Publikation Digitaler Wandel - Commons / Soziale Infrastruktur Commons, Märkte und öffentliche Politik

Experimente an der Front der technologischen Revolution – Freie und quelloffene Software (FOSS) als Labor des Informationsparadigmas

Information

Reihe

RLS Papers

Autor

Marco Berlinguer,

Erschienen

März 2020

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Zugehörige Dateien

FOSDEM 2017
Die FOSDEM (Free and Open Source Software Developers' European Meeting) ist das größte Treffen von Menschen im Umfeld Freier Software in Europa. Die kostenfreie zweitägige Konferenz findet seit 2001 jedes Jahr im Februar in Brüssel statt, gehostet von der Université Libre de Bruxelles und organisiert von unzähligen Freiwilligen. Dort werden alle denkbaren Aspekte der Entwicklung freier Software diskutiert. FOSDEM 2017, Brüssel, CC BY-SA 4.0, Noqqe, via Wikimedia Commons

Der Erfolg von FOSS (Free and Open Source Software; dt.: Freie und quelloffene Software) ist ein Phänomen, das in der wirtschafts- und politiktheoretischen Forschung noch unzureichend untersucht und verstanden worden ist. FOSS hat sich als Labor für soziale, ökonomische und institutionelle Innovationen erwiesen, die von großer Bedeutung für das Informationsparadigma sind.

Marco Berlinguer hat als Forscher, Netzwerker und Journalist für verschiedene Organisationen gearbeitet. Seit 2011 lebt er in Barcelona, wo er in den Themenfeldern Internet, Politik und digitale Gemeinschaftsgüter recherchiert und lehrt. Er hat einen Abschluss in Philosophie (Universität La Sapienza, Rom), einen Master in Informationsgesellschaft und wissensbasierter Wirtschaft (Universitat Obierta de Catalunya, Barcelona) und einen Doktortitel in öffentlicher Politik und sozialer Transformation (Universitat Autónoma de Barcelona, Barcelona).

FOSS ist im Feld der Softwareentwicklung, dem Kerngebiet der Revolution im Bereich Informationsund Kommunikationstechnologie (IKT), entstanden. FOSS ist nicht nur im Begriff, zum Standardmodell der Produktion in der Softwarebranche zu werden, sondern führt dank ihres innovationsoffenen Wesens auch zu Nachahmeffekten in vielen anderen Bereichen.

Die größte Besonderheit von FOSS ist, dass sie um ein Commons herum organisiert ist, das heißt, sie ist eine Ressource, die einer Lizenzform unterliegt, die es jedem und jeder erlaubt, auf die Software zuzugreifen, sie zu nutzen, zu kopieren, zu verändern, weiterzuentwickeln und zu teilen. Dieses Merkmal hat viele wichtige Auswirkungen sowohl auf die jeweiligen Formen der Governance als auch der Wertschöpfung und -aneignung.

FOSS ist also ein klares Signal für die potenzielle Rolle, die neue Formen von Gemeingütern in der digitalen Netzwerkökonomie und -gesellschaft spielen können. Ihre verblüffende Entwicklung bietet auch eine aufschlussreiche Perspektive auf das neu entstandene Forschungsfeld, das sich im Zuge der Wiederentdeckung der Commons in den letzten Jahrzehnten formiert hat.

Während die erste Welle von Commons-Studies an die Definition von Commons als einer eigenständigen, von Markt und Staat getrennten Sphäre geknüpft war, legt die Evolution von FOSS nahe, dass es wichtig ist, die Governance der neuen Commons als hybride Konfigurationen zu verstehen, die es etwa ermöglichen, Märkte zu modulieren.

Die erfolgreiche Integration von FOSS in den Markt und kapitalistischen Wettbewerb verlangt danach, die frühen Ansätze in Richtung dieses Produktionsmodells kritisch zu überprüfen. Zum Beispiel haben Erfahrungen gezeigt, dass FOSS strategisch eingesetzt werden kann, um neue Formen der Zentralisierung und Konzentration von Macht und Werthaftigkeit zu stärken. Zudem wurde deutlich, dass FOSS – obwohl sie jede Form exklusiver Aneignung ausschließt – sich parallel zu neuen Märkten ausbreiten kann.

Um die Beziehungen zwischen FOSS und Märkten im Folgenden darzustellen, wird ein synthetischer Analyserahmen entwickelt, der an drei Konzepte anknüpft: Semi-Commons, geteilte Infrastrukturen und der Aufbau von Ökosystemen. Diese Konzepte erlauben es, unterschiedliche Modulationen einer vielschichtigen Struktur von Eigentumsregimen und Modellen der Wertschöpfung und -aneignung zu veranschaulichen.

Während der Umstieg auf FOSS sich innerhalb des Markts zunehmend etabliert, haben die öffentliche Politik und die öffentlichen Verwaltungen weiterhin Schwierigkeiten, das neue Modell technischer Entwicklung und Produktion wirksam einzusetzen.

Schon seit Längerem gibt es eine Reihe öffentlichkeitspolitischer Maßnahmen zur Förderung von FOSS, doch bislang hat sich keine Strategie herauskristallisiert, die maßgeblich ist, während es an gescheiterten Initiativen nicht mangelt.

Für die Förderung von FOSS-Einsatz und -Entwicklung in öffentlichen Verwaltungen gibt es wirtschaftliche und politische Begründungen: FOSS verspricht sowohl die Senkung von Kosten und Risiken als auch größere Unabhängigkeit und erhöhte Transparenz bei der Verwaltung kritischer Ressourcen, Dienste und Infrastrukturen.

Die öffentliche Politik hat bisher die Hürden infolge von Altlasten unterschätzt, etwa die Lock-in-Effekte, die einer der Gründe dafür sind, dass Ökosysteme von Hard- und Softwareproduzenten an bereits länger bestehende, proprietäre Plattformen gebunden bleiben. Zudem wurde das Problem der Fragmentierung von Alternativlösungen übersehen und damit auch die hohen Integrations- und Wartungskosten von isolierten Systemen, die in einer äußerst dynamischen Hard- und Softwareumgebung genutzt werden.

Allerdings zeichnet sich eine Kehrtwende ab, denn FOSS hat sich zum neuen Standardmodell an der Innovationsfront entwickelt (Cloud-Computing, Internet der Dinge, Datenzentren, künstliche Intelligenz, Blockchain). Infolgedessen zeigt sich auch weltweit ein verstärkter Trend zu Einsatz und Entwicklung von FOSS in der öffentlichen Politik. Hunderte öffentlicher Einrichtungen beteiligen sich derzeit bei der FOSS-Entwicklung an einem praktischen Prozess des Learning-by- Doing.

Da FOSS für die neue Generation von Softwarediensten eine zentrale Rolle spielen wird, sollten öffentliche Verwaltungen aber auch auf die Risiken neuer Formen von «Gefangenschaft» und Abhängigkeit achtgeben. Das gilt umso mehr, als im FOSS-Ökosystem eine Phase der Konsolidierung eingesetzt hat.

Bei dieser Herausforderung sollte die EU-Politik Abstand von den abstrakten Prinzipien (wie etwa technische Neutralität, offene Standards und Unvoreingenommenheit) nehmen, auf denen öffentliche Vergabeverfahren bislang beruhen. Diese Prinzipien haben sich in ihrer Umsetzung nicht nur als schwierig erwiesen, sondern sind auch wirkungslos, wenn es darum geht zu verhindern, dass öffentliche Verwaltungen in die Abhängigkeit von privaten Monopolen geraten und den Lock-in-Strategien von Lieferanten anheimfallen.

Zugleich ist davon auszugehen, dass FOSS zunehmend wichtig bei der Bereitstellung kritischer Infrastrukturen wird und als Produktionssystem zur Reife kommt – was Anschub für weitere institutionelle Innovationen im FOSS-Ökosystem geben wird. Eines der wichtigsten Felder für Innovationen könnte dabei vor allem durch ein stärkeres Engagement der öffentlichen Hand erschlossen werden.

Mit Blick auf die Zukunft lassen sich drei Bereiche als entstehende Innovationsfelder im Bereich öffentlicher Politik identifizieren:

  • eine aktive Politik der Standardisierung, die als Hebel zur Entwicklung von Governance-Formen und zur Produktivitätssteigerung dient;
  • die Modulation gemischter Formen von Governance, die staatliche, marktliche und commonsbasierte Mechanismen miteinander verknüpfen, und
  • die Entwicklung neuer Formen öffentlich-öffentlicher Kooperation.

Der Lernprozess im Bereich öffentlicher Politik ist noch relativ am Anfang. Bisher ist nur wenig verstanden, wie öffentliche Akteure an der weiteren Entwicklung dieses Ökosystems und Produktionsmodells erfolgreich mitwirken und sie unterstützen können. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass FOSS am Anfang seiner überraschenden Entwicklung zunächst ein Labor für soziale Innovationen war und jetzt, in seiner zweiten Phase, eine Triebfeder für Marktinnovationen ist, lässt sich mit hoher Plausibilität schlussfolgern, dass – wenn sich die Institutionen darauf einlassen – auch im Bereich öffentlicher Politik mittels FOSS wichtige Experimente und wirksame Innovationen zu erwarten sind.