Publikation Parteien / Wahlanalysen - Afrika - Nordafrika - Westasien im Fokus Wahlen in Tunesien: Ein Schock für die Linke

Die Dynamiken der tunesischen Linken in den Wahlen von 2019 und die Niederlage der traditionellen Linken

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Online-Publ.

Autor

Mounir Mrad,

Erschienen

November 2019

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Präsident Nabil Baffoune gibt eine Pressekonferenz zur Bekanntgabe der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Tunesien am 14. Oktober 2019 in Tunis.
Präsident Nabil Baffoune gibt eine Pressekonferenz zur Bekanntgabe der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen in Tunesien am 14. Oktober 2019 in Tunis. Sieger in der Stichwahl wurde der Newcomer und konservative politische Außenseiter Kais Said.  Anis Mili / AFP

Im Oktober 2019 fanden die zweiten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen[1] in Tunesien statt, nachdem ein Massenaufstand im Januar 2011 den alten Diktator Zine Al-Abidine Ben Ali in die Flucht getrieben hatte. Zu den Parlamentswahlen Im Jahre 2014 war ein großer Teil der radikalen Linken noch unter dem Banner der Volksfront für die Verwirklichung der Ziele der Revolution (Front Populaire pour la réalisation des objectifs de la révolution) gemeinsam angetreten. Dem Parteienbündnis gehörten unterschiedliche ideologische Strömungen an: Marxisten-Leninisten, Ex-Kommunisten, Trotzkisten, Sozialdemokraten und Panarabisten. Die beiden wichtigsten Organisationen in der Allianz waren die ehemals maoistische Vereinigte Bewegung Demokratischer Patrioten (allgemein bekannt als Watad) und die Arbeiterpartei Tunesiens (PT), die früher einmal Albanien unter Enver Hoxha nahegestanden hatte. 2014 wurde die Volkfront viertstärkste Partei. [2] Ihr Spitzenkandidat Hamma Hammami, zugleich Generalsekretär der Arbeiterpartei, kam bei den Präsidentschaftswahlen im gleichen Jahr mit fast 8 Prozent und über 250.000 Stimmen sogar auf den dritten Platz. Mitte-links-Parteien wie Ettayar ad-dimuqrati (Demokratische Strömung), Hizb al-jomhouri (Republikanische Partei) oder der aus der tunesischen KP hervorgegangene Al-Massar al-dimuqrati (Der demokratische Weg) schnitten 2014 nur schwach ab. Nachdem die bürgerlichen Parteien über alle ideologischen Gräben hinweg eine «Regierung der nationalen Einheit» gebildet hatten, wurde die Volksfront zur stärksten Oppositionspartei.

Hoffnungen, dass die Volksfront ihre Position angesichts wachsender sozialer Unzufriedenheit einerseits und dem Zerfall des bürgerlichen Lagers andererseits  bei den Wahlen 2019 ausbauen könnte, wurden enttäuscht. Ein knappes halbes Jahr vor dem Wahlmarathon spaltete sich die Volksfront in die in Allianz der Volksfront einerseits und die Allianz der Front andererseits. Ersterer gehörte Watad, die trotzkistische Ligue de gauche ouvrière (LGO) und die baathistische[3] Partei der sozialistischen Avantgarde (bekannt als Ettali’a) an, in der zweiten blieben die Arbeiterpartei und kleinere nationalistische Gruppen zurück.

Die Wahlergebnisse waren ein Schock für die Linke, die faktisch von der politischen Landkarte Tunesiens verschwunden ist. Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 25. September – der 92-jährige amtierende Präsidenten Beji Caid Essebi war am 25. Juli 2019 verstorben – erhielt Hamma Hamami, der für die Allianz der Front kandidiert hatte, gerade mal 0,7 % der Stimmen. Mongi Rahoui, Kandidat der Allianz der Volksfront, erhielt 0,8 Prozent der Stimmen und der Gewerkschafter Abid Briki, der im Sommer 2018 die gewerkschaftsnahe Partei Tunisie en avant gegründet hatte, kam gerade einmal auf 0,2 Prozent. Viele linke Stammwähler unterstützten statt dessen den eher linksliberalen Mohammed Abou von Ettayar oder den unabhängigen Präsidentschaftskandidaten Kais Said.  Bei der Stichwahl am 13. Oktober 2019 konnte sich der konservative und zugleich pro-revolutionäre Said mit einer überragenden Mehrheit von 72,71 Prozent gegen den Populisten und von vielen als Berlusconi Tunesiens bezeichneten Medien-Moghul Nabil Karoui durchsetzen.

Bei den Parlamentswahlen am 6. Oktober 2019, erlebte die Linke ebenfalls ein Fiasco. Nur jeweils ein Abgeordneter der Allianz der Volksfront sowie der Union démocratique sociale (Soziale Demokratische Union)[4] gelang der Sprung ins Parlament. Ettayar hingegen wurde mit 22 Sitzen drittstärkste Kraft hinter der konservativ-islamischen Ennahdha mit 52 und der populistischen Partei Nabil Karouis Qalb Tounes (Herz Tunesiens). Diese wurde überhaupt erst vier Monate vor der Wahl gegründet und erhielt auf Anhieb 38 Mandate. Neu im Parlament sind auch die islamistisch-populistische Koalition der Würde (I’tilaf al-Karama) mit 21, die Ben Ali-nostalgische Parti Destourien Libre (Freie Verfassungspartei) mit 17, und der nasseristischen[5] Mouvement du peuple (Bewegung des Volkes) mit 16 Sitzen. Großer Verlierer ist neben den Linksparteien das bürgerliche Regierungslager, das in mehrere Klein- und Kleinstparteien zerfallen ist.[6].

Was führte zu diesem Auseinanderdriften der Linken? Wo verorten sich die jungen linken AktivistInnen, die 2011 das Regime stürzten, heute? Und wie lässt sich erklären, dass gerade junge Linke zu Parteien wie Ettayar abgewandert oder den in gesellschaftlichen Fragen konservativen Kais Said unterstützt haben?

Aufstieg und Niedergang der Volksfront

Die Gründe für den Zusammenbruch der Volksfront sind vor allem hausgemacht und gehen auf einen Machtkampf zwischen den beiden größten Parteien der Allianz Watad und die Arbeiterpartei zurück, der schon länger schwelte und Ende Mai 2019 offen ausbrach.

Watad entstand im Jahre 1975 im studentischen Milieu als Demokratische Patrioten an der Universität (auch genannt Wataj). Ursprünglich Teil der nationalistischen Bewegung eigneten sich die Mitglieder von Watad mit der Zeit Fragmente marxistischer Theorie an. Die Arbeiterpartei unter Hamma Hamami – früher nannte sie sich Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens – ging 1986 aus den Scherben der Untergrundbewegung der Tunesische Arbeiter (al-‘amel al-tounisi) hervor. Beide Parteien haben ihre ideologischen Wurzeln im Maoismus, unterscheiden sich aber in ihrer Gesellschaftsanalyse und Fragen der sozialistischen Strategie.

Am 7. Oktober 2012 feierten tausende linker Parteianhänger im Kongresszentrum von Tunis die offizielle Gründung der Volksfront für die Verwirklichung der Ziele der Revolution. Für viele Linke ging ein langersehnter Traum in Erfüllung. In einer starken vereinigten Linken sahen sie den Schlüssel für eine progressive Wende des post-revolutionären Transformationsprozesses. Bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung hatte die Linke nur schwach abgeschnitten. Seit den 2011 wurde Tunesien von der sogenannten Troika regiert, einer Regierungsallianz zwischen dem Wahlsieger der islamistischen Ennahdha und zwei kleineren Parteien, der mitte-links Congrès pour la république (CPR) und der sich selbst als sozialdemokratisch bezeichnenden Ettakatol. In dieser Regierungskoalition hatte Ennahdha deutlich die Oberhand. Im Verfassungsprozess versuchte sie ihre Ideale und Vorstellungen durchzusetzen. So wurde der erste Artikel der Verfassung beibehalten,  der besagt, dass die Religion des tunesischen Staates der Islam ist[7]. Die hegemoniale Rolle von Ennahdha gepaart mit neuen politischen Freiheiten, gab radikaleren Kräften Auftrieb. Dies bezeugen z.B. die Parteikongresse der salafistischen Hizb al-Tahrir, die Besetzung der Manouba-Universität durch Salafisten oder der Angriff hunderter radikaler Islamisten auf die US-Botschaft, einige Tage vor der Gründung der Volksfront. Die Bildung der Volksfront war die Reaktion auf diese konfliktreiche Periode.

2013 war ein tragisches Jahr für die Volksfront; zwei führende Persönlichkeiten der Volksfront, Chokri Belaid, Generalsekretär der Watad, sowie Mohammed Brahmi, Parteivorsitzender der arabisch-nationalistischen Volksbewegung, wurden auf offener Straße kaltblütig erschossen. Hunderttausende Tunesier*innen beteiligten sich an den Trauermärschen. Die beiden politischen Morde waren prägend für die Identität und das Narrativ der Volksfront und wurden zum Bindeglied der unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb der Koalition. Viele Mitglieder gaben Ennahdha eine politische Mitschuld, wenn nicht gar eine Mittäterschaft, an den beiden Morden.  

Jedoch wurden in dieser Phase auch die Keime für die Konflikte gelegt,  die letztendlich im Jahr 2019 zu ihrer Spaltung führten.

Am 26. Juli, einen Tag nach der Ermordung von Mohammed Brahmi, riefen linke Aktivist*innen der Volksfront unter der Losung Errahil (Abgang) zu einem Sit-In vor dem Parlament in Bardo auf. Sie forderten den Rücktritt der Troika und die Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung. Parallel dazu bildete sich die Front de Salut national (FSN), in der die Parteien der Volksfront mit liberalen Parteien, darunter Nidaa Tounes kooperierten. Nidaa wurde 2012 als Sammelbecken des säkularen Establishments und Gegengewicht zu Ennahda gegründet. In ihren Reihen finden sich Persönlichkeiten des Bourguiba-Regimes,  liberale und linke Kräfte, aber auch ehemalige Mitglieder des Rassemblement constitutionnel démocratique (RCD; der ehemaligen Partei des Diktators Ben Ali). Aus diesem Grund sahen viele Linke in ihr eine Fortsetzung des alten Regimes. Als Nidaa immer stärker versuchte die Protestbewegung zu kooptieren, kritisierten viele linke Aktivist*innen die Mitarbeit der Volksfront in der Front de salut national und das Bündnis mit Nidaa. Einige Akteure der Volksfront, wie die trotzkistische Ligue de gauche ouvrière (LGO) verließen den FSN.

Die Troika trat aufgrund des Drucks der Protestierenden schließlich zurück und eine Technokratenregierung übernahm die Regierungsangelegenheiten bis zur Verabschiedung der Verfassung Anfang 2014 und der anschließenden Durchführung von Wahlen. Während des Wahlkampfes brachen erneut Differenzen über Wahlallianzen zwischen den Mitgliedsparteien der Volksfront auf. Das Trauma der politischen Morde lastete schwer auf der Volksfront. Einige Mitgliedsparteien, vor allem von Watad und al-Qotb al-Dimuqrati (Demokratischer Pol)[8], sprachen sich deswegen für eine breite Wahlallianz aus. Diese Wahlallianz sollte es ermöglichen, Ennahdha effektiv zu kontern. Ein anderer Teil schloss Wahlallianzen, vor allem mit Nidaa Tounes, aus. Kontroversen löste auch die Stichwahl bei den Präsidentschaftswahlen 2014 zwischen dem Ex-Minister und Gründer von Nidaa, Beji Caid Essebsi, und dem links-liberalen Menschenrechtler Moncef Marzouki vom Congrès pour la république aus. Da der CPR an der Troika-Regierung beteiligt war, sahen viele Mitglieder in Marzouki einen Kandidaten von Ennahda und votierten für Essebsi als dem kleineren Übel. Für andere war die Unterstützung des einstigen Bourguiba-Anhängers Essebsi Verrat an der Revolution. Hama Hammami formulierte einen schwammigen Kompromiss: Die Volksfront würde sich dem Kandidaten Ennahdhas entgegenstellen, ohne aber eine konkrete Abstimmungsempfehlung zu liefern. Teile der Volksfront erwogen sogar eine Regierungsbeteiligung  an einer von Nidaa Tounes geführten Regierung gegen Ennahda.  Schließlich setzte das für alle überraschende Regierungsbündnis zwischen Nidaa Tounes und Ennahdha der Debatte ein Ende. 

In der folgenden Legislaturperiode vermittelte die Volksfront in der Opposition den Anschein eines stabilen Blocks innerhalb des volatilen Parlaments, in dem bürgerliche Abgeordnete je nach Gutdünken von Fraktion zu Fraktion wanderten – Parteientourismus nannte man das in Tunesien. Allerdings verbargen sich hinter der Oberfläche zahlreiche interne Konflikte, die im Vorfeld der Wahlen im Herbst 2019 offen aufbrachen. Schon im März schlug Watad den Abgeordneten Mongi Rahoui, bekannt durch seine zahlreichen Medienauftritte und Parlamentsreden, als Präsidentschaftskandidaten der Volksfront vor. Watad forderte einen Basisentscheid für die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten – allerdings vergeblich. Am 19. März 2019 stimmten die Mitglieder des «Rates der Generalsekretäre» der Volksfront[9] – das einzige Entscheidungsgremium innerhalb des Parteienbündnisses – für die erneute Kanidatur von Hamma Hammami zu den Präsidentschaftswahlen. Watad wurde zu diesem Treffen gar nicht erst eingeladen. Seitdem beklagt sich die Partei, sie werde aus den Entscheidungsfindungsstrukturen der Volksfront ausgegrenzt. Aus Protest verließen Ende Mai neun Abgeordnete den parlamentarischen Block der Volksfront, die so ihren Fraktionsstatus verlor.[10]

Der Konflikt mündete schließlich in einen Streit über das Urheberrecht am Namen der Volksfront. Im Juni 2019 enthüllte Zied Lakdhar, Generalsekretär von Watad, dass Hamma Hammami schon im November 2013 heimlich den Namen der Volksfront im Nationalen Institut für Normung und gewerbliches Eigentum (INNORPI), als geschütztes Eigentum unter seinen persönlichen Namen hat registrieren lassen. Im Juli 2019 wurde im Gegenzug die Gründung einer neuen Partei, die Partei der Volksfront, von wenig bekannten Persönlichkeiten bekannt gegeben – wobei Watad im Hintergrund diese Parteigründung ermunterte. Im August 2019 verkündete die Partei der Volksfront ihren Beitritt zu der (Wahl-)Allianz der Volksfront. Hamma Hammami verurteilte diese Parteigründung aufs Schärfste und beschuldigte die Gründer, den Namen der «Volksfront» vereinnahmt zu haben. Zugleich beschuldigte er die Regierung, sie wolle mit der Erteilung der Parteizulassung die Volksfront für die Verwirklichung der Ziele der Revolution zerstören, nachdem ihr das durch das Schüren interner Konflikte nicht gelungen sei. Gefragt, wo denn seiner Meinung nach die Gründe für die Spaltung liegen, räumt Hammami zwar Machtkonflikte ein, verwiest jedoch auch auf politische Differenzen  mit Watad: Sieht die Volksfront ihren politischen Gegner in der gesamten herrschenden Koalition aus Nidaa Tounes und Ennahda oder geht es vorrangig gegen die Ennahda? Und geht die Volksfront soweit in ihrem Konflikt mit Ennahda auch mit anderen Komponenten der Elite zu kooperieren? [11]

Viele ehemalige Mitglieder der Volksfront bemängeln ein Demokratiedefizit und eine autoritäre Führung sowohl der Arbeiterpartei wie auch der Parteienallianz durch Hamma Hammami.

Ein gravierendes Problem der Volksfront und ihrer Mitgliedsparteien ist die Unfähigkeit, ihre Kader zu erneuern und junge Aktivist*innen, die durch die Revolution politisiert wurden, dauerhaft zu organisieren. Seit Jahrzenten haben die gleichen Persönlichkeiten Schlüsselpositionen inne und beanspruchen ein Entscheidungsmonopol. Der Politikwissenschaftler Chokri Hmed beschreibt diesen «parteiischen Autoritarismus» so: Aufgrund der internen Demokratiedefizite treten zahlreiche Parteiaktive, welche den Parteien kurz nach 2011 beigetreten waren, nach einem kurzen Zeitraum wieder aus. Auch wenn sie in hohe Positionen zum Beispiel in den Jugendorganisationen gewählt werden, gelingt es ihnen nicht, Einfluss auf die Entscheidungen der Partei auszuüben. Ein weiterer Grund für die Austrittswelle liegt laut Hmed im Scheitern der radikalen Linken, den revolutionären Prozess jenseits der politischen Transformation weiterzuführen.[12]

Ettayar: Eine soziale und demokratische Alternative?

Angesichts des Fiaskos innerhalb der Volksfront, schauten sich linke Sympathisanten und Aktivisten nach neuen Alternativen um. Als eine dieser Alternativen kristallisierte sich Ettayar al-dimuqrati (Demokratische Strömung) heraus. Ettayar wurde im Jahr 2013 von Mohammed Abou nach der Spaltung des Congrès pour la république (CpR) gegründet. Zu dieser Zeit war der CPR noch Teil der Troika. Von radikalen Linken wurde Mohammed Abou, der unter Ben Ali als Menschenrechtsanwalt und -aktivist bekannt war, kritisiert, da er der Troika als  Minister für administrative Reform gedient hatte. Abou war allerdings  sechs Monate nach Antritt seines Ministerpostens wieder zurückgetreten. Er beklagte, nicht genügend Befugnisse für eine effektive Bekämpfung der Korruption zu haben.

Bei den Parlamentswahlen 2014 erhielt Ettayar nur knapp 2 Prozent der Stimmen und stellte drei Abgeordnete im Parlament. Schwerpunkt ihrer Parlamentsaktivitäten war wie auch in der Wahlkampagne 2019, die unter dem Motto «Für einen starken und gerechten Staat» stand, die Korruptionsbekämpfung. Auch in ihrer außerparlamentarischen Praxis waren Mitglieder von Ettayar aktiv im Kampf gegen die Korruption. So beteiligten sie sich Seite an Seite mit anderen Elementen der Linken in der Kampagne Manich Msamah (Ich vergebe nicht) gegen Gesetz zur ökonomischen und finanziellen Aussöhnung (Loi pour la réconciliation économie et financière). Präsident Beji Caid Essebsi hatte dieses sog. Versöhnungsgesetz im Jahre 2015 vorgeschlagen, um eine Amnestie für korrupte Geschäftsmänner und Staatsbedienstete aus der Zeit von Ben Ali zu erwirken. Kritiker befürchteten, dass dadurch der Prozess der Transitional Justice untergraben würde. 

In einem Land, in dem die Korruption alle Bereiche der Politik wie auch des Lebensalltags durchdringt, gewann Ettayar durch die Anti-Korruptionskampagne viele neue Mitglieder und Anhänger*innen. Auch ein Teil der traditionellen Linken unterstützte Mohammed Abou deshalb bei den Präsidentschafts- bzw.  Ettayar bei den Parlamentswahlen. Ihre offenen Strukturen, parteiinterne Meinungsvielfalt und Offenheit für neue Ideen machten sie attraktiv für junge Aktivist*innen. Neue Mitglieder haben das Gefühl, dass sie Einfluss auf Richtung und Positionen der relativ jungen Partei nehmen können. Vor allem in den urbanen Zentren konnte Ettayar in den letzten Jahren zahlreiche neue politisch-interessierte Mitglieder rekrutieren und in ihrer politischen Akademie weiterbilden. Einige Tage vor den Präsidentschaftswahlen kursierte eine Liste von hunderten bekannten Aktivist*innen, Blogger*innen und Mitgliedern sozialer Bewegungen, die zur Wahl von Abou aufriefen. Ihr Motto lautete: «Abou nach links rücken».

Ettayars Wahlprogramm enthielt viele progressive Forderungen: die Beseitigung von sozialer Ungerechtigkeit und von Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen in Tunesien, eine ökologische Wirtschaft, die Umsetzung der èconomie sociale et solidaire (soziale und solidarische Ökonomie). Das Programm Ettayars weist Parallelen zu Programmen europäischer sozialdemokratischer Parteien auf. Im Vergleich zu den neoliberalen Maßnahmen der post-revolutionären Regierungen seit 2011 ist dies sicher ein Fortschritt. Die Korruptionsbekämpfung, auf die Ettayar insistiert, ist ein vitales Element für die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in den Staat. Jedoch sind diese Punkte unzureichend für eine radikale Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Trotz des Stimmenzuwachses stellt Ettayar mit seinen 22 Mandaten kein Schwergewicht in der tunesischen politischen Landschaft dar. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass die Partei als stärkste Oppositionskraft, diese Rolle besser zu nutzen weiß, als die Volksfront in der vorherigen Legislaturperiode. Eine Beteiligung Ettayars an der Regierungsbildung mit Akteuren wie Ennahdha oder Qalb Tounes wäre ein fataler Fehler.

Kais Said: konservativ oder links?

Sieger bei den Präsidentschaftswahlen wurde ein politischer Außenseiter. Der Dozent für Verfassungsrecht Kais Said ist unumstritten die große Überraschung der Präsidentschaftswahlen. In den Umfragen vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen lag Said lange nur an dritter Stelle. Er war kaum in den Medien präsent, hatte kein Facebook-, Twitter- oder Instagram-Account, verzichtete auf die allen Kandidaten zustehende staatliche Wahlkampfhilfe und führte auch keine Wahlkampagne im klassischen Sinne durch. Umso größer war die Überraschung seines überragenden Sieges in Stichwahl, die er mit 72,71 Prozent der abgegebenen Stimmen haushoch gewann, nachdem er schon aus der ersten Runde mit 18 Prozent der Stimmen vorne lag.

Sein Konkurrent in der Stichwahl, der Medien-Moghul Nabil Karoui, gilt als Populist und korrupter Geschäftsmann, der mit Lebensmittelpaketen und Geldgeschenken, versucht die Gunst der Armen zu gewinnen. Das Ganze wird dann bei Karaouis Privatsender «Nessma-TV», dem größten Sender Tunesiens, publikumswirksam aufbereitet. Kurz vor der Wahl wurde Karoui wegen Korruption inhaftiert und erst drei Tage vor der Stichwahl freigelassen. In einer geleakten Audioaufnahme hört man Karoui über Mitarbeiter der NGO «I-Watch», welche die Klage gegen ihn eingereicht hat, herziehen: «Wofür habe ich diesen Sender überhaupt gegründet, natürlich um sie (gemeint: die Tunesier) zu beherrschen, sie und ihre Eltern; ich werde ihnen schon zeigen was Freiheit bedeutet».   

Viele Linke wählten Said in der Stichwahl, um einen Wahlsieg Karouis zu verhindern. Dabei vertritt Said bei vielen gesellschaftlichen Fragen extrem konservative Positionen: Said ist gegen die Abschaffung der Todesstrafe und gegen Homosexualität im öffentlichen Raum. Er spricht sich gegen die Gleichstellung von Mann und Frau im Erbrecht aus. Er behauptet, keinem ideologischen Lager anzugehören, begründet dennoch seine Position zum Erbrecht mit der islamischen Scharia. Sein Argument: es gäbe einen Unterschied zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit. Durch gleiche Erbanteile für Männer und Frauen würde nicht automatisch Gerechtigkeit hergestellt. Im tunesischen Recht obliegt die Fürsorge der Familie dem Mann. Said verschließt dabei die Augen vor der Lebensrealität weiter Bevölkerungsschichten: Frauen studieren, arbeiten, tragen zum Familieneinkommen bei und leisten meistens zusätzliche unvergütete Hausarbeit. Umso verwunderlicher erscheint der Fakt, dass insgesamt 22 Prozent der Wählerinnen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen Said ihre Stimme gaben.

Es gab auch Linke, die von Anfang an zum Rückgrat seiner Kampagne zählten. Dazu gehörten Revolutionsaktivist*innen in abgelegenen Regionen oder unterprivilegierten Vierteln der Städte, die mit Kais Said durch die Kaffeehäuser zogen, wo er für sein Projekt warb. Dazu gehörten auch Ideologen wie Ridha Belhaj Al-Mekki, auch bekannt als Ridha «Lenin», der einst die Studentenorganisation von Wataj mitgegründet hatte und nach der Revolution die politisch relativ unbedeutenden Freien Kräfte Tunesiens (Quwa Tounes Al-Horra) ins Leben rief. Was motiviert angesichts  der konservativen gesellschaftlichen Vorstellungen eines Kais Said Linke zu dessen Unterstützung?

Es war die ähnliche Bewertung des politischen Transformationsprozesses und der tunesischen Parteienlandschaft, die die Freien Kräfte Tunesiens und Kais Said zusammenführte. Den Weg über die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung lehnten sie ab. Statt dessen plädierten sie für eine politische und wirtschaftliche Transformation von unten nach oben: von der lokalen Ebene über die Kommune und die Region zur Staatsspitze. Inspiriert wurden sie durch die Erfahrung der Komitees zur Verteidigung der Revolution (majaless himayat al-thawra): Selbstorganisierte und teilweise gewählte Komitees, die 2011 landesweit gegründet wurden.   

Seit einigen Jahren wirbt Kaid Said in einer landesweiten «Erklärungskampagne», unter dem Motto «Das Volk will»[13] (al-cha’b yourid) für sein Modell einer «radikalen Demokratie». Er schlägt vor, 265 lokale Räte zu bilden, einen für jede mu’tamdyiah (zweitkleinste Verwaltungsstufe Tunesiens). Mögliche Kandidaten müssen eine Mindest-Anzahl von Unterstützungsunterschriften sammeln – zur Hälfte von Frauen und zur Hälfte von Männern. Per Mehrheitswahlrecht würden aus deren Reihen dann lokale Räte gewählt. Diese sind dann für die Aufstellung von Entwicklungspläne für die mu’tamdyiah verantwortlich. Aus diesen lokalen Räten wird dann für eine begrenzte Zeit ein Repräsentant für den Rat des wilaya, des Gouvernorats, ausgelost. Tunesien ist in 24 wilayats unterteilt. Den lokalen und regionalen Räten gehören auch Vertreter der lokalen Verwaltungen und der Sicherheitsorgane an – allerdings ohne Stimmrecht. Aus den regionalen Räten werden dann Abgeordnete ins Parlament delegiert. Parlamentswahlen werden dadurch überflüssig. In Anbetracht der allgemeinen Desillusionierung mit dem politischen Prozess und einer sich immer weiter verschärfenden ökonomischen Krise, fand Saids Vision Unterstützer sowohl im linken als auch im konservativen Lager, vor allem aber unter der Jugend. Linke Unterstützer sahen im Projekt Kais Saids eine Weiterführung des revolutionären Prozesses, welcher ihrer Meinung nach seit 2011 durch die Parteien konfisziert wurde. Kais Said, der wiederholt ihm angebotene staatliche Positionen abgelehnt hatte und Distanz zu allen Parteien hielt, gilt deswegen als glaubwürdiger Repräsentant einer politischen Alternative.

Hinderlich für eine Umsetzung seiner Ideen, sind allerdings die politischen Kräfteverhältnisse im Parlament. Said und seine Bewegung haben keine eigenen Listen für die Parlamentswahlen aufgestellt und es scheint so, als könne Said nicht auf eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament, die für einen Gesetzesentwurf erforderlich ist, hoffen.

Perspektiven der Linken in Tunesien

Durch den Zerfall der Volksfront für die Verwirklichung der Ziele der Revolution wurde die tunesische Linke erheblich geschwächt. Ein Teil der Wählerbasis unterstützte Ettayar, eine Partei mit sozialdemokratischen Elementen. Diese ist jedoch zu schwach, um einen spürbaren Einfluss auf die offizielle Politik des Landes zu haben. Kais Said ist zwar gesellschaftlich sehr konservativ, doch vertritt er in den politischen und wirtschaftlichen Bereichen, so wie seine Forderung nach einem starken Sozialstaat, progressive Positionen. Said, verfügt aber über keine parlamentarische Hausmacht, die die eine sozialpolitische Wende herbeiführen könnte. Allerdings scheint seine Wahl den revolutionären Geist von 2011 wiederbelebt zu haben. Hingegen bleiben viele Fragen über Ideologie und Zusammensetzung seiner Bewegung unklar.

Es bleibt zu hoffen, dass die Segmente der Volksfront und der Union démocratique sociale selbstkritisch ihre strategischen Orientierungen und ihren politischen Diskurs überdenken und ihre Streitigkeiten überdenken. Auch neue Allianzen sind angesichts der Herausforderungen der historischen Periode wichtig: ein breites gesellschaftliches Bündnis aus den Mitgliedern der eben genannten Parteien, von Ettayar, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, der Gewerkschaftsbasis und einem Teil der Unterstützungsbasis von Kais Said könnte den Druck auf die offizielle Politik erhöhen.

Die Schwäche der traditionellen Linken bietet auch Chancen für eine radikale Erneuerung der Linken in Tunesien. Der junge Soziologe Walid Besbes sprach in einem im Juni 2019 erschienen Artikel treffend von «die Rückforderung der Idee der Linken nach dem Zusammenbrechen der Volksfront». Nach der Revolution 2011 bildete sich eine neue Generation an linken Aktivisten, Wissenschaftlern und sozialen Bewegungen, die die Errungenschaften der Revolution beharrlich verteidigte: Manich Msamah, die Solidaritätsbewegung mit der selbstorganisierten Oase von Jemna, die LGBTQ-Bewegung und andere Bewegungen für die Verteidigung der Rechte von Minderheiten, die Bewegung von jungen Arbeitslosen, die Bewegungen gegen die Finanzgesetze oder gegen das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Tunesien (ALECA) und viele andere mehr. Was ihnen fehlt ist eine neue linke Struktur, welche diese Kämpfe miteinander verbindet. Diese Struktur darf allerdings nicht mehr nur reaktiv mit Protesten antworten, sondern muss durch die Einbindung großer Bevölkerungsschichten realistische Alternativen erarbeiten, welche die alltäglichen Sorgen und Probleme der Bevölkerung artikulieren und die soziale Frage mit anderen Kämpfen verbinden. Bei den letzten Wahlen konnten Populisten, wie die Partie von Nabil Karoui die soziale Frage im Wahlkampf für sich reklamieren und viele Wähler dadurch gewinnen. Eine starke linke Struktur hätte dies verhindern können und könnte sich in Zukunft zum legitimen Repräsentanten der Subalternen entwickeln.


[1] Nach dem Sturz ben Alis wurde 2011 zunächst eine verfassungsgebende Versammlung und ein Übergangspräsident gewählt. Die ersten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf der Basis der neuen Verfassung fanden 2014 statt. 2018 wurden erstmals Kommunalparlamente gewählt. 

[2] Nach Nidaa Tounes (37 Prozent), die von ehemaligen Bourguiba-Anhängern und Vertretern des laizistischen Establishments gegründet wurde, der konservativ-islamischen Ennahdha (27 Prozent) und der marktliberalen Union Patriotique Libre (4 Prozent), mit 3,6 Prozent der Stimmen und 15 von 217 Parlamentssitzen

[3] In Anlehnung an die Arabisch-sozialistische Baath-Partei, welche im Jahre 1947 von Michel Aflaq und Salah al-Din al-Bitar gegründet wurde.

[4] Die UDS setzt sich zusammen aus Al-Massar, der aus der tunesischen KP hervorgegangen ist, der gewerkschaftsnahen Tunisie en avant und drei linksliberalen Splittergruppierungen.

[5] In Anlehnung an den arabischen Sozialismus des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser (1954 – 1970).

[6] Ehemalige Nidaa-Mitglieder (Wahlsieger 2014): Tahya Tounis (Partei des ehemaligen Premierminister Youssef Chahed): 14 Sitze, Machrou‘ Tounes: 4; Nidaa Tounes: 3; einige wie Sofiane Toubel (ehemaliger Fraktionsvorsitzender von Nidaa), sind jetzt bei Qalb Tounis.

[7] Artikel 1: Tunesien ist ein freier, unabhängiger und souveräner Staat; seine Religion ist der Islam, seine Sprache das Arabische und sein Regime republikanisch.

[8] Al-Qutb al-dimuqrati hat sich von al-Tajdid (Erneuerung) abgespalten, die wiederum eine Nachfolgeorganisation der tunesischen KP ist.

[9] Jede Partei innerhalb der Volksfront hat mittels ihres Generalsekretärs eine Stimme im Rat, wobei das einzelne Gewicht der Parteien keine Rolle spielt. Unabhängige Mitglieder der Volksfront sind somit aus dem Entscheidungsfindungsprozess ausgeschlossen.

[10] Die Abgeordneten von Watad, von der Ligue de gauche ouvrière (LGO) und Unabhängige.

[12] Cf. Hmed C. (2018), Les déçu-e-s de l’autoritarisme partisan. Engagement et désengagement dans les organisations de la gauche radicale en Tunisie après 2011, in Amin Allal et Vincent Geisser, Tunisie au présent : une démocratisation au dessus de tout soupçon ?, Paris: CNRS Editions, p. 123-137: 126.

[13] «Das Volk will den Sturz des Regimes» war eines der Hauptslogans der tunesischen Revolution von 2011.