuteilen. Frankreich bekam das heutige Syrien und den Libanon zugesprochen und war von 1922 bis 1943 Mandatsmacht.  Nach dem Rückzug französischer Truppen existierten nun zwei neue Staaten nebeneinander; Teile des heutigen Libanon waren zuvor lange von Damaskus aus regiert worden. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden Ländern blieb auch weiterhin kompliziert: Im libanesischen Bürgerkrieg (1975 – 1990) intervenierte die syrische Armee, marschierte 1978 in das Nachbarland ein und blieb bis 2005 zumeist gefürchtete Besatzungsarmee.

Ansätze von Solidarität 

Die aktuellen Hetzkampagnen des libanesischen Innenministers sowie vieler anderer Politiker gegen syrische Geflüchtete haben also eine lange, komplizierte Vorgeschichte und treffen auf langgehegte Ressentiments in der Bevölkerung. Dennoch gibt es Organisationen, die versuchen, die humanitäre Situation syrischer Geflüchteter im Libanon zu verbessern und es organisieren sich auch einige Gruppen und NROs auf politischer Ebene, um sich gegen den offenen Rassismus zu stellen, der geflüchteten Syrer*innen im Libanon entgegenschlägt. Das «Socialist Forum» etwa mobilisiert gegen Festnahmen syrischer Geflüchteter, so etwa als 2017 syrische Geflüchtete in Arsal von den libanesischen Sicherheitsbehörden festgenommen wurden und vier Männer anschließend in der Haft verstarben. Die daraufhin u.a. vom «Socialist Forum» initiierten Proteste wurden vom libanesischen Innenministerium untersagt, gegen Aktivist*innen gab es Morddrohungen, auch wurden einige Journalist*innen und Blogger*innen in diesem Zusammenhang festgenommen und verhört, nachdem sie über die Entwicklungen berichtet hatten. Ein im «Socialist Forum» Aktiver berichtete damals, dass die Solidaritätskampagne mit Syrer*innen im Libanon regelmäßig zu Problemen mit den Sicherheitsbehörden führte. Es habe einen Fake-Account auf Facebook gegeben, der sich als Partnerorganisation des «Socialist Forum» präsentierte und die libanesische Armee für ihre Aktionen hart kritisierte. Letzteres ist ein absolutes Tabu und führte in diesem Kontext dazu, dass die ohnehin schon gespannte Situation noch weiter eskalierte und Aktivist*innen des «Socialist Forum» mit Hasskampagnen konfrontiert wurden.

Zunehmend regt sich aber auch Protest gegen die diskriminierende Behandlung von Syrer*innen seitens der libanesischen Regierung. Im Juni 2019 postete Innenminister Bassil ein Video, in dem einige seiner politischen Anhänger*innen Sprechchöre vor einem Restaurant anstimmten – weil dieses Syrer*innen beschäftigte. Kurz darauf verteilte die Partei des Innenministers Flyer, auf denen propagiert wurde, Geflüchtete könnten «in Sicherheit» nach Syrien zurückkehren. Gegen diese Propaganda regte sich Protest, auf einer spontanen Demonstration versammelten sich etwa 100 Protestierende im Stadtzentrum Beiruts, um ein Zeichen gegen Rassismus und Diskriminierung zu setzen.

Kafala-System und die Mobilisierung migrantischer Arbeiter*innen

Mit Einschüchterung seitens der Sicherheitsbehörden und willkürlichen Festnahmen sind all diejenigen konfrontiert, die sich im Libanon gegen den gesellschaftlichen Konsens engagieren oder gegen bestehende politische Interessen angehen. Dies betrifft z.B. auch Aktivist*innen, die sich für die Rechte von Hausangestellten einsetzen. Geschätzt leben und arbeiten etwa 250.000 Menschen, überwiegend Frauen, als Hausangestellte im Libanon. Viele stammen von den Philippinen, aus Bangladesch oder aus Äthiopien (die Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte Ende 2018 ausführlich zum Thema berichtet).

«Bei allen Demonstrationen wissen wir und wissen die migrantischen Aktivist*innen, dass das Risiko von Festnahme oder sogar Abschiebung besteht», sagt dazu etwa Laure Makarem von der libanesischen Organisation «Anti Racism Movement (ARM)», die sich 2010 aus Protest gegen die alltägliche Diskriminierung migrantischer Hausangestellter gegründet hat. Heute betreibt ARM mehrere «Migrant Community Center» in verschiedenen libanesischen Städten und unterstützt die Selbstorganisation migrantischer Hausangestellter durch Fortbildungen, Vernetzung sowie Kampagnenarbeit. Die Migrant*innenorganisationen stehen aktiv und unter großem Risiko für ihre Rechte ein, denn die Diskriminierung ist verbreitet und alltäglich. Ein einfacher Besuch in einem Beiruter Supermarkt genügt, um einen Einblick in das Problem zu bekommen: Libanesische Familien werden beim Lebensmitteleinkauf oft von «ihrer» Hausangestellten begleitet, die an ihrer Dienstmädchenuniform erkennbar ist. Während die Mutter oder der Vater mit den Kindern durch den Laden spaziert, gibt sie oder er Anweisungen an die Hausangestellte, die daraufhin die Einkäufe in den Wagen legt. Auch nach dem Bezahlen ist sie es, die die Einkaufstüten in der Sommerhitze zum Familienauto trägt und sich im Zweifel zu ihnen in den Kofferraum des Familien-SUV quetscht, weil vorne nicht genug Platz ist. Sie leistet die gesamte Care-Arbeit in der Familie und ermöglicht den Eltern damit die Nutzung ihrer freien Zeit. Sicher gibt es auch Fälle, in denen Hausangestellte angemessene Arbeitsbedingungen vorfinden; dennoch ist die Situation der meisten Angestellten äußerst prekär und Diskriminierung und Übergriffe sind an der Tagesordnung.

Rechtsfreier Raum

Hausangestellte werden im Libanon durch Agenturen vermittelt, die Frauen und Männer in den Herkunftsländern anwerben. Bei Ankunft im Libanon muss dann ein*e libanesische*r Staatsangehörige*r für den/die Arbeiter*in bürgen; oft wird der Reisepass einbehalten, so dass sich die Hausangestellten nicht mehr frei bewegen können. Freie Tage werden oft nicht gewährt, obwohl sie theoretisch vereinbart wurden. In dem völlig rechtsfreien Raum, in dem sich Hausangestellte aufgrund des Bürgschafts-Systems befinden, sind sie sehr oft Misshandlungen und sexueller Belästigung ausgesetzt. Immer wieder werden Fälle dokumentiert, in denen Hausangestellte entweder bei Fluchtversuchen von Balkons und Häuserfassaden stürzen oder Selbstmord begehen. 2017 berichtete IRIN News, dass es pro Woche zwei solcher Todesfälle gebe.

Laure Makarem vom ARM berichtet, dass die meisten Aktivitst*innen sich aufgrund der repressiven Politik der libanesischen Behörden ständig im Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit und verdeckten Aktivitäten bewegen müssen. Während die meisten sich größere Sichtbarkeit für das Thema wünschen und aktiver sein möchten, sind sie dennoch gezwungen, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und etwa online anonym zu bleiben oder nicht an Protesten teilzunehmen. Für Makarem ist klar: «Es gibt immer wieder Repressionen gegen Hausangestellte oder libanesische Aktivist*innen, die sich solidarisieren.» Dennoch bleibt sie optimistisch, was die Aussichten der Mobilisierung und des Widerstandes angeht. Auch deshalb, weil ihrer Beobachtung nach immer mehr Organisationen und Gruppen im Libanon zu den Themen Diskriminierung und Ungleichheit zusammenarbeiten, Probleme als intersektional wahrnehmen und sich gegenseitig unterstützen.

Feministische Kämpfe und linke Bewegungen

Diese Einschätzung teilt auch Nadine Moawad, die sich schon seit rund einem Jahrzehnt in verschiedenen Kontexten für Gleichberechtigung und feministische Anliegen im Libanon einsetzt. Obwohl angesichts des vorherrschenden patriarchalen Systems, der Korruption, verbreiteter archaischer Moralvorstellungen sowie Diskriminierung viele Hindernisse für die Verwirklichung feministischer Anliegen bestehen, sieht sie dennoch die Errungenschaften und Erfolge feministischer Arbeit im Libanon: «Ich beobachte, dass alles, was wir tun, letztendlich zu kleinen Veränderungen führt. Frauen können heute sehr viel aktiver sein und sich organisieren. LGBT können über ihre Sexualität sprechen. Als ich an der Uni war, habe ich kein einziges Mal das Wort Feminismus gehört. Heute gibt es an den meisten Unis feministische Clubs, die sehr aktiv sind. Es braucht Geduld, aber es lohnt sich.»

Diese kleinen Erfolge summieren sich und bringen längerfristig Veränderungen. Unbestritten bleibt jedoch, dass die rechtliche Gleichstellung der Frau im Libanon immer noch weit entfernt ist: Vergewaltigung in der Ehe ist nicht strafbar (Homosexualität aber schon), Frauen können ihre Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben, dies kann nur der Mann; Status- und Erbschaftsrecht sind für jede der 18 Religionsgemeinschaften im Libanon individuell geregelt, benachteiligen Frauen massiv, Konflikte werden vor religiösen Gerichten verhandelt, die oft keinerlei juristische Ausbildung oder Vorkenntnis besitzen. Auf der Straße, in Taxis, auf der Arbeit, auf Familienfeiern oder in jeglichen anderen Situationen sexuell belästigt zu werden oder Übergriffe zu erleben, gehört im Libanon für Frauen zum Alltag. Für mehrfachdiskriminierte Frauen, die z.B. aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe zusätzlich von Rassismus betroffen sind, ist die Situation noch prekärer und sie sind noch stärkerer Übergriffigkeit ausgesetzt als Libanesinnen. Eine von der libanesischen NRO Kafa in Auftrag gegebene repräsentative Studie ergab, dass jede*r Libanese*in mindestens eine Frau in seinem/ihrem Umfeld kennt, die von häuslicher Gewalt betroffen ist. Es mehren sich zudem Berichte von Zwangsverheiratungen junger Mädchen; syrische geflüchtete Mädchen scheinen hier besonders betroffen zu sein, da ihnen jegliche Absicherung fehlt.

Notwendigkeit von alternativen Formen von Organisierung und Aktivismus

Dass an dieser Front also noch viel zu tun bleibt, ist ein Understatement. Auf die dringendsten Themen angesprochen, die Feminist*innen im Libanon derzeit angehen oder angehen sollten, lässt sich Nadine Moawad jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Sie ist der Überzeugung, dass Feminist*innen sich zunächst selbst organisieren und von herkömmlichen Finanzierungsmechanismen in der Zivilgesellschaft unabhängig machen sollten. Erst wenn dies gelingt, kann wirklich Veränderung erreicht werden. Dabei stört sie das herkömmliche Modell, nach dem Aktivist*innen eine NRO gründen und dann um Fördergelder werben. Dies führt Moawads Ansicht nach lediglich bestehende Muster von politischer Einflussnahme und Repression fort und macht diese Form von Aktivismus nicht wirklich unabhängig von bestehenden Herrschaftsmustern. Deshalb hat sie unter anderem eine Kooperative gegründet, in der etwa 40 bis 50 Aktivistinnen organisiert sind und die ausschließlich durch Mitgliedsbeiträge finanziert ist. Dadurch ermöglicht werden sollen der Betrieb eines Cafés, ein Laden für Produkte von Kleinbäuer*innen sowie ein Veranstaltungsort. Für Moawad steht diese Art von Selbstorganisation und Aktivismus in einer langen Tradition feministischer Organisation im Libanon – aus ihrer Sicht hat es immer schon Gruppen von Frauen gegeben, die sich miteinander solidarisiert und für ihre Rechte gekämpft haben,  auch wenn dies mit einer herkömmlichen Brille auf feministischen Aktivismus nicht immer sichtbar ist.

It’s the economy, stupid!

Das Thema finanzielle Unabhängigkeit ist im Libanon ein übergreifendes und bestimmendes,  besonders auf staatlicher Ebene. Der Libanon ist einer der höchstverschuldeten Staaten der Welt, die Staatsverschuldung beträgt satte 153 Prozent des BIP. Dem Land wurden auf einer Geberkonferenz in Paris im April 2018 rund 11 Milliarden Euro in Krediten und Hilfszahlungen zugesagt, um die überalterte Infrastruktur zu modernisieren und die aufgenommenen syrischen Geflüchteten zu versorgen. Dass der libanesische Staat hier seiner Sorgfaltspflicht nicht wirklich nachkommt und der Außenminister Stimmung gegen Geflüchtete macht, wurde bereits geschildert. Davon abgesehen sind die in Aussicht gestellten Gelder aber an Bedingungen geknüpft: der Staat soll seine enorme Verschuldung reduzieren und wirtschaftlicher arbeiten. Um dies umzusetzen, hat die Regierung in ihrem im Mai 2019 vom Kabinett verabschiedeten Haushaltsentwurf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vorgesehen. Mit diesem einfachsten aller Instrumente sollen die Staatseinnahmen nun also erhöht werden – auf Kosten der unteren Mittelschicht sowie einkommensschwacher Haushalte, wie Hassan Abbas, Co-Chefredakteur der alternativen Medienplattform Raseef22 zu bedenken gibt. «Der Staat hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Korb von Produkten zusammenzustellen, auf die die erhöhte Mehrwertsteuer zutreffen soll.» Es gab also keinerlei Überlegungen, Produkte des alltäglichen Gebrauchs davon auszunehmen und so sozial schwächere Haushalte zu schonen. Für Abbas zeigt sich hier ganz klar der bevorzugte Modus der libanesischen Regierung, was die Problemlösung angeht: kurzfristige Pflaster werden auf dringende Probleme geklebt, strukturelle Ansätze und langfristige Strategien fehlen oder werden auf übermorgen verschoben.

Aufbrechen des Patronage-Systems

Die Diskussionen um den Haushaltsentwurf, der noch vom Parlament bestätigt werden muss, lösten deshalb angesichts der ohnehin stetig steigenden Lebenshaltungskosten breite Besorgnis und Demonstrationen aus. Der Journalist Karim Chehayeb sieht hier eines der dringendsten aktuellen Probleme im Libanon: «Für viele Menschen im Libanon, in der Arbeiterklasse, der unteren Mittelschicht oder unterhalb der Armutsgrenze könnte das zu einer Überlebensfrage werden» sagt er zum vorgeschlagenen Sparprogramm der Regierung. Im Mai 2019 kam es zu wütenden Protesten pensionierter Soldaten, die gegen die geplanten Reduzierungen von Renten und Versicherungen für ehemalige Staatsangestellte protestierten, Reifen vor dem Regierungssitz in Brand steckten und die Regierung in Sprechchören als Diebe bezeichneten.

Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass es gravierende wirtschaftliche Probleme im Land gibt, auf welche die Regierung keine überzeugenden Antworten bereithält. Zu tief sind nach Meinung der meisten Beobachter*innen politische Interessen miteinander verstrickt, und zu tief reichen die Wurzeln des elitären Patronagesystems, auf dem die politische Struktur des Landes beruht: Einflussreiche politische «Vorherren», die im Parlament sitzen oder einen Ministerposten innehaben, verteilen die Güter, zu denen sie dadurch Zugang bekommen, weiter an ihre «Anhänger*innen» – dazu werden meist automatisch alle aus ihrem jeweiligen Dorf oder ihrer Stadt oder Gemeinde gezählt. Auch hier zählt wieder das Prinzip der 18 einzelnen Religionsgemeinschaften, die nach einem Verteilungsschlüssel Zugang zu Parlamentssitzen, Ämtern und Beamtenposten besitzen. Im Gegenzug erwarten die Politiker*innen dann Stimmen bei der nächsten Wahl. Die verteilten «Güter» können dabei ganz unterschiedliche Formen annehmen: Geld, Zugang zu besserer medizinischer Behandlung, Hilfe bei persönlichen oder finanziellen Problemen. Dieses System aufzubrechen und wirklich für Veränderung zum Besseren zu sorgen ist das Anliegen der meisten politisch Aktiven im Libanon, die sich außerhalb traditioneller Zusammenhänge engagieren. Die Chancen dafür schätzen sie unterschiedlich ein – Karim Chehayeb etwa bleibt pessimistisch. Obwohl er die selbstorganisierten Migrant*innenorganisationen, mit denen auch ARM zusammenarbeitet, als bedeutsamste Protestbewegung im Libanon im letzten Jahrzehnt ansieht, denkt er doch, dass sich das Elitensystem dadurch oder durch andere Protestbewegungen im Libanon, die auch politisch vertreten sind, kurz- bis mittelfristig nicht verändern lässt. «Dieses System ist mehr als hundert Jahre alt. Es wird sich nicht nur durch Gesetzgebung oder ein paar kleinere Eingriffe verändern lassen. Dazu muss sich die gesamte Mentalität im Land verändern. Das wird lange dauern; aber es gibt mehr und mehr Menschen, die nach einer Alternative verlangen und die das zunehmend einfordern.»

Wie wir gesehen haben, sind auch andere Aktivist*innen zuversichtlich; für Nadine Moawad und Laure Makarem sind die Anzeichen für Veränderung klar zu sehen und bestehen in der Vernetzung zwischen verschiedenen Bewegungen mit unterschiedlichen Anliegen und der Schaffung von Freiräumen für alle Engagierten. Auch für Hassan Abbas liegt der Schlüssel zur Veränderung in größerer politischer Beteiligung für Bürger*innen. Es bleibt also zum Glück doch nicht alles gleich.