Publikation Parteien / Wahlanalysen - GK Parteien und soziale Bewegungen Die Wahl zur Bürgerschaft in Hamburg am 23. Februar 2020

Wahlnachtbericht und erster Kommentar von Horst Kahrs

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Horst Kahrs,

Erschienen

Februar 2020

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Die Wahl zur Bürgerschaft in Hamburg gewann durch die politischen Ereignisse in Thüringen, das Agieren der Bundesparteien und die politischen Richtungsdebatten in der Union eine unvorhergesehene bundespolitische Aufwertung. Allerdings spricht wenig dafür, dass die bundespolitischen Ereignisse für die Wahlentscheidung der Hamburgerinnen und Hamburger eine besondere Rolle gespielt hätten. Das Hamburger Ergebnis kann schwerlich als wahlpolitische Reaktion auf das demokratiepolitische Desaster in Thüringen gewertet werden.

Die Wahlbeteiligung stieg von 56,5% auf 63,3%. Dieser Anstieg entspricht dem Anstieg bei anderen Landtagswahlen seit 2016. Von der gestiegenen Wahlbeteiligung profitierten vor allem die Grünen, während CDU, FDP und AfD nur unterdurchschnittlich Nichtwähler-Stimmen gewinnen konnten. An der sozialen Schieflage der Wahlbeteiligung – gemessen etwa am Anteil von Grundsicherungs-Beziehenden unter den Wahlberechtigten – hat sich gegenüber der Vorwahl wesentlich nichts geändert.

Das Wahlergebnis ist eine Aufforderung zur Fortsetzung der rotgrünen Zusammenarbeit. In der Summe geht die Koalition gestärkt aus den Wahlen hervor, auch wenn sich die Gewichte deutlich zu Gunsten der Grünen verschoben haben. Zwar könnte die SPD nach Lage der Zahlen am Wahlabend auch mit der CDU oder der Linkspartei eine Mehrheit im Senat herstellen, doch stände dies im Widerspruch zum Wählervotum für die Grünen.

Die Hamburger Sozialdemokraten haben deutliche Verluste hinnehmen müssen. Aber sie bleiben mit großem Abstand die stärkste Partei. Es ist Bürgermeister Tschentscher gelungen, das Erbe von Olaf Scholz, der die SPD 2011 wieder in den Status der «Hamburg-Partei» gehievt hatte, zu erhalten, wozu auch seine Persönlichkeitswerte beitrugen. Die erhoffte bundespolitische Wirkung für die SPD dürfte von dem Wahlergebnis allerdings nicht ausgehen: Wie bei vielen der jüngsten Landtagswahlen spielen regionale Faktoren und Konstellationen und Persönlichkeiten eine herausragende Rolle. Die SPD führte zudem in Hamburg einen Wahlkampf als «Hamburger Sozialdemokraten», ließ die Parteivorsitzenden demonstrativ außen vor. Während die Hamburger wissen, wofür «ihre SPD» steht, wissen sie nicht, wofür die Bundes-SPD steht. Die SPD ist eine bescheidene Gewinnerin: Sie verliert 6,5%, so viel wie keine andere Partei, bleibt aber stärkste Partei und kann sich als Gewinnerin eigentlich nur fühlen, weil das Ergebnis deutlich besser ausfällt als die politische Stimmungslage zum Jahresende 2019 und die letzten Wahlergebnisse.

Die Grünen sind die eindeutigen Gewinner des Wahltages. Sie verdoppeln ihr Vorwahlergebnis und bestätigen ihren wahlpolitischen Aufschwung. Sie gewinnen Stimmen von allen Parteien, am stärksten von der SPD, aber auch von CDU und FDP, in kleinerem Maße auch von der Linkspartei. Ihr zwischenzeitliches Wahlziel, die Erste Bürgermeisterin zu stellen, verfehlten sie indes weit. Die Grünen legen auch in Bevölkerungsgruppen deutlich zu, in denen sie bisher schwach waren: unter Arbeitern (von 5% auf 16% laut FGW) und unter Wählern mit niedriger oder mittlerer Bildung. Grüne Themen und Haltungen ziehen auch hier.

Schließlich zählt auch DIE LINKE zu den Gewinnern des Wahlabends. Sie kann ihren Stimmenanteil leicht steigern und gewinnt ein paar tausend Wähler von der SPD neben Nichtwählern hinzu. Die Hamburger Linke bewegt sich im linksdemokratischen Milieu der Stadt: Wähleraustausch mit CDU, FDP oder AfD wurde von Infratest dimap nicht gemessen. Auch bleibt ihr Wählerprofil relativ konstant: überdurchschnittliche Zustimmung bei Wählern unter 40 Jahren und in Bezirken mit höheren Anteil an Grundsicherungs-Beziehern. Die höhere Wahlbeteiligung hat, anders als bei früheren Wahlen, der Partei nicht geschadet. Die Linke wollte sich um Wahlkampf nicht als Partei, die in die Regierung will, profilieren, sondern als linke Opposition zu der wahrscheinlichen Fortsetzung der rotgrünen Regierungsarbeit. Diese strategische Orientierung war erfolgreich, auch wenn das ursprüngliche zweistellige Ziel (wieder) nicht erreicht wurde.

Die Christdemokraten verlieren nochmals fast fünf Prozentpunkte, erreichen ein Rekordtief und liegen nur noch zwei Punkte vor der Linkspartei. In sechs von 17 Wahlkreisen liegt die Union mit einstelligen Ergebnissen – zum Teil deutlich – hinter der Linkspartei. Unter Abiturienten und Hochschulabsolventen, in der Gruppe der «höheren Bildung» liegen sie gleichauf oder sogar knapp hinter der Linkspartei, ebenso bei Arbeitern (FGW, 21:30), bei berufstätigen Arbeiter mit 8% zu 11% sogar deutlich (Infratest). Besonders dramatisch aus Sicht der CDU: bei den unter 25jährigen erhält sie nur 6% der Stimmen, die Linkspartei aber zum Beispiel 14% (Infratest). Dieses Ergebnis in einer westdeutschen Großstadt ist für eine ehemalige Volkspartei desaströs. Es liegt im Trend der Wahlergebnisse von 2011 und 2015 und der generellen Probleme der CDU, unter den jüngeren Bevölkerungsschichten in größeren Städten Fuß zu fassen. Zudem fehlte es ihrem Spitzenkandidaten Weinberg in Hamburg an persönlicher Ausstrahlung. Einen gewissen Anteil am Hamburger Debakel dürfte auch die Bundespartei haben, deren politische Orientierungslosigkeit im Agieren der Bundespartei gegenüber dem Thüringer Landesverband seit dem Tag nach der Wahl in Erfurt auf offener Bühne aufgeführt wurde. Die CDU erscheint derzeit als ideologisch verbiesterte, zu politischem Handeln unfähig und führungslose Partei. Dieser bundespolitische Erscheinungsbild blies keinen frischen Wind in die erlahmten Hamburger CDU-Segel. Die CDU konnte in Hamburg nicht deutlich machen, was sie mit der Stadt vorhat und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie im Rahmen der innerparteilichen Richtungskämpfe für die Nach-Merkel-Zeit diese Frage auch nicht für das Land wird beantworten können. Die Vorgänge in und um Thüringen haben gezeigt, wie schnell aus einem vermeintlichen Stabilitätsfaktor ein Motor politischer Unsicherheit werden kann.

Die AfD schafft knapp mit 5,3% den Wiedereinzug in die Bürgerschaft. Alle Freude über die Prognosen und ersten Hochrechnungen, nach denen die Partei nicht mehr in der Bürgerschaft vertreten sein sollte, erwiesen sich als vorschnell. Zwar verliert sie 0,8 Prozentpunkte, aber behauptet sich im rechten und rechtsradikalen Milieu der Stadt. Die Befragungen der AfD-Wähler zeichnen ein hohes Maß an politischer Übereinstimmung, auch wenn dies vielleicht nur eine «gefühlte» bzw. projizierte Übereinstimmung ist.

Auch die FDP schafft mit 5,0% denkbar knapp den Wiedereinzug in die Bürgerschaft. Damit bleiben ihr womöglich noch größere innerparteiliche Auseinandersetzungen über den zukünftigen Kurs und die politische Führungskunst von Christian Lindner erspart. Dieser kommt aus der Affäre Kemmerich/Lindner vorerst mit zwei blauen Augen davon.

Der SPD stehen (rechnerisch) eine Reihe von Koalitionsbildungen offen: SPD und Grüne kommen zusammen auf 81 von 121 Sitzen; SPD und CDU auf 65 Sitze; SPD und LINKE auf 62 Sitze. Eine Regierungsbildung innerhalb des demokratischen Lagers gegen die SPD, eine «Jamaika»-Koalition, ist nicht möglich (52 Sitze).
 

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