Publikation Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - International / Transnational - Amerikas - Andenregion Bolivien nach den Wahlen: Ein gespaltenes Land

Bleibt Evo Morales für eine vierte Amtszeit bis zum Jahr 2025 Präsident von Bolivien?

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Thomas Guthmann, Steffen Heinzelmann,

Erschienen

Oktober 2019

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Evo Morales in La Paz, Bolivien, 24.10.2019
Präsident Evo Morales nach der Pressekonferenz am 24. Oktober 2019 im neuen Regierungsgebäude «La Casa Grande del Pueblo» in La Paz, Bolivien REUTERS/David Mercado

Bolivien ist gespalten. Dem offiziellen Endergebnis der Wahlbehörde zufolge hat Evo Morales die Wahl in der ersten Runde gewonnen – diese Ergebnisse sind aber umstritten: Während Morales mit seinen Anhänger*innen in verschiedenen Städten die Fortführung seiner «Cambio»-Politik feiert, beklagen Regierungsgegner*innen einen Wahlbetrug und internationale Beobachter*innen weisen auf Unregelmäßigkeiten hin und sprechen sich für eine Stichwahl aus. Ist Evo Morales seine eine vierte Amtszeit als Präsident bis zum Jahr 2025 sicher – oder gibt es doch noch eine Stichwahl?

Die Ereignisse überschlugen sich an den Tagen nach der Präsidentschaftswahl vom 20. Oktober, die Lage ist unübersichtlich: Am Tag nach der Wahl erklärte zunächst das Oberste Wahlgericht, das Tribunal Supremo Electoral (TSE), Morales im ersten Wahlgang zum Sieger. Diese Meldung rief heftige Kritik hervor, lag Morales doch am Wahlabend selbst, bei Auszählung von 84 Prozent der Stimmen, nur sieben Prozent vor seinem Widersacher Mesa. Und um im ersten Wahlgang zu gewinnen, muss ein Kandidat entweder die absolute Mehrheit bekommen, die Morales aber verfehlt hat, oder aber mindestens 40 Prozent erhalten bei gleichzeitig mindestens zehn Prozent Vorsprung vor dem Zweitplatzierten. Für Verwirrung sorgte dabei, dass die Oberste Wahlbehörde (Órgano Electoral Plurinacional, OEP) am Wahlsonntag abends die Auszählung aussetzte und danach keine aktualisierten Zahlen mehr bekanntgab.

Am Montag aktualisierte das TSE – fast 24 Stunden nach dem Stopp der Veröffentlichung – die Zahlen der Schnellauszählung.[1] Nun lag Morales mit 46,9 Prozent der Stimmen zehn Prozent vor dem Zweitplatzierten Carlos Mesa (36,7 Prozent). Damit würde Morales in der ersten Runde als Sieger hervorgehen.[2] Wegen des 24-stündigen Stopps der Auszählung zu einem Zeitpunkt, als es so aussah, als müsse Morales in die Stichwahl gehen, und die Verkündung seines Sieges danach, sprachen Regierungskritiker*innen und Gegenkandidat*innen von Wahlbetrug. Im Internet kursierten bald Videos, die manipulierte Wählerlisten und Abstimmungszettel zeigten. In verschiedenen Städten Boliviens kam es deswegen bereits einen Tag nach der Wahl abends zu Protesten und Angriffen auf Büros der Wahlbehörden. Vor der Wahl hatten es immerhin 68 Prozent der Befragten für möglich gehalten, dass es zu einer Manipulation des Ergebnisses kommen könnte, und sahen sich durch die undurchsichtige Aussetzung der Schnellauszählung,[3] aber auch durch die Berichte über gefälschte Wahlzettel bestätigt.

Autoren

Thomas Guthmann ist Journalist und Erziehungswissenschaftler, arbeitet zurzeit in El Alto in einem Kulturzentrum und berichtet über Bolivien für den Nachrichtenpool Lateinamerika und die Lateinamerika Nachrichten.

Steffen Heinzelmann ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Berater für Kommunikation und internationale Netzwerke in Bolivien.

Das endgültige Ergebnis wurde am Wochenende nach der Wahl bekannt gegeben: Demnach erhielt Evo Morales 47,08 Prozent der Stimmen, Carlos Mesa 36,51 Prozent, Chi Hyun Chung 8,78 und Carlos Ortíz 4,42 Prozent. Nach diesem Ergebnis ist Morales im ersten Wahlgang wiedergewählt worden. Das ficht der zweitplatzierte Carlos Mesa an. Er beklagte, das Wahlergebnis sei manipuliert worden, und kündigte Widerstand an:[4]  «Wir werden nicht zulassen, dass ein Ergebnis manipuliert wird, das uns in die Stichwahl bringt.»[5]

Bürgerkomitees in acht Departamentos (Regierungsbezirken) forderten ebenfalls eine Stichwahl und begannen einen unbegrenzten Streik mit Straßenblockaden. Auf den Straßen versammeln sich seitdem regelmäßig Regierungsgegner*innen aus der Oberschicht gemeinsam mit Jugendlichen, Feminist*innen und indigenen Organisationen. Auch die Wahlbeobachter*innen der Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) zeigten sich besorgt: Sie bemängelten vor allem den Stopp der Veröffentlichung von Ergebnissen am Wahlabend und sprachen sich am Mittwoch für eine Stichwahl aus. Die USA, die Europäische Union und verschiedene lateinamerikanische Staaten befürworteten dies.

Präsident Evo Morales hatte sich dagegen in seiner Rede im Regierungspalast noch am Wahlsonntag zum Sieger erklärt: «Wir haben einmal mehr gesiegt, jetzt haben wir vier Wahlen hintereinander gewonnen, das ist historisch und völlig neu.»[6] Er warte nur noch auf die Auszählung der Stimmen aus den ländlichen Regionen, die seinen Sieg bereits im ersten Wahlgang bestätigen werde.[7] Evo Morales bekräftigte diese Position in einer Pressekonferenz am Mittwochmorgen und warnte angesichts der Proteste vor einem «Staatsstreich» der Rechten mit internationaler Unterstützung. Er forderte die Bevölkerung und internationale Organisationen auf, die Demokratie zu verteidigen. «Wir erklären uns im Ausnahmezustand und in einer friedlichen, konstitutionellen und dauerhaften Mobilisierung, um die Demokratie zu verteidigen, die Bolivien so viel gekostet hat.»[8] Am Donnerstag feierte die regierende Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS) in der Stadt Cochabamba ihren Wahlsieg. An der Versammlung nahmen neben dem Präsidenten auch Parteimitglieder, Gewerkschafter*innen und Vertreter*innen der Koka-Verbände aus dem Umland teil. Gleichzeitig boten der Präsident und der Außenminister Diego Pary eine transparente Prüfung des Wahlprozesses an, Stimme für Stimme könne nachgezählt werden. Die OEA nahm an.

Obwohl Morales die meisten Stimmen erhielt, verloren er und seine Partei deutlich im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren. In den Monaten vor der Abstimmung war von verschiedenen Seiten kritisiert worden, dass Morales insgesamt das vierte Mal zur Wahl antrat,[9] obwohl die Verfassung Boliviens eigentlich nur eine Wiederwahl erlaubt und sich eine knappe Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum Anfang 2016 gegen eine erneute Kandidatur von Morales ausgesprochen hatte.

Auseinandersetzungen zwischen Unterstützern der beiden Präsidentschaftskandidaten Evo Morales (Movimiento Al Socialismo) und Carlos Mesa (Comunidad Ciudadana) am 24.10.2019 in La Guardia. DANIEL WALKER / AFP.

Die Kandidat*innen

Evo Morales Ayma (MAS), geboren 1959 in Isallavi im Departamento Oruro, ist seit dem 22. Januar 2006 Staatschef. Damit ist er der am längsten regierende Präsident des Andenlandes. Morales ist Aymara und gilt als erster indigener Präsident Lateinamerikas. Er stammt aus ärmlichen Verhältnissen und wuchs mit drei Geschwistern im ländlichen Hochland auf. Als 23-Jähriger migrierte er 1982, wie viele Bolivianer*innen, in die Region Cochabamba, da die Lebensbedingungen im Hochland immer schwieriger wurden. Dort wurde er Koka-Bauer und begann, sich in der örtlichen Koka-Bauerngewerkschaft[10] zu engagieren. Bereits vorher hatte er erste Erfahrungen in der Gewerkschaftsarbeit im Hochland gesammelt. Nach einer kurzen Episode als Sekretär für Sportangelegenheiten wurde er 1988 Geschäftsführer der Federación Trópico de Cochabamba,[11] einen Gewerkschaftsposten, den er bis heute bekleidet.

Zu diesem Zeitpunkt begann in Bolivien ein Kreuzzug gegen die Drogen; im Fokus standen die Koka-Bauern und -Bäuerinnen um Evo Morales. Der Drogenkrieg wird oft als die Zeit bezeichnet, in der die politische Basis der MAS, neben Indigenenverbänden vor allem kleinbäuerliche Gewerkschaften, in der Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Gegner – außer den bolivianischen Sicherheitskräften wurden auch Spezialkräfte der US-amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA (Drug Enforcement Agency) eingesetzt – ihre Feuertaufe bestand.

Evo Morales wurde in dieser Zeit zu einem einflussreichen Anführer. Als zu Beginn der 2000er Jahre die Spannungen im Land zunahmen und es zu einer Reihe politischer Auseinandersetzungen kam, war er Vorsitzender der MAS, einer bis dahin unbekannten Splitterpartei. In den Wahlen 2002 erhielt diese Partei unter der Führung von Morales 20,9 Prozent der Stimmen und unterlag nur knapp Gonzalo Sanchez de Lozada, der mit 22,4 Prozent gewann. Bei den Wahlen 2005 errang dann Morales – als erster Kandidat überhaupt in der Geschichte des Landes – die absolute Mehrheit, mit 53,7 Prozent. 

Als aussichtsreichster Gegenkandidat von Präsident Evo Morales nannten die Umfragen praktisch das ganze Jahr 2019 hindurch Carlos de Mesa Gisbert von der Comunidad Ciudadania (CC).[12] Carlos Mesa, geboren 1953 in La Paz, gilt als Intellektueller und Philanthrop aus der Oberschicht. Er ist Historiker, Journalist und Dokumentarfilmer.

Politisch ist er kein unbeschriebenes Blatt: Mesa war 2003 Vizepräsident unter dem damaligen Präsidenten Gonzalo «Goni» Sánchez de Lozada, als dieser im sogenannten Gaskrieg Proteste blutig niederschlagen ließ. Bei diesen Massenprotesten gegen ein Abkommen über den Export von Erdgas wurden mehr als 60 Menschen getötet und mehrere hundert verletzt, Sánchez de Lozada wurde deshalb zum Rücktritt gezwungen und floh in die USA; Mesa übernahm verfassungsgemäß die Nachfolge als bolivianischer Präsident und blieb dies bis zu seinem Rücktritt 2005. Zurücktreten musste er nicht zuletzt wegen neuerlicher Proteste von Koka-Bauern und -Bäuerinnen in der Region Chaparé, zu denen der damalige Gewerkschaftsführer Evo Morales aufgerufen hatte.

Mesa hat sich von dem Angriff der Soldaten auf Protestierende 2003, der als «Schwarzer Oktober» in Boliviens Geschichte einging, distanziert. Trotzdem wurde ihm die politische Nähe zu Sánchez de Lozada und der Gaskrieg 2003 während des aktuellen Wahlkampfs immer wieder vorgeworfen. In der Woche vor der Wahl errichteten Unbekannte in El Alto zwölf riesige Plakatwände, die Bilder von Mesa mit dem damaligen Präsidenten «Goni» zeigten und Fotos von im «Schwarzen Oktober» getöteten Menschen.

Im Wahlkampf gab sich Mesa volksnah, in Werbespots zeigte er sich mit hochgekrempelten Hemdsärmeln. Heftige Kritik erntete Mesa, als er im Dezember 2018 ankündigte, die Sozialprogramme der MAS zu streichen. Ansonsten positionierte er sich politisch wenig konkret zwischen dem Programm der Regierung Morales und dem Neoliberalismus des Kandidaten Óscar Ortiz; Anhänger*innen fand er unter denjenigen, die gegen eine weitere Amtszeit von Evo Morales sind.

Erst gegen Ende des Wahlkampfs machte Chi Hyun Chung (Partido Demócrato Cristiano, PDC),[13] geboren 1970 im südkoreanischen Gwangju, auf sich aufmerksam. Das gelang dem Mediziner und evangelikalen Pastor vor allem mit frauenfeindlichen und homophoben Tiraden. Homo- und Transsexuellen warf er Sündhaftigkeit vor und gab ihnen die Schuld an den verheerenden Waldbränden in der Chiquitanía. Von einzelnen bolivianischen und ausländischen Medien wurde Chi als der «Bolsonaro Boliviens» bezeichnet.[14] Und tatsächlich erhielt er gerade von den in Brasilien lebenden Bolivianer*innen relativ viele Stimmen, er landete bei der Wahl überraschend auf dem dritten Platz mit über acht Prozent der Stimmen.

In den Umfragen lag Óscar Ortiz Antelo, geboren 1969 in Santa Cruz de la Sierra, die ganze Zeit vor Chi. Ortiz erhielt vor allem von den Bürgerkomitees «Bolivia Dice No» Unterstützung, Zusammenschlüssen von Gegner*innen einer erneuten Kandidatur von Evo Morales, die bei dem Referendum im Februar 2016 eine Mehrheit erreicht hatten. Ortiz vertritt als langjähriger Senator das Departamento Santa Cruz und fand Wähler*innen vor allem in seiner Heimatstadt Santa Cruz und im benachbarten Beni. Der Betriebswirt setzte auf ein wirtschaftsliberales Programm; er ist stark mit der Wirtschaft und dem Agrobusiness in seiner Heimatregion verbunden. Gleichzeitig kündigte er an, entschlossen gegen die Korruption vorgehen zu wollen; auf seinen Wahlplakaten streckte er den Betrachter*innen die leeren Handflächen entgegen, darunter der Slogan: «Mit sauberen Händen».

Die anderen fünf Präsidentschaftskandidat*innen blieben im Wahlergebnis unter einem Prozent, lediglich die Movimiento Tercer Sistema kam auf etwas über ein Prozent. Klassenkämpferische und trotzkistische Parteien der Linken, wie Partido Obrero Revolucionario (POR) oder die Liga Obrera Revolucionaria – Cuarta Internacional (LOR-CI), die 1952 die Revolution in Boliviens mitgeprägt hatten, standen nicht auf dem Wahlzettel. Sie sprachen sich dafür aus, bei der Abstimmung ungültig zu wählen (in Bolivien gilt Wahlpflicht), und bereiten sich, wie auch einige von der MAS unabhängige Gewerkschaften, auf die Zeit nach der Wahl und die politische Auseinandersetzung auf der Straße mit der neuen oder alten Regierung vor.

Verluste der Regierungspartei und konfuse Auszählung

Nach fast 14 Jahren an der Macht haben Evo Morales und die MAS erneut die meisten Stimmen gewonnen, mussten aber deutliche Verluste hinnehmen. Die mehr als sieben Millionen registrierten Wahlberechtigten wählten am 20. Oktober 2019 neben der Präsidentin oder dem Präsidenten auch 130 Abgeordnete und 36 Senator*innen für die Legislaturperiode 2020 bis 2025.

Die vorhergehenden Präsidentschaftswahlen hatte Evo Morales deutlich für sich entschieden: 2005 wurden Morales und sein Vizepräsident Álvaro García Linera mit 53,7 Prozent der Stimmen gewählt, 2009 erreichten sie 64,2 und 2014 immerhin noch 61,4 Prozent. In diesem Jahr erzielte Morales  47,08 Prozent und verlor im Vergleich zur Wahl fünf Jahre zuvor fast 15 Prozentpunkte. Zweiter wurde Carlos Mesa mit überraschenden 36,51 Prozent, dahinter landeten Chi Hyun Chung mit 8,78 Prozent und Óscar Ortiz mit 4,42 Prozent.[15]

Die Verluste von Morales und der MAS, aber auch die traditionelle politische Spaltung Boliviens zwischen dem Hochland im Westen und dem Tiefland im Osten zeigen sich auch beim Blick auf die neun Departamentos Boliviens: 2014 hatte Morales in acht von neun Regierungsbezirken die meisten Stimmen erreicht, diesmal gewann er in  sechs.[16] Morales erhielt die meisten Stimmen in den ländlichen Gebieten; während Mesa in Santa Cruz, La Paz, Cochabamba und anderen Großstädten die Mehrheit erzielte, lag Morales im indigen geprägten El Alto und auf dem Land weit vor ihm.

Bei der gleichzeitigen Wahl zum Abgeordnetenhaus und zum Senat blieb die MAS stärkste Gruppierung, verlor aber ihre bisherige Zweidrittelmehrheit und rutschte im Abgeordnetenhaus unter 50 Prozent.

Wahlkampfthemen

Während Evo Morales und die MAS im Wahlkampf die Erfolge ihrer bisherigen Regierungszeit herausstrichen und mit dem Slogan «Futuro Seguro» (Sichere Zukunft) für eine weitere Amtszeit warben, setzten Mesa wie Ortiz auf das Thema Korruptionsbekämpfung in Verwaltung und Polizei; vor allem aber versuchten sie zu punkten, indem sie Morales zu einem illegitimen Kandidaten erklärten. Durch die Niederlage beim Referendum am 21. Februar 2016, bei dem eine knappe Mehrheit von 51,3 Prozent gegen eine Verfassungsänderung und damit gegen eine weitere Kandidatur von Evo Morales votiert hatten, war dessen Kandidatur von Beginn an belastet. Sie wurde erst vom Obersten Verfassungsgerichtshof legitimiert, der im November 2017 Moralesʼ Kandidatur mit der Begründung zuließ, das persönliche passive Wahlrecht sei ein Menschenrecht, der Verfassungsartikel, der ein weitere Kandidatur untersage, damit unzulässig. Das Gericht berief sich dabei auf Artikel 23 der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention. Das umstrittene Urteil verstärkte bei den Gegner*innen der regierenden MAS den Eindruck, dass sich Bolivien unter Morales zunehmend zu einem autoritären Staat entwickele. Sie nutzen das Kürzel «21F» (eine Anspielung auf das Datum des Referendums) als Symbol für Betrug und Machtmissbrauch.

Auf der anderen Seite bezichtigten die Anhänger*innen der MAS die Opposition, diese plane eine neoliberale Wirtschaftspolitik und wolle die Errungenschaften und Sozialprogramme der Regierung Morales rückgängig machen. Carlos Mesa wurde durchgehend als Kandidat der Vergangenheit und eines politisch rechtskonservativen Boliviens bezeichnet. Er sei für die neoliberale Politik von Sánchez de Lozada als dessen Vizepräsident mitverantwortlich gewesen.

Die Erfolge, mit denen die Regierung im Wahlkampf warb, sind durchaus beachtlich. So verzeichnet die Wirtschaft seit Jahren ein stabiles Wachstum, gegenwärtig sogar das höchste Südamerikas,[17] und auch die Sozialpolitik und der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung hat Spuren im plurinationalen Staat hinterlassen. Zudem hat die MAS in der neuen Verfassung wichtige Forderungen der indigenen Bevölkerung verankert. Dazu gehören die Anerkennung von 36 indigenen Sprachen, die Autonomie indigener Territorien und die Erneuerung des Bildungssystems.

Dank des bislang stabilen Wirtschaftswachstums Boliviens, das vor allem durch die Ausbeutung und den Export von Rohstoffen wie Erdgas die Staatskassen füllte, konnten Sozialprogramme aufgelegt werden und die Armut im ganzen Land zurückgedrängt werden. Stützende Pfeiler dieser Strategie waren die Verstaatlichung der Erdgasvorkommen, die Ausdehnung der Landwirtschaft und der Ausbau der Bergbauindustrie zum Abbau von Erzen und Lithium. Lithium soll in den kommenden Jahren in großem Stil abgebaut werden und in Joint Ventures mit chinesischen und deutschen Partnern soll eine Batterieproduktion entstehen. Insgesamt hat sich das Bruttoinlandsprodukt seit dem Regierungsantritt von Evo Morales 2005 vervierfacht. Die Zahl der von extremer Armut betroffenen Menschen hat sich mehr als halbiert. Zudem hat sich in Bolivien die Einkommensungleichheit verringert.

Als Folge der Politik von Morales und seiner MAS gibt es heute in Bolivien eine neue, indigene Mittelschicht. Wie Pilze schossen in den vergangenen Jahren pittoreske Gebäude in El Alto aus dem Boden: die sogenannten Cholets mit ihren futuristischen Fassaden, verspiegelten Glasflächen, angereichert mit indigenen Elementen wie dem andinen Kreuz.

Selbst im relativ reichen Osten Boliviens um das Wirtschaftszentrum Santa Cruz, der sich vor wenigen Jahren noch vom Rest des Landes abtrennen wollte, scheinen sich die Unternehmer*innen und Großgrundbesitzer*innen der Agrarindustrie mit Evo Morales versöhnt zu haben. Die Agrarexporte Boliviens, in erster Linie Soja und Rindfleisch, fördern das Wirtschaftswachstum und stützen die Exportbilanz.

Insgesamt tat sich die Opposition daher schwer, thematisch im Wahlkampf zu punkten. Weder Carlos Mesa noch Óscar Ortiz zeigten klare Alternativen zur Regierungspolitik und insbesondere zum aktuellen Wirtschaftsmodell der MAS auf. Vizepräsident Álvaro García Linera fasste dies zwei Wochen vor dem Wahltag in einem Interview mit der Zeitung La Razón süffisant zusammen: «Sie sind uns nützlich, weil sie es nicht geschafft haben, bei den Wählern den Appetit, das Interesse, die Erwartung zu wecken auf etwas anderes, auf ein anderes Wirtschaftssystem, auf ein anderes Machtverhältnis im Staat.»[18] Lediglich der evangelikale Prediger Chi Hyun Chung sorgte mit frauenfeindlichen und homophoben Ausfällen und der Propagierung eines strikt konservativen Familienmodells zeitweise für Aufregung. Die erschreckend hohe Zahl an Frauenmorden und allgemein die Gewalt gegen Frauen im Land hatte die Opposition dagegen kaum thematisiert.

Carlos Mesa versuchte stattdessen zu Beginn des Jahres, Regierungsgegner*innen und Oppositionsparteien auf sich einzuschwören und sich als ihr Einheitskandidat zu präsentieren. Bei einem Treffen der Opposition im Mai scheiterte der Versuch, sich als Einheit der MAS entgegenzustellen. Daraufhin attackierte Ortiz Mesa bei verschiedenen Anlässen und versuchte ihm den zweiten Rang streitig zu machen. Die Spitzenposition von Morales stand dagegen nie wirklich zur Disposition. Also ging es Mesa von vorneherein darum, als Zweitplatzierter in die Stichwahl zu kommen, denn für diesen Fall räumten Umfrageinstitute dem Gegner sehr gute Chancen gegen den amtierenden Präsidenten ein.

Von August an dominierten dann die starken Brände im Amazonasgebiet[19] und in den Trockenwäldern im Osten Boliviens die politische Debatte und damit auch den Wahlkampf. Kurz zuvor hatte die Regierung Morales das Gesetz Nummer 741 und das Dekret 3973 verabschiedet und mit diesen Waldrodungen und «kontrollierte Brände» in Beni und Santa Cruz genehmigt. Für viele Beobachter*innen war dies ein Geschenk an die Agrarindustrie im Wahljahr – mit verheerenden Folgen: Von August bis Oktober verbrannten etwa vier Millionen Hektar Regenwald, vor allem im Regierungsbezirk Santa Cruz. Indigene Gemeinschaften und Umweltschützer*innen machten die Regierung Morales für die Katastrophe verantwortlich: Der Präsident habe zu spät und falsch reagiert, mit den beschlossenen Gesetzen habe er die Brände gefördert und diese dann nicht entschlossen genug bekämpft. Denn während es in der Chiquitania, einem Trockenwald im Departamento Santa Cruz, schon lichterloh brannte, feierte Ende August Präsident Morales in Santa Cruz mit den Agrarverbänden den Beginn der Fleischexporte nach China. Erst die ersehnten Regenfälle löschten im Oktober die Feuer.

Der aus Santa Cruz stammende Journalist Tuffi Aré bezeichnete im August die Chiquitania als die Achillesferse im Wahlkampf der MAS: «Bisher schien es so, als ob die MAS führt und den Vorsprung nur verwalten muss, aber die Chiquitania könnte das ändern.» Und in der Tat haben die Waldbrände vor allem einen Teil der städtischen Bevölkerung und der jungen Bolivianer*innen gegen Morales aufgebracht. Sie werfen der Regierung einen Widerspruch zwischen ihren Reden und Taten vor: So sind in der bolivianischen Verfassung die Rechte der «Mutter Erde» geschützt, aber gleichzeitig nimmt die MAS deren Zerstörung in Kauf – durch Ausbeutung von Rohstoffen, durch den Bau von Megastaudämmen und die Ausweitung von Viehzucht und Agrobusiness.

Doch nicht nur mit diesen Gruppierungen kam es zu einem Bruch. Auch viele Linke und indigene Organisationen haben sich von der MAS inzwischen abgewandt. Das liberale Wirtschaftsmodell, das auf Ausbeutung der natürlichen Ressourcen setzt und eine klassische Industrialisierung vorantreiben will, hat wenig mit einer kommunitären Ökonomie gemein, die die Regierung in Sonntagsreden immer noch hochhält.

Kein Ergebnis und viele Konflikte

Nach der Wahl herrscht Ungewissheit und die Lage ist äußerst angespannt, nachdem Mesa das amtliche Wahlergebnis nicht anerkennt. In dieser Situation könnten die gesellschaftlichen Konflikte in Bolivien zwischen rechts und links, Land und Stadt, Hochland im Westen und Tiefland im Osten, Indigenen und Mestizen erneut aufflammen. In Tarija, Chuquisaca, Beni, Pando und Potosí kam es bereits in der Nacht zum 22. Oktober zu schweren Ausschreitungen, bei dem Büros der Wahlbehörden angegriffen und in Brand gesteckt wurden. In Santa Cruz wurde am selben Tag ein unbefristeter Streik ausgerufen, seit Freitag, dem 25. Oktober, gilt der Streikaufruf für das ganze Land. 

Die Opposition will auf jeden Fall eine Stichwahl. Sollte sie diese gewinnen, ist ungewiss, ob sich die MAS mit einem Präsidenten Carlos Mesa abfinden wird. Auf der letzten großen Versammlung der Opposition vor der Wahl in La Paz wurde Morales bereits gedroht, er könne nach einer Wahl Mesas mit seiner Verhaftung rechnen. Die Wahl des «Philanthropen» aus der weißen Oberschicht von La Paz dürfte auch bei den indigenen Organisationen die Alarmglocken schrillen lassen. Sie befürchten für diesen Fall, dass Rassismus und Diskriminierung zurückkehren. Mit diesem Thema hätte die MAS die Möglichkeit, die momentan zersplitterten indigenen und Campesino-Organisationen unter ihrer Führung wieder zu einen und zu Protestformen auf der Straße zurückzukehren.

Direkt nach der Wahl hielt sich die Regierung, abgesehen von der Erklärung, man habe die Wahl bereits gewonnen, mit weiteren Provokationen zurück. Inzwischen spricht sie jedoch von einem Putschversuch der Rechten. Carlos Mesa sei für die Ausschreitungen verantwortlich und werde dafür zur Rechenschaft gezogen, verkündete Staatsminister Romero. 

Eine Lösung des Konflikts zeichnet sich nicht ab, weil die MAS und Morales den Sieg im ersten Wahlgang für sich reklamieren und Gegenkandidat Mesa eine Stichwahl im Dezember. Letzteres wurde am Mittwoch nach der Wahl auch von der OEA als möglicher Ausweg vorgeschlagen. Für die MAS und Präsident Morales ist eine Stichwahl riskant, denn eine geeinte konservative Rechte könnte Morales in einem zweiten Wahlgang besiegen; ob das gelingt ist nicht abgemacht. Zwar haben die Kandidaten Chi und Ortiz Mesa bereits ihre Unterstützung zugesagt, Chi hat seine Unterstützung allerdings davon abhängig gemacht, dass Mesa seine liberale Position gegenüber Feministinnen und Homosexuellen aufgibt.

Eine interessante Rolle werden bei einer Stichwahl Jugendliche und Frauen spielen. Die Hälfte der bolivianischen Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt. Die meisten von ihnen kennen als Staatsoberhaupt nur Morales und viele Errungenschaften der Regierung sind für sie fast selbstverständlich. Zukunftschancen, Umweltschutz und Geschlechterverhältnisse spielen für einen Teil dieser Jugendlichen eine wichtige Rolle. Und auch Frauen könnten die weitere Entwicklung Boliviens maßgeblich prägen. Der Anteil von Frauen im bolivianischen Parlament ist hoch, die Kandidaten der MAS für Präsidentschaft und Vizepräsidentschaft sind allerdings wieder zwei Männer und unter den neun Präsidentschaftskandidat*innen war nur eine Frau. Gleichzeitig sind die hohe Zahl von Morden an Frauen, die alltägliche Gewalt gegen Frauen und die Ungleichbehandlung in der patriarchalischen Gesellschaft Themen, die immer stärker diskutiert werden. In der Woche nach der Wahl plädierte die bekannte bolivianische Feministin María Galindo von der Organisation «Mujeres Creando» dafür, dass jetzt starke Frauen eine Lösung für den Konflikt vorschlagen müssten, um eine rassistische Konfrontation und Spaltung zu vermeiden.[20] Bisher gibt es jedoch keine Anzeichen, dass es in der polarisierten Lage zu einer Übereinkunft unabhängiger Kräfte kommt, die den Konflikt entschärfen könnten.

Der zukünftige Präsident muss sich nicht nur auf ein gespaltenes Land, sondern von 2020 an auch auf einen Wirtschaftsabschwung einstellen, da sich die regionalen Rahmenbedingungen mit der wirtschaftlichen Situation in den Nachbarländern und den weltweiten Rohstoffpreisen deutlich verschlechtert haben. Gerade das Verhältnis zu Argentinien, wo am 27. Oktober 2019 gewählt wird, und das zum Brasilien Bolsonaros sind unklar. Inwiefern die ökonomische Entwicklung durch Exporte nach China und Russland und durch eine wirtschaftlich-politische Zusammenarbeit mit diesen Ländern abgefedert werden kann, ist ungewiss. Ungewissheit herrscht auch über den Dollarkurs, der in Bolivien derzeit gestützt wird und eine Inflation verhindert.

Zudem stehen bereits Anfang 2020 in Bolivien Wahlen in den Departamentos und den Städten an. Die Parteien und Gruppierungen stehen sich also schon bald im nächsten Wahlkampf gegenüber und machen eine Kooperation oder Verständigung noch unwahrscheinlicher.


[1] Bei den Wahlen veröffentlichte die OEP im Internet sowohl Zahlen der Schnellauszählung TREP (Transmisiäon de Resultados Electorales Preliminares, https://trep.oep.org.bo) als auch der offiziellen Auszählung (Cómputo oficial, https://computo.oep.org.bo). Zeitweise erfolgte dies gleichzeitig und TREP und Cómputo zeigten unterschiedliche Auszählungsfortschritte und Ergebnisse, was die Verwirrung noch erhöhte.

[2] Für einen Erfolg im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl muss in Bolivien ein*e Kandidat*in mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten oder mindestens 40 Prozent bei mehr als zehn Prozent Vorsprung auf die oder den Zweitplatzierte*n.

[9] Die aktuelle Wahl von Morales ist insgesamt seine vierte seit 2005, gilt aber als dritte Kandidatur gemäß der neuen Verfassung von 2009, da diese während des ersten Mandats von Morales verabschiedet wurde.

[10] Der Begriff Gewerkschaft (Sindicato) wird in Bolivien großzügig verwendet und auch für die Bezeichnung von Verbänden oder Kooperativen benutzt. Die Koka-Bauern sind in Sindicatos, also Gewerkschaften, organisiert, sie agieren manchmal wie Gewerkschaften, sind aber auch Interessenverbände. In diesem Text wird der Terminus Gewerkschaft übernommen und nicht durch Verband ersetzt.

[11] Koka-Bauerngewerkschaft des tropischen Teils im Departamento Cochabamba.

[12] Comunidad Ciudadana ist ein Parteienbündnis, das von der Revolutionären Linken Front (Frente Revolucionaria de Izquierda, FRI) und von der Partei Souveränität und Freiheit (Soberania y Libertad, Sol.Bo) gegründet wurde und von der Unidad Nacional unterstützt wird. Die FRI ist eine ehemals linke marxistische Partei, die ihre Struktur Carlos Mesa zur Verfügung gestellt hat, Sol.Bo stellt in La Paz den Bürgermeister. Die Partei wollte ursprünglich selbst antreten, konnte aber die formalen Kriterien nicht erfüllen. Unidad Nacional ist die Partei des Unternehmers Doria Medina.

[13] Die christlich-demokratische Partei wurde 1954 gegründet. Bei der Präsidentschaftswahl 2014 erreichte die PDC neun Prozent.

[15] Alle Zahlen Organo Electoral Plurinacioinal: https://computo.oep.org.bo/ .

[16] Morales erzielte die Mehrheit in den Regionen Cochabamba, La Paz, Oruro, Pando und Potosí und Beni, Mesa siegte in Chuquisaca, Santa Cruz und Tarija.

[17] Vgl. Comisión Económica para América Latina y el Caribe (Cepal), unter: www.bbc.com/mundo/noticias-46651662.

[19] Gleichzeitig gab es schwere Waldbrände auch in Boliviens Nachbarländern Brasilien, Paraguay und Peru.