Als eines der ambitioniertesten und gleichzeitig umkämpftesten Projekte der Moderne zielte der Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts darauf ab, das gesellschaftliche Leben grundlegend und unwiderruflich zu verändern. Der urbane Raum wurde hierbei als das wohl wichtigste Gesellschaftslabor verstanden, aus dem der «neue Mensch» hervorgehen sollte. Seit Anfang der 1920er Jahre nahmen die Stadtplanung und der Bau einer »Stadt der Zukunft» (gorod buduschtschewo) einen Spitzenplatz auf der politischen Agenda der Sowjetunion ein. Durch die Stadtplanung sollte somit die sozialistische Zukunftsvision direkt und unwiderruflich im materiellen Gefüge der Stadt verankert werden und die abstrakte Ideenwelt des Sozialismus in eine physische Realität übersetzt werden – eine Realität, welche tagtäglich erlebbar gemacht werden sollte. Wenn man die Stadt als Antlitz des sowjetischen Gesellschaftsexperiments versteht, so spiegelte der städtische Raum Anfang der 90er Jahre gleichermaßen dessen Niedergang wider: «Nach der Auflösung der Sowjetunion glich die urbane Landschaft mit halbfertigen Bauten, bröckelnden Wohnungen und verfallenen Parks dem Mahnmal einer Zukunftsvision (…) welche nun der Vergangenheit angehörte», bemerkt Stephen J. Collier in seiner anthropologischen Studie Post-Soviet Social. Oder wie es der marxistische Sowjethistoriker Ronald G. Suny in seiner jüngsten Analyse zur westlichen Wissensproduktion über die Sowjetunion treffend zusammenfasst: in den Augen der westlichen Welt verharren «die Staaten der ehemaligen Sowjetunion im Dämmerlicht eines gescheiterten Sozialismus, aber ohne das gleißende Licht der verheißenen, demokratisch-kapitalistischen Morgendämmerung».
David Leupold ist promovierter Sozialwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum Moderner Orient. In seiner laufenden Forschung setzt er sich mit dem materiellen Erbe der sozialistischen Zukunftsstadt im Südkaukasus und Zentralasien auseinander. Erstveröffentlichung am 20.08.2019 auf den Themaseiten der Tageszeitung junge Welt.
Auf den ersten Blick mag Bischkek, die Hauptstadt der zentralasiatischen Republik Kirgisistans, in diesem Kontext wie ein typischer Vertreter der (post-)sowjetischen Stadt erscheinen, mit modernistischen Wohnbauten entlang der alten Sowjetskaja (heute: Abdrachmanow), weitläufigen Parkanlagen und einem rasterförmig angeordnetem Straßennetz. Doch wenn der Trolleybus der Linie 2 das hektische Treiben des im Westen der Stadt gelegenen Osch Bazaars hinter sich lässt und den Den Xiaoping Boulevard verlässt, offenbart sich dem Besucher eine seltsam anmutende Welt: ein- und zweistöckige Wohnhäuser mit Giebeldächern, Sprossenkreuzfenstern und massiven Außenwänden. Während die meisten Wohnblöcke im Stadtzentrum nach den blutigen Unruhen und Plünderungen, welche den Regierungswechsel Bakijews im Jahr 2010 begleiteten, heuten hinter Zäunen eingesperrt liegen, sind die Innenhöfe und Wohnanlagen des Viertels offen zugänglich und vermitteln eine Atmosphäre, die eher an das Leben in einer ländlichen Gemeinde erinnert. Und tatsächlich entstammen viele der Verkäuferinnen, welche in den kleinen provisorisch-erbauten Geschäftsbarracken des Viertels ihrer Arbeit nachgehen, aus den ländlichen Regionen Südkirgisistans. Auf der anderen Seite jedoch, offenbart sich das Viertel nicht nur als vergessener Ort, sondern gleichzeitig als Ort der Vergessenen. An den Wasserhähnen in den Hinterhöfen versammeln sich Menschen, welche unter den prekärsten Arbeitsbedingungen und Armut leiden. Im Angesicht dieses Anblicks ist es schwer zu glauben, dass gerade in der Materialität dieses Ortes ein ganz anderer Geschichtsstrang verankert ist, welcher eng mit der Entstehungsgeschichte der modernen kirgisischen Hauptstadt und dem Erfolg real-praktizierten Internationalismus verwoben ist.
«Wenn wir von Auswandern sprechen, denken wir an slowakische Väter, Mütter und Töchter, die Ende des 19. Jahrhunderts des Broterwerbs wegen in Scharen in die USA, nach Kanada, Argentinien und Brasilien ausgewandert sind», schreibt der slowakische Historiker Pavel Pollák 1969 in seinem Beitrag zur «Auswanderung in die Sowjetunion in den zwanziger Jahren». Von 1921 bis 1922 erreichten die sowjetischen Migrationsbehörden mehr als eine Million Einwanderungsanträge von internationalen Arbeitern aus aller Welt. Begeistert vom Erfolg der Oktoberrevolution, zogen diese oft «qualifizierten Fachkräfte», welche wohl auch leicht «in überseeischen Ländern Fuß gefasst hätten» es vor, aller persönlichen Entbehrungen zum Trotz, am Aufbau eines Landes beizutragen welches der tschechoslowakische Schriftsteller Josef Fučík später enthusiastisch als «Eine Welt, in der das Morgen schon Geschichte ist» (V zemi, kde zítra již znamená včera) beschreiben wird. Neben Europäern siedelten sich auch Tausende von Auswanderern aus den Vereinigten Staaten und Kanada in der Sowjetunion an. Tatsächlich war eine der ersten Gemeinden internationaler Arbeiter eine US-amerikanische Kooperative von Arbeitern und Technikern, unter der Leitung des Ingenieurs Adams. Sie kamen bereits 1921 mit dem Ziel in die Sowjetunion, eine Reparaturwerkstatt in das erste Automobilwerk des Landes zu verwandeln. Das AMO-Werk, später bekannt als ZiL Lichatschow-Werk, sollte bis in das Jahr 2012 als wichtiger Standort für die Produktion von Pkw, Lkw und Militärfahrzeugen dienen. Im Angesicht stetig ansteigender Migrationszahlen, wurde auf dem 4. Kongress der kommunistischen Internationale, welcher im Dezember 1922 in Moskau und Petrograd abgehalten wurde, eine Resolution für die «Proletarische Hilfe Sowjetrußlands» verabschiedet. Während das Hauptziel des globalen Proletariats weiter dem «revolutionären politischen Kampf der Arbeiter» gegen ihre jeweiligen Regierungen galt, wurde ein institutioneller Rahmen geschaffen, um «die gesamte Wirtschaftsmacht des Proletariats zur Unterstützung Sowjetrusslands zu forcieren». Um jedoch einer «Massenumsiedlung ausländischer Arbeitnehmer» in die Sowjetunion vorzubeugen, welche zu dieser Zeit selbst mit hohen Arbeitslosenzahlen kämpfte, beschränkt sich dieser Ruf nur auf »einzelne Spezialisten». Neben diesen wirtschaftlichen Herausforderungen, war das Land gebeutelt vom russischen Bürgerkrieg, welcher sich in Zentralasien in einem zermürbenden Kampf zwischen Bolschewiken und Basmatschen niederschlug. Auf Seiten der Bolschewiken kämpften im Siebenstromland (Tschetisu), einer Bergkette welche sich entlang der heutigen kirgisisch-kasachischen Grenze erstreckt, auch der Slowake Rudolf Pavlovič Mareček.
In der «Schweiz Zentralasiens» schwelgt der leidenschaftliche Bergsteiger in Erinnerungen an die landwirtschaftlichen Betrieben und die «schönen Eisenbahnen und Autostraßen in den Gebirgslandschaften der Alpen und Kapathien». Angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung in und um das Siebenstromland jedoch praktisch völlig nomadisch war, stehe man in Zentralasien vor der Herausforderung, so Mareček, wie ein Übergang von «feudaler und patriarchalischer Rückständigkeit zum Sozialismus» ohne die Zwischenstufe der kapitalistischen Entwicklung zu erreichen sei. Anders als in dem bereits industrialisierten Westgebieten der Sowjetunion, folgert er, seien gerade hier «große wirtschaftliche Veränderungen vorzunehmen» welche nur durch Organisation einer industriellen Kooperative möglich sei. Die Idee einer solchen industriellen Kooperative verfolgt Mareček auch nach seiner Rückkehr in die Tschechoslowakei, wo ihn Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot erwarten.
Im Jahre 1923 rekrutiert er in seiner Heimatstadt Sv. Martin, in der heutigen Nordslowakei gelegen, aus dem Kreis eines Sprachclubs der Plansprache Ido, welche dem reformierten Esperanto entlehnt ist, erste potenzielle Mitglieder für das spektakuläre Unterfangen: den Direktor der Verbrauchergenossenschaft Bača, den Buchbinder Ďuríček, den Schlosser Ruček sowie die drei Maurer Sousedík, Gurt und Poljaška. Am 1. Mai 1923 wird schließlich die Kooperative Interhelpo, was auf Ido so viel wie «gegenseitige internationale Hilfe» bedeutet, im nahegelegenen Žilina gegründet. Die Kooperative zieht neben tschechoslowakischen Kommunisten auch Ungarn, Deutsche sowie Ukrainer aus dem Karpatengebiet an. Tatsächlich melden sich mehr Freiwillige als Plätze zu vergeben sind. Dementsprechend streng sind auch die Anforderungen an die zukünftigen Kooperativmitglieder: Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei, hohe berufliche Qualifikation, körperliche Gesundheit und ein finanzieller Beitrag von 5.000 Kronen. Letzteres zwingt viele Teilnehmer, wie etwa den Vater des späteren Generalsekretärs der tschechoslowakischen Kommunisten, Alexander Dubček, ihr gesamtes Hab und Gut zu verkaufen und somit praktisch alle Brücken in Zentraleuropa hinter sich abzubrechen. Während kein Gesetz offiziell die Auswanderung in die Sowjetunion untersagt, unternehmen die tschechoslowakischen Verwaltungen dennoch in der Realität große Anstrengungen, um die Abwanderung zu verhindern. Hausdurchsuchungen finden statt, Informationsmaterial wird beschlagnahmt und der Sozialminister wendet sich in persönlich unterzeichneten Briefen an potenzielle Emigranten, um sie von der Auswanderung in die Sowjetunion abzuhalten.
Allen Widrigkeiten zum Trotz erreicht am 24. April 1925 die erste Welle von insgesamt 1.317 Mitgliedern den Punkt in der zentralasiatischen Steppe, an dem die Eisenbahnschienen ins Nichts führen – Pischpek. Ende des 19. Jahrhunderts verfügt Pischpek, so wie Bischkek noch bis in die frühe Sowjetzeit hieß, über 752 Haushalte, welche sich hauptsächlich aus Russen und Ukrainern sowie Dunganen, Tataren und Usbeken zusammensetzte. Die Stadt ist praktisch vorindustriell und verfügt weder über ein Stromnetz noch ein Bewässerungssystem. Ein zeitgenössischer Reisender beschrieb die Stadt am Vorabend der Revolution als «einen großen Markt – und nicht eine Stadt – die von allen Seiten mit weißen, grauen und blauen Lehmbauten übersät ist». Wie in vielen anderen Regionen der Sowjetunion fehlt es in der Region des Autonomen Gebiets Kara-Khirgiz praktisch an jeglicher Form der Industrialisierung. Unmittelbar nach der Ankunft drängt sich die Frage nach einer vorübergehenden Unterkunft auf bis die Wohnbarracken errichtet sind. Erste Pläne zur Unterbringung der Mitglieder in umliegenden Dörfern – wie von den lokalen Behörden vorgeschlagen – erweisen sich als unrealistisch, sodass die Mitglieder schließlich in verlassenen Militärbarracken untergebracht werden. Doch die Entscheidung, kaum isolierbare Wohnbarracken zu beziehen erweist sich als verhängnisvoll. Im außergewöhnlich harten Winter des Ankunftsjahres 1925 breiten sich unter den Mitgliedern tödliche Krankheiten wie Malaria und Typhus aus, denen bis zu dreißig Personen zum Opfer fallen – darunter alle Kinder im Alter von bis zu drei Jahren. Im Angesicht dessen treten einige Mitglieder sofort die Rückreise an.
Die Verbleibenden sollten in den Folgejahren jedoch Anteil haben, an einem der erfolgreichsten Projekte real-praktizierten Internationalismus in der Geschichte der Sowjetunion. So sind die «Interhelpotschus», wie sie von der lokalen kirgisischen Bevölkerung genannt wurden, zwar überzeugte Internationalisten, jedoch alles andere als realitätsfremde Träumer. Über einen Zeitraum von gut zehn Jahren errichten sie von Grund auf einen ganzen Stadtteil, darunter ein Elektrizitätswerk (das erste seiner Art im ganzen Land), Textil- und Möbelfabriken, Werkstätten für Schneider, Schuhmacher und Tischler, eine Schule, einen Kindergarten, eine Gerberei und eine Brauerei. Interhelpo unterstützt die Arbeiter der Sowjetrepublik ferner beim Bau eines Bewässerungssystems im Tal des Tschüi-Flußes, einer Zuckerfabrik in der nahegelegenen Stadt Kant und der Turkestan-Sibirischen Eisenbahn. Über die Bauprojekte hinaus prägt Interhelpo auch das kulturelle Leben der frühsowjetischen Stadt – das 1930 errichtete Kulturhaus «Club der Pariser Kommune» dient sowohl als Bühne für eine Theatergruppe unter der Leitung von Eduard Peringer als auch als Ausstellungssaal für eine Gruppe von Amateurfotografen. An den Wochenenden besuchen die Mitglieder zudem die umliegenden Dörfer, um durch praktische Arbeitszirkel die dortige Bevölkerung an moderne Produktionsmethoden heranzuführen. Im Laufe der Jahre treten zudem mehr und mehr lokale Genossen der Kooperative bei. Um die Kommunikation innerhalb der Kooperative zu gewährleisten bedienen sich die Mitglieder einer improvisierten Arbeitssprache, genannt «spontánne esperanto», welche organisch Satzelemente aus dem Tschechischen, Slowakischen, Deutschen, Ungarischen und Ruthenischen mit Vokabular lokal-ansässiger Sprachen wie dem Kirgisischen, Usbekischen, Russischen, Ukrainischen, Uigurischen oder Tadschikischen verbindet. «Bei uns in der Kooperative war es wirklich egal, wer welcher Nationalität angehörte», wird sich das Mitglied Jan Nezval rückblickend in den 1970ern erinnern.
Doch Mitte der 1930er Jahre verschlechtert sich das politische Klima dramatisch und so sind es paradoxerweise gerade die Aktivitäten der Internationalisten, welche ins Fadenkreuz der Behörden geraten. Während der Stalinschen Säuberungen werden mindestens vierzehn Interhelpo-Mitglieder des Landesverrats und Spionage bezichtigt und hingerichtet. In den Folgejahren leitet der Rat der Industriegenossenschaften der kirgisischen SSR zudem eine grundlegende Umstrukturierung der Genossenschaft ein, in dessen Zuge die Aktivitäten der Kooperative maßgeblich eingeschränkt und unrentable Zweige abgestoßen werden. Im Jahre 1943 wird Interhelpo schließlich liquidiert. Mit der Auflösung der Kooperative endet zugleich auch eine der erfolgreichsten Basisinitiativen des real-praktizierten Internationalismus in der Geschichte der Sowjetunion.
Heute, knapp hundert Jahre später, erinnert nur wenig an die Errungenschaften der Kooperative. Einzig Nazdar, ein kleiner tschechoslowakischer Verein, bemüht sich mit finanziell begrenzten Mitteln um den Erhalt des historischen Erbes. Das Vereinsbüro, welches sich wie alle übrigen Kulturvereine der kirgisischen Minderheiten im Gebäude des nationalen Völkerensembles befindet, gleicht einem kleinen Privatmuseum: ein kleines Zimmer an den Rand gefüllt mit Geschichtsbüchern, Archivfotos und Souvenirs aus der Slowakei, Tschechien und Ungarn. «Es gibt in Bischkek kein einziges Museum, das der Genossenschaft gewidmet ist», beklagt die lokale Journalistin Jewgenija Martjanowa und vorhandenes Archivmaterial sei «nach der Privatisierung der Fabrik Frunze buchstäblich in den Mülleimer geworfen» worden. Ein ähnliches Bild offenbart sich auch mir selbst – auf der Fučík-Straße 38 nur unweit vom Interhelpo-Viertel entfernt befindet sich das historische Gebäude der Lederfabrik. Am Eingang des Gebäudes erklärt mir die Empfangsdame eines Privatunternehmens, dass die Firma kurz vor der Schließung stehe und ab dem Herbst mit dem Abriss des Gebäudes begonnen werde. Mit dem Abriss wird eine weitere Gedenktafel, welche die Geschichte des Internationalismus in Bischkek bezeugt, verschwinden. Ein Nachfahre der vierten Interhelpo-Generation bemerkte im Gespräch hierzu trocken: «Das ist rentabler Baugrund in Zentrumsnähe, das wird früher oder später alles verschwinden. Im Leben währt nichts ewig.»
Doch geht es bei dem Erhalt des historischen Erbes der Genossenschaft hierbei nicht, wie häufig missverstanden wird, nur um einen Anflug «postsowjetischer Nostalgie». Es geht stattdessen um die Anerkennung und den Erhalt eines beeindruckenden Beispiels von real-praktiziertem Internationalismus, welcher aus der Mitte der Gesellschaft heraus agierte und nationale Grenzen überwand. So kann Interhelpo nicht nur unser Geschichtsbild bereichern, sondern in einer von apolitischem Denken und restaurativem Nationalismus gekennzeichneten Gegenwart eine hoffnungsstiftende und zukunftsweisende Wirkung entfalten. «Auch wenn nicht alles gelang, erreichten die Mitglieder von Interhelpo viel (…) und was, wenn es keine solche Menschen mehr gibt?», fragt die Enkelin des Genossenschaftsgründers Elwira Mareček laut in den Raum und fügt dann hinzu: «Dann ist es wie in der Welt von heute – jeder lebt nur für sich selbst.» Doch Menschen wie Elwira, die sich für eine konstruktive und ausgewogene Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe der Sowjetzeit aussprechen, fehlt es an institutioneller Unterstützung. Sie sind ständig der Gefahr ausgesetzt vom vorherrschenden Diskurs marginalisiert zu werden, sodass ihre Stimmen unerhört bleiben. Ronald Grigor Suny, einer der führenden Sowjethistoriker im anglo-amerikanischen Raum beklagt in seinem jüngsten Werk Red Flag Unfurled (2017), dass «jetzt, wo das politische Anliegen für das die UdSSR stand, nicht mehr ihre frühere Wirkungskraft entfalten kann, weniger Anreize bestehen, die Geschichte [der Sowjetunion] in ihrer vollen Komplexität und moralischen Ambiguität zu erzählen». In einer von Pessimismus und Entleerung gekennzeichneten Welt der Postmoderne, in der sich die »Ökonomie nichtkapitalistischer Gesellschaften als Studienfach verflüchtigte», wird das sozioökonomische Experiment des Staatsozialismus seiner geschichtlichen Vielschichtigkeit beraubt und, stattdessen, oft ausschließlich auf «Tragödien des Stalinismus, des Gulag und des Terrors» reduziert. Zudem wird der Werdegang der USSR mit dem des Sozialismus gleichgesetzt und das Scheitern so als unausweichliches historisches Schicksal begriffen, welches (angeblich) bereits im «genetischen Code der Revolution» verortet sei. Die geschichtliche Erfahrung Interhelpos hinterfragt nicht nur dieses Geschichtsnarrativ, sondern fordert zudem eines der wichtigsten post-sowjetischen Verklärungsmythen heraus – den «Homo Sovieticus». So wird Alexander Sinowjew’s Karikatur des stets passiven und korrumpierten «Sowjetmenschs» die echte historische Gestalt des tschechoslowakischen Internationalisten entgegengesetzt, der schwersten persönlichen Entbehrungen und den widrigen Bedingungen der zentralasiatischen Steppe zum Trotz zusammen mit Arbeitern der Sowjetrepublik den Grundstein legte für den Bau der heutigen Hauptstadt Kirgisistans.