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Wie Lateinamerika mit der Migration umgeht

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Autor

Jürgen Vogt,

Erschienen

Oktober 2019

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Tapachula/Mexiko, 27. August 2019: Migranten aus Haiti und Afrika argumentieren mit Bundespolizisten bei Protesten vor dem Aufnahmelager Siglo XXI.
Tapachula/Mexiko, 27. August 2019: Migranten aus Haiti und Afrika argumentieren mit Bundespolizisten bei Protesten vor dem Aufnahmelager Siglo XXI. Sie verlangen von den mexikanischen Migrationsbehörden eine schnellere Ausstellung ihrer humanitären Visa, um sich in Mexiko frei bewegen zu können.  REUTERS/Jose Torres

Lateinamerika ist in Bewegung. Seine Landstraßen sind voll wandernder Menschen. Endlose Schlangen drängen sich über grenzüberschreitende Brücken. Tausende Migrant*innen aus Mittelamerika sind unterwegs nach Norden. Sie kommen aus Honduras, Guatemala und El Salvador. Ihr Ziel ist es, in die USA zu gelangen. Dort regiert mit Donald Trump ein weißer Rassist, der den Bau einer Mauer quer über den Kontinent versprochen hat und an der kräftig gebaut wird. Migrant*innen aus Venezuela sind unterwegs nach Süden. Millionen fliehen aus dem Land, das den Aufbau des Sozialismus des 21. Jahrhunderts versprochen hatte. Aufgenommen werden sie vor allem in Ländern, deren konservative Regierungen die Folge des politischen Rechtsrucks in Lateinamerika sind. Doch während der Norden dicht macht, bleiben die Grenzen im Süden geöffnet.

Der Autor Jürgen Vogt ist Politologe. Er arbeitete viele Jahre bei den Lateinamerika Nachrichten in Berlin. Seit 2005 lebt er als freier Journalist in Buenos Aires. Von dort schreibt er regelmäßig für die Tageszeitungen taz und Neues Deutschland sowie das Magazin Südwind. Er ist Autor des Reisehandbuchs «Argentinien», Reise Know-How Verlag, 2019.

Lateinamerika hat eine lange Tradition in der Aufnahme schutzsuchender Menschen. In den 1970er Jahren flohen Tausende vor den diktatorischen Regimes der Militärs, die sich in Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay und Brasilien an die Macht geputscht hatten. In den 1980er und 1990er Jahren kamen die meisten Migrant*innen aus Mittelamerika. Sie flohen vor der Gewalt durch politische Willkür und Bürgerkrieg. Im 21. Jahrhundert suchten Hunderttausende kolumbianische Flüchtlinge vor dem blutigen Konflikt zwischen Staat und Guerilla Schutz in den Nachbarländern. Gegenwärtig sind es Millionen von Venezolaner*innen, die angesichts der desolaten Lebensbedingungen und Menschenrechtverletzungen aus ihren Heimatland fliehen und in den südlichen Nachbarländern aufgenommen werden.

Lateinamerikas Staaten haben nicht nur die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet, sondern auch die Erklärung von Cartagena (Declaración de Cartagena) verfasst, mit der sie 1984 auf die massiven Fluchtbewegungen aus Zentralamerika reagierten. Darin wird die Definition eines Flüchtlings auf Menschen erweitert, die unter «massiven Verletzungen der Menschenrechte oder anderen Umständen leiden, die die öffentliche Ordnung stören», und deshalb aus ihrem Heimatland flüchten. Seither gilt auch die allgemeine Situation im Herkunftsland als ausreichendes Kriterium, um als Flüchtling anerkannt zu werden – unabhängig von persönlicher Verfolgung und Gefahr für Leib und Leben.

«Solidarische Städte» – Das Konzept stammt aus Lateinamerika

Während in europäischen Städten gegenwärtig darüber diskutiert wird, ob man sich zur Solidarischen Stadt erklären kann, um Migrant*innen und Schutzsuchenden die Integration zu erleichtern, liegt in Lateinamerika schon lange ein zehn Punkte umfassendes Konzept dafür vor. 2004 wurde im Kontext der durch den Bürgerkrieg in Kolumbien vertriebenen Menschen der sogenannte Plan von Mexiko unter der Federführung des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR/ACNUR) erstellt. 20 Länder aus der Region stimmten damals diesem Aktionsplan zu, mit dem dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge in einer sicheren Umgebung geschaffen werden sollten.

Das Leitmotiv war die Integration und Selbstversorgung von Flüchtlingen durch einen verbesserten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie zu Arbeits- und Wohnungsdienstleistungen. Schutzsuchende sollten in bestehende nationale Programme, Mikrokreditprojekte und Berufsausbildungen einbezogen werden. Und da sich die Mehrzahl der Schutzsuchenden in städtischen Zentren niederlassen, sollte zukünftig die Verantwortung der Aufnahme von Flüchtlingen nicht mehr nur bei den nationalen Regierungen liegen, sondern auch bei den lokalen Regierungen der Städte. Eines der innovativsten Komponenten dieses progressiven Ansatzes ist das Programm der Ciudades solidarias (Solidarische Städte).

Unter den Titel «Programm für Selbstversorgung und Integration ‹Solidarische Städte›» wurde ein Konzept skizziert, mit dem ein «wirksamer Schutz der sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte und Pflichten der Flüchtlinge im Rahmen einer umfassenden sozialen Strategie und der technischen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und Organisationen der Zivilgesellschaft sowie der finanziellen Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft» gesichert werden. Es sollten städtische Pilotzentren entstehen, die die Integration von Flüchtlingen durch eine eigenständige kommunale Politik regeln sollten. Städte, die den Titel «Solidarische Stadt» verliehen bekommen wollten, wurden angehalten, Maßnahmen zur wirtschaftlichen, soziokulturellen, rechtlichen und politischen Eingliederung der Flüchtlinge durchzuführen.

Zehn Jahre später wurde von den Ländern der Region und dem UNHCR Bilanz gezogen und die Erfahrungen im Plan von Brasilien aufgenommen. Zugleich konkretisierte das UNHCR die Vorgaben für Stadtregierungen zur Integration der Schutzsuchenden für die Titelvergabe «Solidarische Stadt». Erstellt wurden «Die zehn Kriterien für das Programm der Solidarischen Städte». Auf dieser Basis können interessierte Städte eine Absichtserklärung abgeben, in dem sie ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem UNHCR bekunden und Zusagen, die aufgeführten Mindeststandards gewährleisten zu wollen.

Doch die Zahl der Solidarischen Städte in Lateinamerika hält sich in Grenzen. «Das Konzept ist leider wenig bekannt», räumt Susanne Klink ein, die als Regional Livelihoods Officer (Oficial regional de medios de vida) im Regionalbüro des UNHCR in Buenos Aires arbeitet. Meist habe der UNHCR die Städte selbst angesprochen, und in den fünf Ländern, die das Regionalbüro abdeckt, sei bisher keine Stadt selbst auf die Idee gekommen.

Die argentinische Hauptstadt war die erste Stadt in der Region, die 2006 den Titel «Solidarische Stadt» erhalten hat. Allerdings war der Anfangselan rasch verflogen. Als der Titel «Solidarische Stadt» übernommen wurde, regierte mit Jorge Tellermann ein Mitte-Links-orientierter Bürgermeister, der 2007 vom rechtsliberalen Mauricio Macri abgelöst wurde. Der spätere Präsident zeigte schon damals kein Interesse. Ein Programm, das vor allem Personen aus Kolumbien und aus Zentralamerika geholfen hatte, wurde 2013 eingestellt.

Dass es jedoch nicht um große Metropolen gehen muss, zeigt das positive Beispiel der chilenischen Kleinstadt La Calera mit ihren rund 60.000 Einwohner*innen. 2008 wurden palästinensische Flüchtlinge aufgenommen, die aus dem Lager von Al Tanf an der Grenze zwischen Syrien und dem Irak kamen. Die Stadt stellte eigens Angestellte zur Betreuung ab, die bei der Suche nach Wohnraum und Arbeitsplätzen halfen. Jedes Kind wurde von einer chilenischen Familie betreut, was gerade die Einschulung erleichterte. Jüngeren Datums ist das Beispiel Quilicura, einer Kommune im Norden von Santiago de Chile, die seit 2014 den Titel Ciudad solidaria trägt. Die 400.000 Einwohner*innen zählende Stadt hat ein Integrationsbüro für Migrant*innen und Flüchtlinge eingerichtet, über das sie eng mit dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst sowie lokalen NGOs zusammenarbeitet. «Während aus anderen Städten Chiles Nachrichten über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kommen, hat sich Quilicura in ein multikulturelles Terrain verwandelt», sagte damals Quilicuras Bürgermeister Juan Carrasco.

Dennoch ist wohl Argentinien Vorreiter in Sachen Migration in Lateinamerika. Zu verdanken hat es diese Rolle einem Gesetz, in dem zum ersten Mal das Recht auf Migration festgeschrieben wurde. Zugleich wurden «die politischen Grundlinien festgelegt und die strategischen Grundlagen im Bereich Migration festgesetzt sowie die internationalen Verpflichtungen der Republik in Bezug auf Menschenrechte, Integration und Mobilität von Migranten erfüllt.» 2004 wurde das Gesetz unter der damaligen progressiven Regierung von Präsident Néstor Kirchner beschlossen und in beiden Kammern des Kongresses einstimmig angenommen. Vorausgegangen war eine zweijährige Debatte, an der sich die starken Menschenrechtsorganisationen, die Gewerkschaften sowie die Kirchen beteiligten, allen voran der damalige Erzbischof von Buenos Aires Jorge Bergoglio (seit 2013 Papst Franziskus). Aber auch die Verbände und Lobbyisten nationaler und internationaler Unternehmen, die eine klare Aufenthalts- und Arbeitsregelung für ihre ausländischen Spezialisten forderten, waren mit von der Partie.

Wichtige Gesetzesbestandteile sind die Garantie der kostenlosen juristischen Beihilfe, um beispielsweise Abschiebungen zu vermeiden und jener, wonach niemand wegen Migration eingesperrt werden darf. Zahlreiche Migrant*innen trauten sich aus der Klandestinität und regulierten ihren Aufenthaltsstatus. Die positive Wirkung war so enorm, dass 2008 in Uruguay, 2013 in Bolivien und seit 2017 in Brasilien, Peru und Ecuador ähnlich lautende Gesetze beschlossen wurden.

Regionale Migration mit offenen Grenzen

Die Zeiten der massiven Einwanderung aus Übersee nach Lateinamerika sind definitiv vorbei. Anfang des Jahres stellte die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) im Migrationsbericht 2018 fest, dass vor allem die regionale Migration zugenommen hat. In den südamerikanischen Staaten kämen die Migrant*innen vor allem aus einem der jeweils angrenzenden Nachbarländer. «In Lateinamerika insgesamt ist der Anteil an intraregionalen Migranten von 24 Prozent im Jahr 1970 auf 63 Prozent im Jahr 2010 gestiegen», heißt es darin (absolute Zahlen liefert der Bericht nicht).

Die Gründe liegen für die CEPAL in der extrem restriktiven Migrationspolitik der USA und Kanada, aber auch in der positiven Tradition des grenzüberschreitenden regionalen Austauschs, der noch auf die Zeit vor der Gründung der Nationalstaaten zurückgeht und heute den Fortschritt der wirtschaftlichen und politischen Integration in Südamerika widerspiegelt. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Aufenthaltsabkommen für Staatsangehörige der Mercosur-Vertragsstaaten.

Das im Jahr 2002 vereinbarte Abkommen erlaubt den Bürger*innen der Mitgliedsstaaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay sowie jenen der assoziierten Staaten Chile, Bolivien, Peru, Kolumbien und Ecuador eine Aufenthaltsdauer von zwei Jahren in jeweils einem anderen dieser Länder. Die stete Verlängerung für jeweils weitere zwei Jahre ist möglich. Dies gilt in Argentinien gegenwärtig auch für Angehörige des 2017 suspendierten Mitgliedstaates Venezuela. Alle nach Argentinien kommenden Venezolaner*innen bekommen den Aufenthaltsstatus.

Was die Migration aus den mittelamerikanischen Staaten und Mexiko in die Vereinigten Staaten angeht, stellt der CEPAL fest, dass die in die USA ansässige Bevölkerung aus diesen Ländern von 2010 bis Mitte 2017 um 35 Prozent zugenommen hat. Zudem gingen bis 2015 knapp 80 Prozent der aus Kuba, Haiti und der Dominikanischen Republik ausgewanderten Bevölkerung in die USA oder nach Kanada. Bemerkenswerte Wanderungen hat es auch von Haiti in die Dominikanische Republik und von Haitianer*innen und Dominikaner*innen nach Südamerika gegeben.

Dabei verstärkt die Migration der Venezolaner*innen den Anstieg der intraregionalen Migration weiter. Die wird in dem Bericht nicht erfasst, da er sich auf die letzten beiden Volkszählungen jedes lateinamerikanischen und karibischen Landes bezieht, die beispielweise in Argentinien 2001 und 2010 durchgeführt wurden. Rund 90 Prozent der Venezolaner*innen bleiben in Südamerika. Auf dem Landweg kommen sie zuerst in die unmittelbaren Nachbarländer Kolumbien und Brasilien. Dann geht es weiter nach Peru, Ecuador oder Bolivien und weiter nach Chile. Wer es sich leisten kann, fliegt nach Argentinien oder Uruguay. Trotz aller Unterschiede und Schwierigkeiten in den einzelnen Aufnahmeländern: Die Grenzen sind offen. Niemand kommt in ein Aufnahmelager, die es schlicht nicht gibt, niemand wird zurückgeschickt.

Zwar ist Kolumbien nach wie vor das südamerikanische Land, welches die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen aufweist. Doch Vertreibung und Flucht durch den bewaffneten Konflikts zwischen Staat und Guerilla erstrecken sich über gut sechs Jahrzehnte. Die Dramatik des venezolanischen Exodus entspringt dem kurzen Zeitraum, in dem Millionen Venezolaner*innen bisher ihr Land verlassen haben - seit 2015 rund vier Millionen Menschen. Die Abwanderung aus Venezuela ist die bisher größte Herausforderung für die gesamte Region in Sachen Migration.

Allerdings ist der Anteil der als Flüchtlinge anerkannten Venezolaner*innen sehr niedrig. In Kolumbien, dem nach wie vor größten Aufnahmeland, wird den Ankommenden der sogenannte Permiso Especial de Permanencia ausgestellt, eine spezielle Aufenthaltserlaubnis mit einer Maximaldauer von zwei Jahren. Für die Länder Argentinien, Brasilien, Ecuador und Peru sind die Venezolaner*innen Angehörige eines – wenn auch suspendierten – Mercosurstaates. Dort wird das Aufenthaltsabkommen des Mercosur angewandt, die Venezolaner*innen werden als Migrant*innen eingestuft. Das Aufenthaltsabkommen des Mercosur sowie die nationalen Migrationsgesetze haben so erster Linie die regionale Integration von Migrant*innen enorm verbessert.

Das Beispiel der Venezolaner*innen zeigt anschaulich, wie schwer die Unterscheidung zwischen Migrant*innen und Schutzsuchenden auch in Lateinamerika geworden ist. Der wesentliche Unterschied ist der rechtliche Rahmen, mit dem jemand als Flüchtling oder Migrant kategorisiert wird. Dieser hängt wiederum mit der Entwicklung der internationalen Rechtsnormen zusammen, die einigen Schutz bieten, aber andere ausschließen. Würden die Venezolaner*innen nicht als Angehörige eines Mercosurstaates anerkannt, würde in ihrem Fall die Erklärung von Cartagena greifen, wonach sie in ihrem Heimatland unter «massiven Verletzungen der Menschenrechte oder anderen Umständen leiden, die die öffentliche Ordnung stören». Im Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet vom Juli 2019 ist dies eindringlich beschrieben. Zweifellos würden die Venezolaner*innen von jenen Staaten als Flüchtlinge anerkannt werden müssen, die die Erklärung von Cartagena unterzeichnet haben.

Doch während sich die Lage für Migrant*innen aus dem Mercosur-Raum verbessert hat, ist die Situation für Menschen aus dem Nicht-Mercosur-Raum kaum einfacher geworden. In Argentinien betrifft das vor allem rund 10.000 Haitianer*innen, 5.000 Dominikaner*innen sowie 5.000 Senegales*innen. Zwar können sie als Tourist*innen für drei Monate einreisen, aber die Migrationskriterien zum Erhalt einer längeren Aufenthaltsgenehmigung wie der Nachweis einer Arbeitsstelle bei einem Unternehmen mit Sitz in Argentinien oder der Familiennachzug treffen auf die allerwenigsten zu. Wer durch dieses Raster fällt, dem bleibt der Antrag auf Asyl. bei der Comisión Nacional para los Refugiados, kurz CONARE. In der Kommission sind das Innen-, Sozial-, Justiz- und Menschenrechtsministerium, das Instituto Nacional contra la Discriminación, Xenofobia y el Racismo (INADI) und das UNHCR vertreten, sowie Nichtregierungsorganisationen wie die Comisión Argentina para Refugiados y Migrantes, kurz CAREF.

Wer in Argentinien Asyl beantragt, bekommt in der Regel eine prekäre Aufenthaltsgenehmigung, kann sich damit im ganzen Land bewegen und niederlassen sowie eine abhängige Beschäftigung aufnehmen. Auffanglager gibt es nicht, staatliche Unterstützung aber auch kaum. Vor diesem Hintergrund sind Institutionen der Zivilgesellschaft umso wichtiger. Eine in von ihnen ist die CAREF, die Argentinische Kommission für Flüchtlinge und Migranten. Seit Anfang der 1970er Jahren setzt sich die von protestantischen Kirchengemeinden gegründete Organisation für Flüchtlinge und Migrant*innen aus schwachen Verhältnissen, Vulnerabilität und Armut ein und hilft Familien, aber auch Einzelpersonen.

Die Kommission versucht die öffentlichen Einrichtungen im Gesundheits- und Bildungsbereich und die Politik zu sensibilisieren. «Mit unterschiedlichem Erfolg», resümiert Gabriela Liguori, die CAREF-Leiterin. «Die konservative Regierung hatte den Runden Tisch zum Menschenrechtssekretariat abgeschoben, aber dort waren die eigentlichen Entscheidungsträger nur selten anwesend. Das war wenig effektiv.» Ein wirklicher Dialog mit den Regierenden findet nicht statt. Der positive Effekt ist, dass sich die Organisationen, die sich für Flüchtlinge und Migrant*innen engagieren stärker und besser vernetzt haben. Dazu zählt neben CAREF auch das Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS), das für die juristische Begleitung von Schutzsuchenden Hilfestellungen gibt. Allerdings reicht in einem Umfeld, in dem sich der Staat nur prekär um die Notwendigkeiten von Flüchtlinge und Migrant*innen kümmert, das Engagement traditioneller NGOs der Zivilgesellschaft nicht aus.

Senegales*innen in Buenos Aires

Wichtige Knoten in diesem Netzwerk sind Basisorganisationen, die aus der alltäglichen Praxis und Erfahrung entstehen und in der Flüchtlinge und Migrant*innen, aber auch die lokale Bevölkerung zusammenwirken. Ein Beispiel dafür ist Vendedores Libres (freie Verkäufer), eine alternative Gewerkschaft, zu der sich 2012 die ambulante Händler*innen in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires zusammengeschlossen hatten. Die rund 1.200 Mitglieder sind vor allem Peruaner*innen, Bolivianer*innen, Senegales*innen, Dominikaner*innen und neuerdings Venezolaner*innen und Argentinier*innen. Wie wichtig Vendedores Libres gerade für Menschen aus dem Nicht-Mercosur-Raum ist belegt die Tatsache, dass von den 2018 vorübergehend festgenommenen 1.200 Händler*Innen 1.100 Senegales*innen waren.

Die Themen bei den wöchentlichen Versammlungen sind denn auch die Repression durch die Stadtpolizei, die ständigen vorrübergehenden Festnahmen und die Beschlagnahmungen der Ware. Rechtlichen Beistand bekommen sie von der CAREF, mit der sie in ständigem Kontakt stehen. Und von der CTA (Central de Trabajadores de la Argentina), dem Dachverband alternativer Gewerkschaften, die vom argentinischen Staat nicht als offizielle Gewerkschaften anerkannt sind und die im informellen Sektor Beschäftigte vertreten.

Politische Kampagnen gegen Flüchtlinge oder Migrant*innen lassen sich in Lateinamerika nicht holzschnitzartig initiieren wie in Europa. Der Rechtsruck, den gerade der südamerikanische Kontinent seit einigen Jahren erfährt und der den linksprogressiven Regierungsprojekten allen voran in Argentinien und Brasilien ein Ende machte, ist nicht in erster Linie mit Ausländer*innenfeindlichkeit oder Angst vor einer sogenannten Überfremdung zu erklären. Nahezu alle Staatsoberhäupter*innen in der Region haben einen familiären Migrationshintergrund. Die Ausnahme in diesem Szenario ist Costa Rica. Hier zeigten migrant*innenfeindliche Kampagnen Wirkung. Der CEPAL-Bericht weist Costa Rica als das Land in der Region aus, das den größten Anteil von aufgenommenen Migrant*innen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung besitzt.

Und doch ist der Rechtsruck auch ein Roll-Back der alteingesessenen weißen Eliten, die Personen wie etwa Mauricio Macri in Argentinien ins Präsidentenamt hieven, der die Vorlage einer erfolgreichen Einwanderergeschichte liefert. Vater und Unternehmer Franco Macri war 1945 aus Italien eingewandert, baute ein Firmenimperium auf, was Sohn Mauricio den Sprung auf den Präsidentensessel half. Der Diskurs über Migration ist denn auch geprägt durch solche Geschichten. Nicht der Migrant ist das Problem, sondern seine Herkunft: Der nichteuropäische Migrant, der schwarze Migrant aus Afrika, der indigen erscheinende Migrant aus den Nachbarländern. Rassismus ist ein wesentlicher Bestandteil der Xenophobie der weißen Eliten.

Seitdem sich Europa zunehmend gegen die Migration aus Afrika abschottet, werden alternative Ziele und neue Routen gesucht. Eine Alternative sind zweifellos die USA, doch die größte natürliche Barriere ist der Atlantik. Als guter Brückenkopf auf der amerikanischen Seite des Ozeans gilt Ecuador. Mit einem von den ecuadorianischen Behörden ausgestellten Tourist*innenvisum ist die Weiterreise möglich. So kommen zu den Migrant*innen, die sich in den letzten Jahren vor allem aus Zentralamerika zu Fuß Richtung US-Grenze aufmachten, immer mehr Menschen aus Afrika. Deren Route führt nach der Landung in Ecuador zunächst durch Kolumbien, Panama, Costa Rica, Nicaragua, Honduras und Guatemala bis Mexiko. Nach Angaben der mexikanischen Behörden hat sich die Zahl der eingereisten Afrikaner*innen in den ersten vier Monaten 2019 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdreifacht. Auch wenn die absolute Zahl, der vor allem aus Kamerun und der Demokratischen Republik Kongo stammenden Personen, mit 1.900 nicht sehr hoch erscheint, zeigt der Anstieg diesen jüngsten Trend.

Abschottung, Mauerbau oder verschlossene Grenzen sind jedoch für Lateinamerikas rechte Staatsoberhäupter*innen mit Migrationshintergrund keine wirklichen Optionen. Paradoxerweise sind Venezuelas Migrant*innen gegenwärtig Nutznießer des politischen Rucks nach rechts in der Region: Venezuelas Regierung als diktatorisches Regime zu kritisieren und zugleich den flüchtenden Venezolaner*innen Einreise und Hilfe zu verweigern, geht nicht zusammen. Die Barrieren werden dann subtiler erreichtet, wie etwa im Vorreiterland Argentinien.

Immer mehr Abschiebungen

Im Januar 2017 modifizierte Mauricio Macri ohne parlamentarische Debatte das Migrationsgesetz per Dekret. Seither häufen sich die Abschiebungen. Nicht nur Ausländer*innen, die zu einer Haftstrafe von mindestens vier Jahren verurteilt werden, können schneller abgeschoben werden, sondern auch Ausländer*innen, die eine solch Strafe bereits verbüßt haben. «Das Migrationsgesetz von 2004 ist weiter in Kraft. Die Modifizierungen betreffen nur zwei Prozent der Migranten», sagt Rechtsanwalt Julián Curi, von 2015 bis 2018 Subdirektor der Migrationsbehörde und Mitautor des Dekrets. Ein*e Migrant*in, dem nur ein Dokument im Antrag auf den Aufenthalt fehlte, wurde unter den gleichen Bedingungen behandelt wie ein*e straffällig gewordene*r Migrant*in. «Es dauerte zehn Jahre, bis letztere ausgewiesen werden konnten», so der Anwalt.

Die Modifizierungen haben Härtefälle geschaffen, die unweigerlich an die forcierten Familientrennungen à la Donald Trump erinnern. So wurden Elternteile abgeschoben, deren Kinder weiter in Argentinien leben. «Das Dekret hat die Migrantengruppen wieder mobilisiert», sagt Gabriela Liguori von CAREF. Rund 25 Gruppierungen haben sich zu der Kampagne Migrar no es delito – «Migrieren ist kein Verbrechen» zusammengeschlossen, einem informellen Netzwerk aus traditionellen Nichtregierungsorganisationen und Basisorganisationen.

Abschiebungen hat es in Argentinien auch vor dem Dekret von 2017 gegeben. Noch so vorbildliche Migrationsgesetze sind auch in Lateinamerika Kontrollgesetze. Suggeriert wird jedoch, dass Migration ein Problem der Sicherheit darstellt, folglich muss bei den Migrant*innen angesetzt werden. Dies kennzeichnet den allgemeinen Rechtsruck im Migrationsdiskurs in Lateinamerika, der nicht mit dem Dichtmachen der Grenzen daherkommt, sondern mit der Kriminalisierung der Migrant*innen und Schutzsuchenden.

Abschiebung ist jedoch auch in Lateinamerika keine Strafe, sondern eine administrative Anordnung der Exekutive. Dafür bedarf es zumindest eine schweigende Zustimmung, die durch öffentlichen Protest nicht in Frage gestellt wird. Das Engagement der Zivilgesellschaft mit ihren traditionellen Nichtregierungsorganisationen, aber vor allem jenes der Basisorganisationen der unmittelbar Betroffenen, wird in der anstehenden Auseinandersetzung eine entscheidende Rolle spielen.