Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Geschlechterverhältnisse - International / Transnational - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Irak: Atmosphäre des offenen Protests

Aktivismus zwischen Konfessionalismus, NGOisierung und Anti-Terrorismusgesetzgebung

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Ansar Jasim,

Erschienen

Oktober 2019

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Aktivist*innen der OWFI (Organization of Women‘s Freedom in Iraq)
Aktivist*innen der OWFI (Organization of Women‘s Freedom in Iraq) fordern auf der 1. Mai-Demonstration 2019 staatliche Sozialhilfe für Witwen und Arbeitslosengeld für Frauen. OWFI, Facebook

Bei den letzten Wahlen im Irak im Mai 2018 betrug die Wahlbeteiligung lediglich 44,5 Prozent, dies ist trotz der Proteste, die seit 2015 in der Hauptstadt und verschiedenen Provinzstädten stattfanden, die schwächste Wahlbeteiligung seit 2005. Neben der Korruption scheinen alle Proteste durch ein Thema vereint: Mangelnde Arbeitsplätze, Klientelismus der Eliten und die neoliberale Ausrichtung der irakischen Wirtschaft. Die Atmosphäre des offenen Protests, die 2011 die Region erfasst hat, ist im Irak erhalten geblieben und hat vielen Iraker*innen gezeigt, dass sie ihre Diktatoren selbst und ohne Interventionen von außen stürzen können.

2003: Krieg und Auswirkungen auf die pluralen Räume

Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

«Wir konnten nur auf etwas Besseres hoffen, denn es gibt nichts Schlimmeres als das, was wir unter der Baath-Diktatur erlebt haben», wiederholen die Frauenaktivist*innen, die die irakische Feminist*in Zahra Ali für ihr Buch «Women and Gender in Iraq»[1] interviewt hat. Mit der Gewalt von 1991 noch im Hinterkopf und den Aussichten auf eine Invasion durch die USA hatten viele Angst vor dem Krieg von 2003, auch jene, die den Sturz des Regimes herbeisehnten: «Wir wollten Wandel, aber den müssten wir selber herbeiführen», ist die einstimmige Meinung unter vielen linken Iraker*innen. «Nur eine von den Menschen getragene Revolution würde einen wirklichen Wandel bringen, nicht aber ein Regimesturz der von außen herbeigeführt wird», sagt Mariyam, eine Exilaktivistin[2] der Kommunistischen Partei des Irak (IKP) in Berlin.

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Ähnlich wie sich bereits die britische Besatzungsmacht 1917 mit den konservativen Kräften verbündete, so schließen sich die USA mit konservativen gesellschaftlichen Kräften kurz[3], die auf ihrer neoliberalen Linie liegen und Gelder aus Entwicklungsfonds erhalten, was zu einer Ressourcenungleichheit im Hinblick auf andere gesellschaftliche Akteure führt. Für progressive Kräfte, die nun teilweise aus Kurdistan-Irak und aus dem Exil zurück in den Zentralirak kommen, ist das Feld der Zivilgesellschaft somit hart umkämpft.

Politische Kräfte wie die IKP, die sich mit dem Slogan «Kein Krieg, keine Diktatur» klar gegen die amerikanische Invasion des Irak gestellt hatten, beugten sich der politischen Realität und brachten sich nach 2003 wieder ins politische System ein, um nicht isoliert dazustehen. Viele Unterstützer*innen werfen ihnen bis heute vor, auf diese Weise in die Falle des sich entwickelnden ethno-politischen parlamentarischen Systems getappt zu sein und sich der Logik der Besatzung durch die Übergangsverwaltung der von den USA geführten Koalition im Irak (Coalition Provisional Authority, CPA) ergeben zu haben. Für viele politische Akteur*innen im Irak heißt das, dass sie nur außerhalb des formellen politischen Systems eine progressive und nicht-konfessionelle Politik betreiben können. Auch wenn sich seit 2003 viel verändert hat und sich das Wählerverhalten bei den Wahlen im Mai 2018 außerhalb konfessioneller Muster bewegte, war die Wahlbeteiligung so niedrig wie noch nie, in Bagdad lag sie sogar unter 25 Prozent. Bei vielen dominiert das Gefühl, dass die politischen Eliten das Land ausplündern. Diese Menschen haben vor allem das Anti-Establishment Wahlbündnis Sa´eroun (Vorwärts) gewählt, das aus der Protestbewegung von 2015 und einer vorübergebenden Allianz zwischen der IKP und dem Kleriker Muqtada as-Sadr, der einen großen Teil der abgehängten unteren sozialen Schichten mobilisieren konnte, hervorgegangen ist. Daneben gibt es im Irak keine wirkliche parlamentarische Opposition, da es oft einfach zur Bildung von Konsensregierungen kommt. Der Druck zum Wandel muss also von außerhalb des politischen Systems kommen.

Statt progressive Kräfte im Irak zu unterstützen, wird auch in linken Medien gerne entweder das Ende des Irak herbeigeredet[4], oder aber es werden einseitig neue politische Kräfte verteufelt, wie etwa der Zusammenschluss zwischen der IKP und as-Sadr. Die Folge ist, dass «Menschen, die tatsächlich im Irak leben, ihre Communities, ihre Träume, ihre kleinen und großen Siege immer wieder unsichtbar gemacht werden»[5], meint Ali Issa, Autor des Buches «Against all Odds. Voices of Popular Struggle in Iraq» und Mitglied des Iraqi Transnational Collective (ITC), einem Zusammenschluss von progressiven Diasporaaktivist*innen, die oft in der zweiten oder dritten Generation außerhalb des Irak leben und für eine progressive und solidarische Politik der Diaspora einstehen.

Eine der Parteien, die nicht nur eine außerparlamentarische Opposition aufbauen wollen, sondern eine Alternative zum System, ist die Workers Communist Party of Iraq (WCPI), die eine soziale Revolution anstrebt, an deren Ende die Etablierung eines sozialistischen Staates steht. Seit 2005 hat sie alle Wahlen boykottiert. Stattdessen versucht die Partei durch den Aufbau von gesellschaftlichen Organisationen wie dem Iraq Freedom Congress, der Federation of Workers Councils and Unions in Iraq (FWCUI) oder der Unemployed Union of Iraq (UUI), die 2007 aufhörte zu arbeiten, gesellschaftlich Einfluss zu gewinnen.

Auch feministischer Aktivismus im Irak und Diskurse von säkularen und islamischen Frauenaktivist*innen spielen für die Diskurse um Feminismus im globalen Norden oft keine Rolle. Die OWFI- Organization of Women‘s Freedom in Iraq, welche zunächst in Irak-Kurdistan gegründet wurde und dann 2003 nach Bagdad zog, hatte zum Ziel, eine Massenbewegung aufzubauen, die Frauen unterstützt. Die OWFI eröffnete ein Center in Bagdad, um Frauen Schutz vor sexuellem Missbrauch und Gewalt zu bieten. Anders als in Kurdistan-Irak ist die OWFI im Zentralirak die einzige Organisation, die Frauenhäuser zur Verfügung stellt - ein Thema,  das von der Zentralregierung illegalisiert oder aber von religiösen Kräften kooptiert wird. Nach 2003, direkt nach der amerikanischen Invasion, nahmen sexuelle Gewalt gegen Frauen, Prostitution und Frauenhandel erheblich zu[6], was deutlich macht, dass kapitalistisch-patriarchale Beziehungen auch mit Militarismus und Besatzung verbunden sind. «Ich war selber vor Gewalt geflohen. Wenn du Schutz gefunden hast, dann kommt der Zeitpunkt,  an dem du auch verstehen willst, welche Strukturen dazu geführt haben. Also habe ich begonnen, mich mit feministischer Theorie zu befassen. Das hat mir unglaublich geholfen. Wir haben die ‹feministische Schule› für die Frauen in den Frauenhäusern ausgebaut, aber auch für Männer», erzählt eine der Aktivist*innen bei einem Besuch im Center (Februar 2018).

Die OWFI bewegt sich in einem hart umkämpften Feld: Nach der amerikanischen Besatzung wurden von den USA und unter massiver Kollaboration von irakischen Frauen im US-Exil «hektisch»   Frauenorganisationen aufgebaut, um «der nicht-moralischen Invasion moralische Legitimität» zu verleihen. US-irakische NGOs seien ein wichtiger Teil des amerikanischen «Kampfteams» und ein Arm der US-Regierung im Irak und somit eher Repräsentanten kolonialer Politik als der Interessen der Iraker*innen gewesen, so die irakische Schriftstellerin Haifa Zagana. Das hat dazu geführt, dass gut gebildete, qualifizierte Frauen von einer der vielen nach 2003 entstandenen Frauenorganisationen absorbiert wurden. Diese Organisationen stellen die andere Seite der Medaille der Besatzung dar: Anders als der Einmarsch und die damit verbundene Gewalt zielen diese Organisationen auf das soziale Gefüge der Gesellschaft ab. Die Kooptierung dieser Frauenorganisationen durch die USA hat dazu geführt, dass Frauenbewegung und Frauen-NGOs zu einem Gegensatz wurden, obwohl sie sich eigentlich nicht gegenseitig ausschließen. Durch diese «weiche Besatzung» des Irak wurde eine Form von Demokratisierung gefördert, die den Begriff von Demokratisierung auf Themen wie Gender-Mainstreaming begrenzt, Fragen des Marktes oder der politischen Inklusion aller sozialen Schichten aber ausspart. Viele Frauen-NGOs in Kurdistan-Irak reproduzieren oft einen Elitendiskurs: Frauen, die wenig oder keine Beziehung zu der realen Situation kurdischer Frauen und keinen Kontakt zu Frauen auf Graswurzelebene haben, werden zu Vertreter*innen ebendieser stilisiert. Das treffendste Beispiel des Missverhältnisses zwischen der Anzahl an NGOs und den Errungenschaften für Frauen ist vielleicht der Fall der «Anfal-Witwen», Frauen, deren Männer bei einer Reihe von Chemiewaffenangriffen durch Saddam Hussein ums Leben kamen: Diese Frauen haben bis heute kein Recht auf Erbe, Besitz, Erziehungsrechte oder aber wieder zu heiraten. Als Protest gegen diese Janusköpfigkeit wurde von den Frauen 2006 das Denkmal zu Ehren der Opfer der Angriffe in Halabja in Brand gesteckt. Die Probleme können nicht angegangen werden, solange sie als «manageable» betrachtet und nicht im Rahmen der tiefen Krise des politischen und wirtschaftlichen Systems gesehen werden.

Ähnlich verhält es sich im Zentralirak: Vielen Frauenaktivist*innen wurde in den ersten Jahren nach der amerikanischen Invasion vorgeworfen, eher die Interessen ihrer politischen Partei zu vertreten als sich tatsächlich für die Belange und Sorgen von irakischen Frauen einzusetzen. Dennoch, mit der Wahl 2010 hatten viele Frauen das Gefühl, dass eine Wende eingetreten sei und die Parlamentarierinnen sich nun unabhängig von der politischen Ausrichtung für Frauen einsetzen. Ausdruck dessen war der Versuch der fraktionsübergreifenden parlamentarischen Organisation der Frauen, die Parliamentary Coalition in Support of Women.[7]

Außerparlamentarisch organisieren sich Aktivist*innen in Initiativen wie dem Radio «Musawa» (Gleichberechtigung) mit Sitz in Bagdad. Seine Räumlichkeiten befinden sich im OWFI, in Diskussionsformaten werden Themen von gesellschaftlicher Relevanz und Kontroverse behandelt. Es geht etwa um die die Proteste in Basra und die Rolle von aktiven Frauen bei den Demonstrationen und ihrer Organisierung. Auch wenn das Radio nach Anfeindungen durch konservative Kräfte und Milizen nicht mehr auf UKW-Frequenz senden darf, existiert es weiterhin online.

Eine schrittweise Verbesserung

In der Zeit des Ausbruchs der konfessionellen Gewalt 2005-2007, aber auch noch 2011 und 2012, einer Zeit, in der Aktivist*innen oft gezielt ermordet wurden, war es oft extrem schwierig, Proteste und Treffen zu organisieren. Umso erstaunlicher, dass die Aktivist*innen davon sprechen, dass sie heute ganz andere Räume erschließen können, was nicht nur an der verbesserten Politik der Regierung (Ministerpräsident Abadi gegenüber Maliki), sondern auch daran liege, dass «sich die Gesellschaft weiterentwickelt hat seit und insbesondere durch die Massenproteste in 2015», so die Aussage des Bagdader Aktivisten Sami. Er sagt weiter: «Das ist wirklich ein Wendepunkt von Norden bis Süden: Nationalismus und Konfessionalismus haben sich geändert. Die Leute sehen, dass sie von einer gesellschaftlichen Schicht ausgeraubt werden, da ist es ganz egal, ob diese Sunniten oder Schiiten sind. Die Gesellschaft im Irak ist nun reifer und bewusster geworden». Er macht aber auch klar: «Ich sage nicht, dass es keinen Konfessionalismus gibt, ich sage nur, dass es jetzt anders ist: Leute aus Mosul kommen nach Bagdad und Leute aus dem Süden gehen nach Mosul. Das war vorher nicht normal.»

Sami macht deutlich, dass eine «konfessionelle» Normalität noch lange keine für alle sind: «Ich konnte mich in den letzten 5 Jahren in Bagdad frei bewegen, auch an den entlegensten Orten, egal welchen Dialekt ich spreche. Ich als Mann kann das, ich bin keine Frau, die aus Mosul nach Madinat as-Sadr in Bagdad fährt.» Für die Organisierung von Protest und die Mobilisierung ist diese Veränderung der Situation essentiell. Noch immer sind halbstaatliche bewaffnete Gruppen in den Straßen Bagdads eine Realität, was «sinnbildlich ist für die anhaltende Macht und Kontrolle, die solche Gruppen über das urbane Alltagsleben ausüben». Das suggerieren auch kritische Kommentare, die dem von Journalist*innen verbreiteten Narrativ der Normalisierung der Situation in Bagdad widersprechen. Gleichzeitig spiegelt dieser Narrativ nicht wider, dass die Proteste etwa in Bagdad von einem zentralisierten Ort nun in die Stadtviertel getragen werden, d.h., dass die Menschen ihren Raum materiell anders ausfüllen: «In meiner Jugend gab es eine Zeit, in der ich mein Stadtviertel aufgrund der Gewalt nicht verlassen konnte. Ich musste sogar die Schule wechseln», erklärt Sami. Heute sei das anders: «Wenn die Proteste fernab der Alltagsrealität an einem zentralen Platz in der Stadt stattfinden, werden sie scheitern. Deswegen wurden die Demonstrationen dann in die Stadtviertel selber getragen, nach Madinat as-Sadr etwa, wo vor dem Rathaus protestiert wird. Du hast gerade sehr unterschiedliche Proteste: Ingenieur*innen, Student*innen und Öl-Arbeiter*innen, Soldaten, die vor Daesh geflohen sind und deswegen nicht in den Dienst zurückgeholt werden.» Auch wenn die Proteste keinen internationalen Widerhall finden: die lokalen Autoritäten können sie nicht mehr ignorieren, und so hat auch die schiitische höchste Autorität, die Marjiya, begonnen, bei den Freitagspredigten darüber zu reden.

Keine Normalisierung der Verhältnisse

Trotz der drastischen Verbesserung der Situation seit 2012 kommt es weiterhin zu Bedrohungen und Tötungen. Die Ermordung von zwei Frauen wegen ihrer beruflichen und aktivistischen Tätigkeit im Jahr 2018 zeigt das. Mitten am Tag wurden in Bagdad Tara Fares, ein Social Media-Star, und in Basra die Frauen- und Menschenrechtsaktivistin Suad al-Ali, die Vorsitzende der Organisation al-Woed al-Alalami for Human Rights, ermordet. Es sind eben nicht nur linke Kräfte, die im Irak diesen Formen von Gewalt ausgesetzt sind: Souads Organisation organisierte neben Workshops für Frauen aus gewalttätigen Verhältnissen auch einen Ehrentag zur Gründung der irakischen Polizei, in einem Land, in dem staatliche Institutionen durch die Einbindung von Milizen ins System immer mehr untergraben werden. Tara Fares hatte 2,8 Millionen Follower auf Instagram und führte Video-Tagebücher, in denen sie auch immer wieder ihre konservativen Kritiker angriff. Es waren beides Frauen, die für das Bild einer selbstbestimmten irakischen Frau standen und nur im Kontext von Sanktionen, Krieg und Besatzung zu verstehen sind. Die Sanktionen haben nicht nur die soziale Struktur des Landes verändert, sondern auch neue Formen des Patriachats befördert. Die soziale Kontrolle über Gendernormen durch dieses Hyperpatriarchat wurde durch die US-Besatzung noch verstärkt.

Die Ermordung des irakischen Autors Alaa Mashzoub vor seinem Haus in Kerbala im Februar diesen Jahres ist ein weiteres Beispiel, mit welcher Gewalt Kritiker*innen zu rechnen haben. Mashzoub hatte immer wieder die zunehmende Einflussnahme des Iran in die irakische Politik und Wirtschaft kritisiert. Die Antwort der irakischen Zivilgesellschaft war jedoch ebenso stark: es gab einen Aufruf, alle Bücher Majzoubs zu kaufen, um so gegen die Zensur der Milizen und des Iran zu protestieren.[8]

Massenproteste

In Kurdistan-Irak und im gesamten Irak kam es 2011 zu Protesten, und ähnlich wie auch in den Protestnarrativen in anderen Ländern der Region, vor allem Syrien, spiegelt sich hier eine Generationenfrage wider. Die Bewegung des Tahrir- Platzes in Bagdad war zudem vernetzt mit anderen Bewegungen in der Region. Auch wenn die Bewegung in Bagdad wie auch in Sulaimaniyya mit Gewalt durch die Autoritäten konfrontiert wurde, zeigt sie, dass die soziale Basis für eine Massenbewegung im Irak vorhanden ist, «wenn auch im Schatten».[9] Die Proteste 2011 waren nur der Anfang einer jahrelangen und immer noch anhaltenden Protestwelle in Kurdistan-Irak und Irak. Dennoch hat «Iraks 2011» keinen Eingang in den Narrativ des sogenannten «Arabischen Frühlings» gefunden, vielleicht auch gerade, weil sich die Proteste insbesondere gegen die Ausformung des unter westlicher Mithilfe und durch Besatzung implementierten Neoliberalismus im Irak richteten, und dies eben nicht dem gängigen Bild der Proteste gegen jahrzehntelang herrschende lokale Diktaturen entsprach.

In beiden Regionen des Irak kam es zu einer Autoritarisierung des politischen Feldes, um neoliberale Reformen durchsetzen zu können. Der Präsident der Region Sulaimaniyya hat nach den Demonstrationen 2011 ein neues «Sicherheitsgesetz» erlassen, das es den Bürger*innen versagt, ohne vorherige Regierungsgenehmigung zu protestieren.[10] Ähnlich sollten die Protestierenden in Bagdad davon abgehalten werden, «eine fragwürdige Interpretation des Artikels 38 der Verfassung, der dem Staat den Schutz der Meinungsfreiheit und das Recht zu demonstrieren anvertraut», vorzunehmen, meint Saad Salloum. Egal mit wem man spricht, fast alle politischen Aktivist*innen berichten von der permanenten Gefahr entsprechender Gesetzgebungen nach 2003: «4 Terrorismus» ist das Stichwort, das man überall als Warnung hört, womit Paragraph 4 des Anti-Terrorgesetzes Nr. 13 aus dem Jahr 2005 gemeint ist. Dieses wurde nicht nur in sehr kurzer Zeit (innerhalb von zwei Tagen) auf amerikanischen Druck hin verabschiedet, sondern formuliert offen, dass jede Person, die dem derzeitigen politischen System im Irak widerspricht, als Terrorist bezeichnet werden kann (da das Gesetz nicht zwischen Terrorismus und «Gefahr für die Sicherheit des Staates» unterscheidet). Als Strafe kennt Paragraph 4 nur zwei Optionen: lebenslängliche Haft oder die Todesstrafe. Deswegen ist die Abschaffung dieses Gesetzes auch seit Jahren eine Hauptforderung von Aktivist*innen.[11]

Im Irak, insbesondere in Sulaimaniyya, wurde ebenfalls gegen Ungerechtigkeit und den Nepotismus der Regierenden sowie die Neoliberalisierung der Wirtschaft und die damit verbundenen Folgen für die Menschen in Kurdistan protestiert. Die Umstrukturierung des öffentlichen Sektors sowie massive Gehaltskürzungen für Staatsangestellte führten insbesondere nach Februar 2016 zu einem Massenstreik, dem sich sogar die Sicherheitsbeamten und einige Peschmerga anschlossen, die zwar nicht unter Gehaltskürzungen litten, aber unter verspäteten Gehaltszahlungen und der Unfähigkeit des Staates, die Grundbedürfnisse an der Front zu decken. Obwohl Lehrer*innen normalerweise nicht als revolutionäre Kraft gelten, so waren gerade sie es, die für drei Monate die öffentlichen Schulen in Sulaimaniyya bestreikten. Daraus entstand die Gruppe «Unsatisfied Teachers» (Mamostayanî Narazî), die die Proteste anführte. Nach 2014 bildeten sich zudem auf den Straßen Sulaimaniyyas «People´s Courts» (mahkamaî xalk)[12], vielleicht der deutlichste Ausdruck, dass man das Vertrauen in die existierenden politischen Strukturen verloren hatte.

Ähnlich war es in der Stadt Basra, deren Einwohner 2011, wie so oft schon in der Geschichte des Irak, auf die Straßen gingen. Seitdem findet eine jährliche intensive Mobilisierung statt, die in den Massendemonstrationen 2018 kulminierte. Die soziale Situation war 2018 in Basra ausgesprochen angespannt: Kein Zugang zu Trinkwasser, kein Strom, es war klar, dass es ums «Überleben» ging. Das Ergebnis waren neun Toten, über 400 Verletzen, 80 davon auf Seiten der Sicherheitskräfte, und über 400 Verhafteten alleine zwischen Juli und September 2018. Bei vielen erweckte das unweigerlich Erinnerungen an den blutig niedergeschlagenen Aufstand von 1991.

Insbesondere jugendliche Frauen und Männer, die zu großen Teilen arbeitslos sind, gingen auf die Straßen. Ihre Forderungen waren Arbeitsplätze, später kamen Wasser und Strom hinzu sowie das Wissen, dass viele Dienstleistungen aufgrund von Korruption und Klientelismus nicht als öffentliche Güter allen zur Verfügung stehen. Die erste Demonstration fand um die Stadt Maidana statt, ganz in der Nähe eines Ölfeldes.

Die Gewalt wurde hier bewusst vom Staat eingesetzt,  um die Demonstrationen schnell zu beenden.[13] Die Demonstrationen 2018 wurden nicht von politischen Parteien angeführt, auch die lokalen Stämme unterstützten die Proteste kaum. Durch den Brandanschlag auf das iranische Konsulat, Angriffe auf den Sitz der Dawa-Partei, des Obersten Islamischen Rats (SCIRI) und der Badr-Brigaden, die Teil der schiitischen Hash al-Sha´bi sind, brachten die Protestierenden ihre Ablehnung gegenüber dieser Politik und Einflussnahme zum Ausdruck. «Ich gehöre keiner Partei an. Ich bin eine freie unabhängige Person. Es gab zwar viele Parteien und Organisationen, die auf den Demonstrationen waren, aber das war nicht wichtig. Wir waren einfach alle eins», erzählt die 25- jährige Hajeera, die selber intensiv in die Proteste verwickelt war. In ihrer Aussage spiegelt sich das tiefe Mistrauen in politische Gruppen wider, und es erklärt die Dynamik der Proteste. Gewerkschaften für Arbeiter*innen des öffentlichen Dienstes, wozu auch die Arbeiter des Erdölsektors zählen, bleiben im Irak ebenso wie zu Zeiten Saddam Husseins illegal - trotz der hart erkämpften Änderungen im Arbeitsgesetz in 2015. Parteien gelten als nur den eigenen Interessen verpflichtet und somit oft weder als revolutionär noch als patriotisch. Die Betonung des «Unpolitischen» hat neue Organisationsformen hervorgebracht: Nachbarschaftskomitees, sogenannte tansiqiyyat, Koordinationskomitees. Diese Form der Organisation spielte sowohl während des Aufstandes in Syrien, aber auch im Sudan mit den Lijan al Muqawama eine wichtige Rolle. Allerdings: die Nachbarschaftskomitees sind keine Langzeitstrukturen, sie erarbeiten auch kein politisches Programm, und es ist unklar, wie sie sich auch auf der Nachbarschaftsebene legitimieren. «Deswegen haben wir die Leute in den Nordirak eingeladen, um so von Aktivist*innen hier zu lernen, wie sie sich hier in den 90er Jahren, nach dem Golfkrieg und vor der totalen Machtübernahme der politischen Parteien, in lokalen Räten selbst organisiert haben, insbesondere in den Fabriken», erklärt ein Aktivist der WCPI.

Seien es die Arbeiter*innen im Norden oder Süden des Irak, die Koordinationskomitees im Süden oder die People´s Courts in Kurdistan-Irak, eines haben diese Formen der Organisierung gemeinsam: sie sind anti-konfessionell, und sie lehnen sich gegen ein ethno-politisches System auf, das durch die US-Besatzungsmacht aufgebaut wurde. Sie fordern ein Ende eines auf Klientelismus aufbauenden Systems. In ihrem und durch ihren Protest stellen sie Formen der politischen Organisation dar, die der Organisierung in Parteien und deren Versprechen eine Absage erteilen. Stattdessen wird versucht, politische Ziele durch die Organisierung  in außerpolitischen Räumen zu erreichen.


[1] Ali, Z. (2018). Women and Gender in Iraq: Between Nation-Building and Fragmentation. Cambridge: Cambridge University Press.

[2] Alle Gespräche für diesen Artikel wurden zwischen März 2018 und August 2019 in Berlin, Kurdistan-Irak und Bagdad geführt. Die Interviews wurden im August und September 2019 über Whatsapp geführt.

[3] Ali, Z. (2018). Women and Gender in Iraq: Between Nation-Building and Fragmentation. Cambridge: Cambridge University Press, S. 154.

[4] Issa, A. (2015). Against All Odds: Voices of Popular Struggle in Iraq. Washington, DC: Tadween Books, S. 1.

[5] Issa, A. (2015). Against All Odds: Voices of Popular Struggle in Iraq. Washington, DC: Tadween Books, S. 1 (eigene Übersetzung).

[6] Ali, Z. (2018). Women and Gender in Iraq: Between Nation-Building and Fragmentation. Cambridge: Cambridge University Press, S. 128.

[7] Ali, Z. (2018). Women and Gender in Iraq: Between Nation-Building and Fragmentation. Cambridge: Cambridge University Press, S. 154.

[8] Interview Sami.

[9] Prashad, V. in: Issa, A. (2015). Against All Odds: Voices of Popular Struggle in Iraq. Washington, DC: Tadween Books, S. x.

[10] Interview Viyan.

[11] Interview Sami.

[12] Interview Viyan.

[13] Interview Hajeera.