Publikation Digitaler Wandel - Gesellschaftstheorie - Corona-Krise - Digitalisierung und Demokratie Erfassen und Modellieren

Covid-19 und die Politik von «Big Data»

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Felix Stalder,

Erschienen

April 2020

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Die Kurve abflachen; Bild: shutterstock.com.

Im Moment spüren viele Menschen, wie die tektonischen Platten der Politik sich verschieben. Es ist schwer, sich in so unsicherem Terrain zu orientieren. Beginnend mit dem Virus selbst, von dem angenommen wird, das es irgendwann im letzten Herbst von Tieren auf Menschen übergesprungen ist (zoonotic spillover), gibt es einfach zu viele Akteure in dem komplexen dynamischen System unserer planetaren Zivilisation, deren Wege auf schwer verständliche Weise verändert wurden. Das macht es unmöglich, die kumulativen Auswirkungen ihrer Interaktion zu erfassen. Wir befinden uns auf Neuland.

Felix Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung in Zürich, Vorstandsmitglied des World Information Institute in Wien und langjähriger Moderator der internationalen Mailingliste «nettime». Er forscht u. a. zu Netzkultur, Urheberrecht, Commons, Privatsphäre, Kontrollgesellschaft und Subjektivität. Zuletzt erschienen: «Kultur der Digitalität» (2016); felix.openflows.com

Dennoch, obwohl viele Maßnahmen improvisierte Reaktionen auf sich schnell verändernde Ereignisse sind, ergeben sich dennoch gewisse Strukturen, einfach weil Menschen und Institutionen auf die materiellen, politischen und kulturellen Ressourcen zurückgreifen, die ihnen zur Verfügung stehen. Aber auf welche Ressourcen zurückgegriffen werden soll, wie sie zu mobilisieren sind und wie dabei neue geschaffen werden können, das sind die entscheidenden Fragen. Während es Pfadabhängigkeit und Kontinuität gibt, selbst in der Art und Weise, wie Akteure ihre Pfade wechseln können, herrscht auch ein Moment außerordentlicher Offenheit. Deshalb ist es wichtig, nicht nur wachsam gegenüber den autoritären Kräften, die diese Krise nutzen, zu sein, also die Demokratie, so wie sie existiert, zu verteidigen, sondern auch über Möglichkeiten nachzudenken, wie sie gerade jetzt gestärkt und erweitert werden kann.

Ein Bereich, in dem dies besonders dringlich ist, ist der Bereich von «Big Data» als der Erfassung und Auswertung von großen Datenmengen zur Analyse komplexer Dynamiken. Im Folgenden möchte ich mich auf zwei Felder der Datenpraktiken konzentrieren, bei denen die aktuell angestoßenen Veränderungen besonders tief greifend und nachhaltig und damit voller Potenzial sind: die Art und Weise, wie Menschen informationell erfasst werden, und die Art der Modellierung, die wir verwenden, um die Gesellschaft in Echtzeit zu verstehen und auf sie einzuwirken.

Erfassen von Personen

Die Ausbreitung des Virus legte die Oberflächlichkeit der Vorstellung offen, dass wir alle einzigartige Individuen seien, jeder Herr über sein eigenes Schicksal. Anstatt in der Lage zu sein, unsere eigenen Wege rational zu kalkulieren, unbeeinflusst von Menschen, mit denen wir keine expliziten Beziehungen eingehen, offenbart das Virus das Ausmaß, den Umfang und die Intimität der Beziehungen, die wir untereinander und mit vielen «anderen Anderen» als Grundlage unseres Alltagslebens haben. Erst jetzt sind die relativ privilegierten Mitglieder der Gesellschaft, die aufgrund von Ausgangsbeschränkungen und der Möglichkeit von «Home Office» in ihren eigenen privaten Räumen eingeschlossen sind, gezwungen, sich als wirklich atomisierte Individuen zu konfrontieren. Und sie erleben dabei hautnah, wie unnatürlich dieser Zustand ist.

Um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, müssen die Ketten, entlang derer sich das Virus bewegt, erkannt und unterbrochen werden, entweder durch Unterbrechung möglichst vieler Beziehungen in der gesamten Gesellschaft mittels allgemeiner «sozialer Distanzierungsregeln» oder durch den Versuch, die spezifischen Wege zu verfolgen, auf denen sich das Virus in der Gesellschaft verbreitet, um die Unterbrechungen zielgerichteter durchführen zu können. Und da die vorherrschende Art und Weise, wie sich das Virus verbreitet menschlich-menschlich ist, bedeutet dies, die sozialen Beziehungen nachzuvollziehen, die singuläre Person definieren und die weit über die explizit gewählten hinausgehen.

Es gibt zwei mächtige, bereits im Einsatz befindliche Modelle zur Personenerfassung. Das erste kommt von staatlicher Seite. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts sind staatliche Behörden damit beschäftigt, ihre Subjekte zu erfassen, und zwar aus Gründen der Besteuerung, der Wehrpflicht, der Sicherheit und aufgrund verschiedener biopolitischer Zielsetzungen, einschließlich der öffentlichen Gesundheit. Mit der Ausweitung der Funktionen des Staates, nicht zuletzt durch den Wohlfahrtsstaat, hat die Überwachung von Menschen in einer immer größeren Vielfalt von Kontexten stetig zugenommen. Mit zunehmender Mobilität und sozialer Komplexität verlagerte sich dieses Regime im Laufe der Zeit von statischen Maßnahmen (wie Grenzkontrollen) zu dynamischen Maßnahmen (wie der Erfassung von Kommunikations-Metadaten). Dies war Teil eines allgemeineren Wandels von einer «Disziplinargesellschaft», in deren Mittelpunkt einschließende Institutionen wie Schule, Armee und Fabrik standen, hin zu einer «Kontrollgesellschaft», die sich auf die Verfolgung und Manipulation kybernetischer Ströme für unterschiedliche Umsetzungen der oben genannten Zwecke konzentrierte. Zweitens begannen in den frühen 2000er Jahren die am fortgeschrittensten Sektoren des Kapitalismus die Fähigkeit des Staates zu übertreffen, die Menschen zu überwachen, diesmal vor allem in der Sphäre des Konsums. Die ersten Infrastrukturen zur Verfolgung einzelner Konsumenten wurden Ende der 1950er Jahre von der Kreditkartenindustrie geschaffen. Seither wurden sie stetig ausgebaut und in den letzten Jahrzehnten im System des «Überwachungskapitalismus» konsolidiert. Sein Hauptmerkmal besteht darin, immer mehr Dimensionen menschlicher Aktivität neu zu organisieren, um das Erfassen und Manipulieren von Menschen zu optimieren, diesmal im Streben nach privatem Profit. Dies ist ein System, das spektakulär erfolgreich war, wenn wir Unternehmensbewertungen oder die Quelle extremen persönlichen Reichtums als Indikatoren heranziehen.

Während diese beiden Modelle schon immer viele Verknüpfungspunkte hatten, wie zuletzt Edward Snowden 2013 aufzeigte, waren im Westen Unternehmen und Staat nicht vollständig integriert und standen oft in einem Spannungsverhältnis zueinander. Ein Beispiel dafür sind die wiederholten Kämpfe um den Einsatz von Verschlüsselungstechniken, bei denen globalisierte Technologieanbieter gegen nationale Sicherheitsapparate antreten. Unter dem Druck der Krise beginnen diese beiden Modelle nun offener und umfassender zu verschmelzen. Es ist noch zu früh, um zu sagen, wie und wo dies geschehen wird, aber es scheint sehr wahrscheinlich, dass sich der Druck und der Wunsch, dies zu tun, noch verstärken wird.  Besonders im Rahmen der Bemühungen um die Eindämmung des Virus nach der Anfangsphase der Abriegelung, von der niemand weiß, wie lange diese zweite Phase andauern und welchen ökonomischen Schaden sie anrichten wird. Die Orwell'schen Auswirkungen einer solchen Fusion sind offensichtlich, und die aktuelle Krise könnte leicht dazu genutzt werden, diese Bedenken beiseitezuschieben. Im Westen ist die Gefahr in den USA am größten, wo der Sicherheits- und der Unternehmenssektor bereits eng miteinander verflochten sind und der Datenschutz gesetzlich nur schwach verankert ist. In China waren diese Sektoren nie in der gleichen Weise getrennt.

Aber dies sind nicht die einzigen verfügbaren Modelle. Die Zivilgesellschaft, zu der man den öffentlichen Gesundheitssektor zählen kann, hat ihre eigene Art, über die Beziehung zwischen der einzelnen Person und der Gesellschaft als Ganzes nachzudenken. Hier sind Vorstellungen von Pflege und Gegenseitigkeit sowohl auf der persönlichen als auch der kollektiven Ebene (z.B. in Form allgemeiner Krankenversicherung) zentraler als Kontrolle oder Profit. Und wir können sehen, wie diese Vorstellungen in Mechanismen zum Schutz der Privatsphäre umgesetzt werden, die sich ausschließlich auf die Erfordernisse der öffentlichen Gesundheit konzentrieren. Sie beruhen auf freiwilliger Beteiligung aus einem Gefühl der kollektiven Verantwortung heraus. Die kürzlich vorgeschlagene «Pan-European Privacy Preserving Proximity Tracing Initiative» zum Beispiel verkörpert diese Denkweise. Ihr Ansatz ist es nicht, die Nutzer individuell zu schützen, da sie nur vor möglichen Infektionen in der Vergangenheit warnt. Ziel ist es, die Ausbreitung der Krankheit zu stoppen, indem Geschwindigkeit und Genauigkeit der Selbstisolation erhöht werden – eine Maßnahme, die in diesem Szenario nur dazu dient, andere zu schützen, die so ihr Leben ohne Unterbrechung fortsetzen können. Der persönliche Gewinn ist hier indirekt, durch die Fähigkeit, weiterhin in einer Gesellschaft zu leben, die als Ganzes weiter funktioniert, und nicht direkt, das heißt durch die Verbesserung der persönlichen Gesundheit. Aber Europa fehlt es an der technologischen Infrastruktur, um eine solche Lösung allein umzusetzen. Alle Apps müssen auf den von Google und Apple bereitgestellten mobilen Plattformen laufen. Sie können nicht nur jede Lösung besser implementieren, weil sie das Betriebssystem auf eine Weise verändern können, wie es normale App-Entwickler nicht können, sondern sie können auch rasch Millionen von Handys gleichzeitig aktualisieren. Diese beiden Unternehmen haben nun angekündigt, bei der Entwicklung einer Proximity-Tracing-Lösung zusammenzuarbeiten. Selbst wenn diese Lösung am Anfang dem europäischen Vorschlag ähnelt, wird es eine massive Herausforderung sein, sicherzustellen, dass sie nicht im Laufe der Zeit aufgrund von ökonomischen oder sicherheitspolitischen Begehrlichkeiten umgestaltet wird.

Was diese ganze Diskussion jedoch zeigt, ist, dass es zwei mögliche Bahnen gibt, auf denen eine solche sich verändernde Beziehung zwischen dem Singular und dem Kollektiv ausgedrückt und institutionalisiert werden kann. Die eine setzt die schwere Hand des Staates und/oder der Wirtschaft in undurchsichtiger und unverantwortlicher Weise ein, die andere baut auf einem zivilgesellschaftlichen Verständnis der persönlichen Abhängigkeit von bekannten und unbekannten «Anderen», auf einem erneuerten Bewusstsein der Solidarität auf.

Es besteht kaum Zweifel daran, dass die umfassende Erfassung von Menschen und Nicht-Menschen, von Orten und Strömen weiter zunehmen wird. Es gibt sehr starke sicherheitspolitische, kommerzielle und gemeinwohlorientierte Gründe dafür, die weit über die Eindämmung des aktuellen Coronavirus hinausgehen. Wenn wir zum Beispiel zu einer Kreislaufwirtschaft übergehen wollen, die die Umweltverschmutzung und die Verschwendung von Ressourcen verringert, dann müssen wir neue und verbesserte Mess- und Bilanzierungsverfahren entwickeln, die eine stärkere Rückverfolgung von Ressourcen und Prozessen beinhalten. Wenn wir zu einer dezentralisierten Energieversorgung und zu «intelligenten Netzen» übergehen wollen, wird eine deutlich kleinteiligere Erfassung und Steuerung von Energieangebot und -nachfrage erforderlich sein. All diese Entwicklungen haben bereits vor der Ausbreitung des Virus auf der ganzen Welt begonnen, und sobald die Weltwirtschaft (in welcher Form auch immer) wieder in Gang kommt, werden sie sich beschleunigt fortsetzen.

Das Konzept des «autonomen Individuums» wird spätestens seit Michel Foucaults Arbeiten zur Biopolitik und seiner Vorstellung vom «Verschwinden des Menschen» infrage gestellt und ist aus der neobehavioristischen zeitgenössischen Netzwerkwissenschaft völlig verschwunden (einer der Hauptpunkte in Shoshana Zuboffs Kritik des Überwachungskapitalismus). Aber welches Konzept wird es ersetzen? Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und den anderen ist nicht mehr eine rein theoretische, sondern eine, die die technologische Infrastruktur aktiv neu gestaltet. Und um die Demokratie neu zu erfinden, reicht es nicht aus, zu versuchen, kontroll- und profitorientierte Erfassung zu minimieren. Es bedarf auch der aktiven Entwicklung und Umsetzung von Möglichkeiten, um die Beziehungen untereinander unter dem Impuls der Fürsorge expliziter zu machen.

Modellieren der Gesellschaft

Wenn es ein einzelnes Bild gibt, das die weltweite Krise repräsentiert, dann das der dynamischen Kurve der steigenden (und irgendwann sinkenden) Zahl der Neuinfektionen, welche die statische und horizontale Linie der Fähigkeit des Gesundheitssystems, Patienten zu versorgen, überlagert.

Daraus folgt quasi automatisch eine einfache politische Forderung: «Die Kurve abflachen!» Das heißt, man muss alles tun, um zu verhindern, dass die Kurve diese Linie überschreitet. Denn außer den radikalsten Ideologen des freien Marktes ist allen klar, dass die Welt oberhalb dieser Linie katastrophal und unmenschlich ist. Ein steter Strom von Geschichten und Videos aus Gegenden, in denen die Kurve tatsächlich diese Schwelle überschritten hat, verstärkt diese Forderung nachdrücklich.

Dieses Modell suggeriert eine andere Vision der Gesellschaft als die, die der Neoliberalismus in den letzten 50 Jahren propagierte. Hier spielt die Selbstregulierung des Marktes kaum eine Rolle. Im Zentrum steht die sichtbare Hand eines zielgerichteten, kollektiven Handelns, koordiniert durch den Staat oder andere Mittel. Das Ziel ist eine Koordinierung in Richtung auf konkrete Ergebnisse hin und nicht nur die Festlegung von Bedingungen für individuelles Handeln, das «spontane Ordnung» (um Hayeks schillernden Begriff zu verwenden) erzeugt. Mehr noch, es ist geradezu notwendig, das reibungslose Funktionieren des Marktes zu verhindern, das heißt, Preise zum Beispiel für medizinische Güter sollen sich eben nicht an die stark gestiegene Nachfrage anpassen. Was die Plattformwirtschaft euphemistisch als ein innovatives Marktmodell gefeiert hat, nämlich das surge pricing, wird unter diesen Umständen als «Preistreiberei» betrachtet.

Was dieses Modell zeigt, ist, dass die Gesellschaft nicht zu komplex ist, um verstanden zu werden, und daher am besten der unsichtbaren Hand überlassen werden sollte. Im Gegenteil, sie kann in nahezu Echtzeit als Ganzes verstanden werden, und es gibt Möglichkeiten, die Gesellschaftsentwicklung so zu gestalten, dass gewünschte Ergebnisse erzielt und unerwünschte vermieden werden. Im Umgang mit der Klimakrise werden wir solches Denken noch an anderen Stellen benötigen.

Die vorherrschende Art und Weise einer solchen Lesart der Gesellschaft ist daten-basiert, wie die Bürokratien des modernen Staates, die ersten Institutionen, die sich diesem Problem stellten, in der Mitte des 18. Jahrhunderts erkannten. Der Bedarf an Daten ist ein starker Anreiz zur Erfassung der Menschen und einer der Hauptgründe, warum der Virus seit Langem bestehende Dynamiken in diesem Bereich einfach beschleunigt und ausweitet. Die zahlenmäßige Erfassung der Menschen begann lange vor dem Virus und wird nicht aufhören, sollte das Virus eingedämmt werden.

Aber Daten sprechen nicht für sich selbst, insbesondere nicht, wenn sie für die Zukunft sprechen sollen. Daher müssen Daten nicht nur gesammelt, sondern auch in Modelle eingespeist werden, aus denen Kurven und Vorhersagen abgeleitet werden können. Weder Daten noch Modelle werden einfach vorgegeben. Vielmehr werden sie gemacht und spiegeln somit unvermeidlich bewusste und unbewusste Tendenzen sowie die zufälligen Modalitäten ihrer Erstellung wider. Zum Beispiel stellt die überaus wichtige Neuinfektionsrate, die dem mächtigen Modell zur «Abflachung der Kurve» zugrunde liegt, ein chaotisches und sich veränderndes Verhältnis der Zahl der tatsächlich Infizierten und der Fähigkeit des Gesundheitssystems dar, auf den Virus hin zu testen und die Krankheit zu verifizieren. Und das Modell, das heißt die Extrapolation der Kurve in die Zukunft, hängt von einer Vielzahl von Variablen ab, von denen keine genau bekannt ist, sondern die nach bestimmten Annahmen festgelegt werden müssen. Je nachdem, wie genau diese Variablen gesetzt werden, liefert das Modell sehr unterschiedliche Ergebnisse. Öffentliche Modellierungssoftware wie der «Epidemie-Rechner» erlauben es jedem, ein Dutzend Variablen, die dieser Kurve zugrunde liegen, flexibel zu setzen. Dies zeigt ganz praktisch und intuitiv die Komplexität des Modells, die Annahmen, die trotz eines Mangels an genauen Kenntnissen vorgegeben werden müssen (z.B. die exakte «Länge der Inkubationszeit»), und auch die Möglichkeit, die Ergebnisse durch soziales Handeln zu gestalten, das darauf abzielt, die Werte des Modells zu verändern (z.B. «Interventionen zur Verringerung der Übertragungsrate»). Die Funktion solcher Modelle besteht nicht darin, die Zukunft vorherzusagen, ganz im Gegenteil, sie sollen eine Planung von verschiedenen Szenarien ermöglichen, um die Zukunft zu beeinflussen.

In vielerlei Hinsicht ist dies überhaupt nichts Neues. Vielmehr ist dies das grundlegende kybernetische Gesellschaftsmodell. Die Ströme werden kontinuierlich gemessen und durch alle Arten von informationellen und materiellen Eingriffen in die eine oder andere Richtung hin optimiert, und die Ergebnisse dieser Optimierungen werden in das Modell zurückgeführt. Solche Modelle gibt es überall, sie stellen grundlegende Management- und Regierungsinstrumente dar. Neu ist, dass unsere datensaturierten Gesellschaften es geschafft haben, solche Modelle für eine immer größere Bandbreite von Situationen zu erstellen und die Rückkopplungsschleifen zu schärfen, sei es im Subsekundenbereich der Finanzmärkte oder im mehrjährigen Rhythmus der Ökosystemmodellierung. Soziale Medien haben diese Art, die Gesellschaft zu verstehen, in den Alltag und in persönliche Beziehungen hineingetragen. Nicht nur durch ihre Anwendung auf den intimen Bereich, sondern auch dadurch, dass sie den Nutzern Werkzeuge an die Hand geben, um ihre eigene soziale Kommunikation auf diese Weise zu gestalten, und dass sie eine Reihe von Variablen bieten, die so optimiert werden können, dass bessere Ergebnisse erzielt werden. Diese reichen von Tipps, wie man «effektiver» kommuniziert, das heißt sein Verhalten innerhalb der bestehenden Umgebung optimiert, bis hin zur Möglichkeit, Werbung und andere Signalverstärker zu kaufen, um die Umgebung zum eigenen Vorteil effektiv zu manipulieren (so lautet zumindest das Versprechen).

Während die grundlegenden Modellierungstechniken weit verbreitet sind, unterscheidet sich das epidemiologische Modell, das derzeit die Gesellschaft dominiert, in zwei entscheidenden Punkten von den meisten anderen Modellen, die die politische und wirtschaftliche Entscheidungsfindung steuern. Erstens, dieses Modell, das aus der Wissenschaft stammt, ist sowohl transparent als auch umstritten. Das heißt, es gibt eine breite, bei Bedarf öffentlich zugängliche Fachdiskussion über diese Modelle, die Gültigkeit der Variablen, wie ihre spezifischen Werte im Einzelfall zu bestimmen sind (z.B. wie die «Länge der Inkubationszeit» für diesen Virustyp zu messen ist) und die Art und Weise, wie diese Variablen miteinander in Beziehung stehen. Am Ende einer solchen Diskussion gibt es mehrere Modelle oder Variablenwerte, die miteinander verglichen und beurteilt werden können. Zweitens, es gibt eine breite Diskussion darüber, wie das durch das Modell gewonnene Wissen in soziales Handeln umgesetzt werden soll. Wenn das Modell also dringende «Interventionen zur Verringerung der Übertragungsrate» vorschlägt, kann es eine Diskussion darüber geben, welche Interventionen wirksam und sozial wünschenswert sind. Sollen Veranstaltungen verboten und Selbstquarantäne verhängt werden, sollen die Menschen Masken tragen, Tracker-Apps auf ihren Smartphones installieren usw.? Im Laufe der Zeit, selbst wenn das zugrunde liegende Modell gleichbleibt, werden sich die Antworten auf diese Fragen sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus politischen Erwägungen verschieben. Diese Diskussionen finden in der Öffentlichkeit statt oder sie müssen zumindest gegenüber der Öffentlichkeit erklärt und begründet werden, um ein Minimum an freiwilliger Mitwirkung zu sicherzustellen.

Die Zeiten, in denen die Gesellschaft ohne datenbasierte, rückgekoppelte kybernetische Modelle auskommen konnte, sind längst vorbei. Sie sind wesentliche Instrumente für das Selbstverständnis einer komplexen, dynamischen Gesellschaft. Heute funktionieren die meisten dieser Modelle jedoch als echte black boxes. Ihre Funktionsweise ist intransparent und ihre Anwendung nicht nachvollziehbar, sie werden einfach eingesetzt, ohne dass diejenigen, deren Leben durch sie geprägt wird, einen bewussten Einfluss darauf nehmen können. Diejenigen, die in der Lage sind, solche Modelle zu schaffen und umzusetzen, sind in der Lage, ihre eigenen Visionen von der Gesellschaft, ihre eigenen Annahmen darüber, was zählt und was nicht, und ihre eigene Einschätzung dessen, was ein wünschenswertes Ergebnis darstellt, umzusetzen. Die Allgegenwart von Black-box-Modellen sind mit ein Grund für den autoritären, technokratischen Charakter der gegenwärtigen Politik.

Im Gegensatz dazu muss die Art und Weise, wie die epidemiologischen Modelle erstellt, diskutiert und die Konsequenzen umgesetzt werden, nicht, wie viele liberale Kommentatoren behaupten, einen neuen «Autoritarismus» konstituieren. Im Gegenteil, sie können auf die Anwendung «großer Daten» hinweisen, die die Demokratie stärken, anstatt sie zu untergraben. Die Explizitheit dieser Modelle schafft ein Bewusstsein für Dynamiken auf Systemebene, das darauf abzielt, die Debatte über Mittel und Ergebnisse anzuregen, sie sozusagen auf die politische Bühne zu bringen, anstatt dieses Wissen geheim zu halten und Maßnahmen von hinter dem Vorhang aus aufzuzwingen. Wir werden viel mehr solcher demokratischen Momente in der Anwendung «großer Daten» brauchen.

Der demokratische Einsatz von «Big Data»

Während das autoritäre Potenzial der Krise sowohl in Bezug auf erweiterte Formen der Überwachung als auch auf die breitere politische Dynamik sehr groß ist, gibt es auch das Potenzial, eine demokratischere Nutzung von «Big Data» in die Wege zu leiten. Dies wird einen starken rechtlichen Rahmen und institutionelle Kapazitäten erfordern, die Regeln bestimmen und durchsetzen, um vier grundlegende Bedingungen zu gewährleisten:

  1. Daten müssen gelöscht werden, nachdem der unmittelbare Zweck der Analyse erreicht ist, und wenn neue Daten generiert wurden, muss der Prozess der Erhebung dieser Daten beendet werden. Damit wird verhindert, dass aus befristeten Notwendigkeiten dauerhafte Wissensasymmetrien entstehen, ähnlich wie Notstandsgesetze mit einem Ablaufdatum versehen werden müssen.
  2. Die Analyse muss auf vorher festgelegte Zwecke von öffentlichem Interesse beschränkt werden. Dies kann erreicht werden, indem die Institution, die die Forschungsfrage(n) formuliert, zum Beispiel ein öffentliches Gesundheitsinstitut, und die Institutionen, die die eigentliche Datenanalyse durchführen, getrennt werden. Dies ist notwendig, um eine schleichende Ausweitung der Analyse zu verhindern.
  3. Die Daten müssen mehreren Teams, die völlig unabhängig voneinander sind, zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise wird verhindert, dass die Öffentlichkeit von der Analyse der Datenlieferanten (z.B. Social-Media-Unternehmen) abhängig wird, und es wird auch die gegenseitige Prüfung der verschiedenen Methoden der Datenanalyse ermöglicht. Jedes Modell hat seine eigenen Annahmen und deren Berechtigung kann nur im Vergleich verschiedener Modelle zueinander bewertet werden.
  4. Die Fragen, Methoden und Ergebnisse der Analyse müssen im Nachhinein veröffentlicht werden. Dies ermöglicht eine öffentliche Bewertung der Wirksamkeit und Legitimität der Datenerhebung und der verschiedenen Modelle und verhindert, dass falsche Annahmen und fehlerhafte Modelle wiederholt eingesetzt und unnötige private Daten verwendet werden. Eine klare Analyse der Wirksamkeit der großen Datenanalyse könnte auch dazu beitragen, die Flut des «Solutionismus» einzudämmen, bei dem undurchsichtige und unbewiesene Ansätze mit weit übertriebenen Versprechungen verkauft werden, was unter anderem davon ablenkt, dass Investitionen in bestehende Infrastrukturen oftmals viel notwendiger wären.

Ein solcher Rahmen, der sowohl das Potenzial von «Big Data» zur Bereitstellung von sozialem Wissen in Echtzeit als auch den demokratischen Charakter unserer Gesellschaften anerkennt, sollte nicht auf die aktuellen Gesundheitskrisen beschränkt werden. Vielmehr wäre er auch für andere gesellschaftliche Herausforderungen wie den Klimawandel, die wir auf Basis von großen Datenmengen besser verstehen und besser angehen können, sehr nützlich.