Publikation Deutsche / Europäische Geschichte - Arbeit / Gewerkschaften - Migration / Flucht - Kämpfe um Arbeit Migration und Arbeitskämpfe

Ein Blick zurück in die Zeit der «Gastarbeiter*innen» und ihre Kämpfe in der BRD der 1970er Jahre

Information

Reihe

Online-Publ.

Autorin

Efsun Kızılay,

Erschienen

August 2020

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Streikende türkische Arbeiter am 29. August 1973 am Ford-Werk in Köln-Niehl
Streikende türkische Arbeiter am 29. August 1973 am Ford-Werk in Köln-Niehl. Auslöser des «Wilden Streiks» war die Entlassung von 300 Arbeiter*innen, die verspätet aus dem Urlaub zurückgekehrt waren. Doch ging es um viel mehr.  picture alliance / UPI

Derzeit werden die Arbeitsbedingungen in Großbetrieben intensiv diskutiert. Insbesondere jene Unternehmen, deren Belegschaft sich vor allem aus migrantischen Arbeiter*innen in prekären Arbeitsverhältnissen zusammensetzt, stehen im Fokus. Die schlechten Arbeitsbedingungen migrantischer Arbeitskräfte in Deutschland sind allerdings kein neues Phänomen, sondern haben eine lange Geschichte – ebenso wie die Kämpfe dagegen.

Schon früh begehrten die Arbeiter*innen gegen Arbeitsverhältnisse auf, die sie als ungerecht und unmenschlich empfanden, und forderten bessere Arbeits- und Lebensbedingungen sowie angemessene Löhne. Sie nahmen die Arbeitskämpfe selbst in die Hand, die sie oft unabhängig von den Betriebsräten als sogenannte wilde Streiks durchführten, verbunden mit Kämpfen gegen Rassismus und Ausschluss. Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die migrantischen Arbeitskämpfe der 1970er Jahre und legt einen besonderen Schwerpunkt auf das Streikjahr 1973.

Efsun Kızılay ist Referentin für Migration in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Anwerbungsjahre

Dem Mangel an Arbeitskräften in der expandierenden Nachkriegswirtschaft in der BRD beschloss die Bundesregierung über Anwerbeabkommen zu begegnen. Abgeschlossen wurden diese 1955 mit Italien, 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1967 mit Jugoslawien.[1] Diese als kostengünstigste Lösung angepriesene Anwerbung sah keine dauerhafte Anwesenheit der angeworbenen Arbeiter*innen vor. Aus diesem Grunde wurden sie als «Gastarbeiter*innen» bezeichnet.[2]

Die «Gastarbeiter*innen» bekamen vor allem niedrig qualifizierte Tätigkeiten zugeteilt und arbeiteten oft Akkord am Fließband, im Baugewerbe oder in der Steinkohleförderung im Bergbau. Der sogenannte Fahrstuhleffekt führte dazu, dass migrantische Arbeiter*innen am unteren Ende der Beschäftigungshierarchie eingesetzt wurden und deutsche dadurch in höhere Tätigkeiten aufsteigen konnten. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen von Arbeiter*innen zeigte sich auch bei den Löhnen, die häufig auseinanderklafften.[3]

Unter den migrantischen Arbeiter*innen formierte sich zunehmend Widerstand gegen die ungleichen und schlechten Arbeitsbedingungen. Sie fingen an, sich in Gewerkschaften zu organisieren und sich an Arbeitskämpfen zu beteiligen. Von den rund zwei Millionen migrantischen Arbeiter*innen war zu Beginn der 1970er Jahre etwa ein Viertel gewerkschaftlich organisiert.[4] Viele dieser Arbeiter*innen hatten ein starkes politisches Bewusstsein. Meist stammten sie aus Ländern, die zu jener Zeit einschneidende politische Umbrüche erlebten. In Griechenland, Portugal und Spanien bestanden bis Mitte der 1970er Jahre Diktaturen, in der Türkei gab es in den 1970er Jahren eine starke Organisierung von Arbeiter*innen und zahlreiche Streiks, auch aus dem sozialistischen Jugoslawien waren Arbeiter*innen nach Deutschland gekommen.[5] Arbeiter*innen aus Griechenland organisierten von Deutschland aus den Widerstand gegen die Militärjunta und Arbeiter*innen aus der Türkei, wo Gewerkschaften unter staatlicher Repression litten, gründeten Vereine in Deutschland. Aus Italien, wo die Kommunistische Partei als zweitstärkste Partei im Parlament vertreten war, brachten Arbeiter*innen beträchtliche Streikerfahrungen mit nach Deutschland. So versuchten migrantische Arbeiter*innen, die Erfahrungen aus ihren Herkunftsländern über gewerkschaftliche Tätigkeit in Arbeitskämpfe zu kanalisieren.[6]

Rolle der Gewerkschaften und migrantische Selbstorganisierung

Die angeworbenen Gastarbeiter*innen nahmen die Gewerkschaften zunächst vor allem als neue Konkurrenz wahr. Dies erklärt ihre Zurückhaltung, wenn es um Fragen des Einsatzes für und der Repräsentation von migrantischen Arbeiter*innen ging. Da sich viele migrantische Arbeiter*innen nicht durch die Gewerkschaften vertreten sahen, organisierten sie unabhängig von ihnen zwischen 1950 und 1970 eigenständig zahlreiche «wilde Streiks». Diese hatten sowohl Spaltungen zwischen deutschen und migrantischen Arbeiter*innen zur Folge als auch erfolgreiche Solidarisierungen der Arbeiter*innen untereinander.[7]

Nicht selten begegneten Deutsche den migrantischen Arbeiter*innen mit Misstrauen und Skepsis. Viele der vorwiegend deutschen Betriebsrät*innen und Gewerkschaften verwehrten den migrantischen Arbeitskämpfen ihre Unterstützung – basierte ihre Besserstellung in den Betrieben doch auch darauf, dass migrantische Arbeiter*innen die unteren Hierarchieebenen ausfüllten.[8] Waren deutsche Arbeiter*innen und die Gewerkschaften eher am Erhalt der betrieblichen Strukturen interessiert und stützten diese, kämpften Migrant*innen häufig für deren Änderung und gegen ihren eigenen Ausschluss.[9] Sie kritisierten sowohl die rassistischen Zustände in den Betrieben als auch ihre schlechte Wohnsituation.

Schließlich kulminierte ihre Unzufriedenheit im Streikjahr 1973.[10] Nach Angaben des Redaktionskollektivs express streikten in diesem Jahr mindestens 275.000 Arbeiter*innen und Angestellte in rund 335 Betrieben spontan und unabhängig von den Gewerkschaften.[11] In Osnabrück legten beim Karosseriewerk Karmann spanische und portugiesische Arbeiter*innen, unter ihnen viele Frauen, die Arbeit nieder und forderten eine flexible Arbeitszeitregelung. Streikende Arbeiter*innen bei John Deere in Mannheim wurden beschimpft und mussten sich vor tätlichen Angriffen in Sicherheit bringen.

Die Arbeiter*innen wandten sich vor allem mit Lohnforderungen an die Arbeitgeber, kritisierten zunehmend aber auch die kapitalistische Strukturierung der Arbeit. So protestierten zum Beispiel bei Valvo in Aachen und bei den Hella-Werken in Lippstadt Arbeiter*innen für eine Teuerungszulage und gegen die Lohnunterschiede zwischen deutschen und migrantischen Arbeiter*innen. Die Teuerungszulage in Lippstadt hatte der Betriebsrat zuvor nur für die deutschen Arbeiter*innen durchgesetzt. Obwohl die Forderungen der Migrant*innen auch die deutschen Arbeiter*innen einschlossen, zeigten sich diese selten solidarisch mit den migrantischen Arbeitskämpfen. Das Multinationale Komitee Lippstadt, das sich nach dem Streik bildete, wandte sich offen gegen die rassistischen Strukturen im Betrieb:

«Wir sind Griechen, Deutsche, Spanier und Italiener; aber unabhängig von unserer Nationalität sind wir alle Arbeiter und wir haben alle die gleichen Probleme – oder läuft das Band für einen Griechen etwa schneller als für einen Deutschen? Wir werden der Betriebsleitung nicht die Freude machen und uns wegen verschiedener Haar- und Augenfarben spalten lassen.»[12]

Die Teuerungszulage für alle wurde erkämpft, fiel aber geringer aus als gefordert.

In vielen Betrieben wuchs der Unmut gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und entlud sich in verschiedenen Widerstandsformen und Protesten. Enttäuschung machte sich breit hinsichtlich des zurückhaltenden Verhaltens der Gewerkschaften, denen man schließlich die Vertretung der eigenen Forderungen absprach. Zwei Streiks im Jahr 1973 stechen besonders hervor: der Frauenstreik bei Pierburg in Neuss und der Streik bei Ford in Köln.

Der Streik bei Pierburg

Im August 1973 fand der Arbeitskampf bei Pierburg statt, der einer der ersten erfolgreichen Streiks in der BRD gegen frauendiskriminierende Eingruppierung und Entlohnung war. Ein wesentliches Merkmal des Streiks und einer der Faktoren, der den Streik zum Erfolg machte, war die Solidarität der Arbeiterinnen untereinander. Nach wenigen Tagen solidarisierten sich die deutschen Facharbeiterinnen mit den streikenden migrantischen Frauen und widersetzten sich gemeinsam den Einschüchterungsversuchen der Arbeitgeber. 1.800 migrantische und 400 deutsche Arbeiterinnen traten mit der Forderung «1 Mark mehr» in einen unbefristeten und spontanen Ausstand. Arbeitergeber, Medien und auch Politiker*innen versuchten, den Streik zu kriminalisieren.[13] Begonnen hatte alles mit der Verteilung von Flugblättern durch griechische Arbeiter*innen, auf denen sie in verschiedenen Sprachen zum Streik aufriefen. Daraufhin rückte die Polizei an, um die Aktivistinnen festzunehmen.[14] Während eines Handgemenges bedrohte ein Polizist sie mit gezogener Pistole und beleidigte sie rassistisch. Als sich die Dimension des rassistischen und gewalttätigen Angriffs der Polizei im Betrieb herumsprach, legte eine Solidarisierungswelle mit den migrantischen Kolleginnen den gesamten Betrieb lahm.[15]

Trotz betrieblicher rassistischer Strukturen, einer repressiven Unternehmensleitung, die von Presse und Polizei unterstützt wurde, konnten die migrantischen Arbeiterinnen erfolgreich Solidarität einfordern und Allianzen aufbauen. Dabei suchten sie gezielt den Kontakt zu deutschen Arbeiterinnen, gingen zum Beispiel in die von jenen oft besuchten Kneipen und erzählten dort von dem gegen sie gerichteten Rassismus.[16]

Der Streik war erfolgreich: Die diskriminierende unterste Lohngruppe 2, der migrantische Arbeiterinnen zugeteilt waren, wurde abgeschafft und es gab eine Erhöhung des Lohns um 65 Pfennig pro Stunde. Wichtig war auch, dass es nach dem Arbeitskampf zu keinen Entlassungen kam.[17] In diesem Kontext zu erwähnen ist die Tatsache, dass es in Pierburg schon vor dem Streik einen sehr aktiven linken Vertrauenskörper gab, dem viele Migrantinnen angehörten und der sich dem damaligen Betriebsrat entgegenstellte. 1972 war es ihm nach jahrelanger Arbeit gelungen, bei den Betriebswahlen mehr Stimmen als der Betriebsrat zu erhalten. Mitglieder des Vertrauenskörpers forcierten ihre gewerkschaftliche Arbeit und verteilten regelmäßig Informationsblätter in allen Sprachen, die im Betrieb gesprochen wurden. Mehrsprachige Vertrauensleute gewährleisteten den Informationsfluss unter den Arbeiterinnen und auch die Betriebsversammlungen waren mehrsprachig.[18] All diese Entwicklungen und Aktivitäten trugen zum Gelingen des Streiks bei.

Der Ford-Streik

Der wohl bekannteste Arbeitskampf des Jahrs 1973 war der ebenfalls im August geführte Streik in den Ford-Werken in Köln-Niehl, wo zwischen 1961 und 1973 rund 11.000 aus der Türkei kommende Arbeiter*innen beschäftigt waren. Sie stellten die größte türkeistämmige «Industriearbeitergesellschaft außerhalb der Türkei» dar[19] und wurden fast ausschließlich in niedrigqualifizierten Jobs eingesetzt. So entstand eine scharfe Trennung von der deutschen Belegschaft, die meist in besseren Positionen beschäftigt war. Die Beschäftigungsstruktur basierte auf einem hybriden System, in dem die migrantischen Arbeiter*innen die schlechteren Tätigkeiten ausführen mussten, schlechter entlohnt und auch schneller entlassen werden konnten als ihre deutschen Kolleg*innen.[20]

Auslöser des Streiks war die Entlassung von 300 Arbeiter*innen, die verspätet aus dem Urlaub zurückgekehrt waren. Doch ging es um viel mehr: Zuvor hatten migrantische Arbeiter*innen über Unterschriftenlisten die Vertrauensleute der IG Metall aufgefordert, sich für eine Erhöhung der Löhne einzusetzen – was auf den folgenden Vertrauenskörpersitzungen aber keine Rolle spielte. Die IG Metall reduzierte die Forderungen der migrantischen Arbeiter*innen schließlich auf die eine, den bestehenden Tarifvertrag aufzukündigen. «Als Arbeiter an der Bandstraße verdienten die meisten Türken einen Stundenlohn zwischen 7,15 und 8,24 Mark, während die Deutschen als Facharbeiter zwischen 8,98 und 10,59 Mark verdienten.»[21]

Eine Woche vor dem Streik gab es eine Betriebsversammlung, auf der sich die türkeistämmigen Arbeiter*innen solidarisch mit den Entlassenen zeigten, während der Großteil ihrer deutschen Kolleg*innen die Entlassungen und Disziplinarverfahren mit Applaus quittierte. Als dann auch noch die durch die Entlassungen entstandene Mehrarbeit auf die übrigen Arbeiter*innen abgewälzt werden sollte, äußerte sich der wachsende Unmut am 24. August 1973 in einem Demonstrationszug durch das gesamte Werk.[22] Der nachfolgende Streik dauerte sieben Tage. Mehr als die Hälfte der 33.000 Beschäftigten beteiligte sich an ihm, vor allem türkeistämmige Arbeiter*innen, aber auch einige deutsche und italienische Arbeiter*innen unterstützten den Streik. Die Forderungen der Streikenden lauteten: «Verminderung der Bandgeschwindigkeiten, Senkung des Arbeitstempos, Verbesserung der Arbeitsbedingungen, sechs Wochen Urlaub, eine Mark mehr für alle, Wiedereinstellung der Entlassenen, Bezahlung der Streikstunden.»[23]

Währenddessen führte der Betriebsrat erfolglos Gespräche mit der Unternehmensleitung. Als er dann «mit Verweis auf das Betriebsverfassungsgesetz und die tarifliche Friedenspflicht» noch mitteilte, er wolle den Streik nicht unterstützen, büßte er jegliche Legitimität ein, die Interessen der migrantischen Arbeiter*innen zu vertreten. Die Gewerkschaft betrieb anschließend eine Politik der Spaltung, die sie mit eigenen Demonstrationen abstützte. In der Folge entsolidarisierten sich viele der deutschen Arbeiter*innen und schlugen sich auf die Seite der Gewerkschaft.[24] Eine Allianz aus Gewerkschaftsvertreter*innen, Geschäftsleitung, Presse, Stadtverwaltung und Polizei hetzte gegen die streikenden migrantischen Arbeiter*innen.[25]

Eine Woche nach Streikbeginn entschied sich die Geschäftsleitung dafür, den Streik mit allen Mitteln zu beenden, und forderte während einer Gegendemonstration der deutschen Belegschaft Polizeikräfte an, die mit Gewalt gegen die Streikenden vorgingen und ihre «Rädelsführer» verhafteten. Baha Targün, Sprecher des Streikkomitees, wurde in die Türkei ausgewiesen. Die Geschäftsleitung entließ 100 türkeistämmige Arbeiter*innen fristlos und machte Druck auf weitere 600, ihre «fristlose Kündigung in eine ‹freiwillige› umzuwandeln». Gegen keine dieser Entlassungen legte der Betriebsrat Einspruch ein.[26] «In der Zerschlagung des Streiks entlud sich die Wut der deutschen Arbeiter über die Tatsache, dass die türkischen Migranten für kurze Zeit die Kontrolle über ihren Arbeitsplatz übernehmen konnten.»[27]

«Bei Ford ging es um ‹eine Mark mehr›, […] aber zugleich zeigt jede einigermaßen ernsthafte Analyse, dass der große Streik von August 1973 die ganzen Lebensverhältnisse thematisiert hat – auch die Wohnsituation, auch die gesundheitlichen Probleme, die die Arbeit verursachte, auch die Frage, wie man mit wenigen Wochen Urlaub und Wechselschicht den Kontakt zu Familien und Freunden aufrechterhalten kann. Im Grunde greifen Arbeitskämpfe immer über Arbeitskämpfe heraus.»[28]

Über den Streik hinaus

Es waren nicht nur die Betriebe, in denen die ungerechten und diskriminierenden Strukturen angeprangert wurden. In der gesamten Bundesrepublik bildeten sich in jenen Jahren zahlreiche «multinationale Zentren», in denen sich Migrant*innen in Arbeiter- und Kulturvereinen organisierten. Sie forderten das Wahlrecht, protestierten gegen Polizeigewalt und gegen mediale Hetze.

«Die selbstorganisierten Kämpfe der Migrantinnen und Migranten gegen die rassistischen Arbeits- und Lebensverhältnisse in Deutschland sollten demnach keine Ein-Punkt-Bewegung sein. Sie verknüpften rechtliche, politische und ökonomische Aspekte der Unterdrückung und Ausbeutung. Sie öffneten die enge Perspektive der Betriebskämpfe zu sämtlichen Lebensverhältnissen der Migration, zum Alltag, zur Sprache und Kultur und nicht zuletzt zu den Wohnverhältnissen, die neben der Fabrik den entscheidenden Kristallisationspunkt migrantischer Kämpfe bildeten.»[29]

Das Phänomen streikender Gastarbeiter*innen interessierte nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch einen Großteil der «alten» und «Neuen Linken». Deren Agitation und Organisationsarbeit begann sich immer stärker auf die migrantischen Arbeiter*innen zu fokussieren,

«in [deren] Situation oft eine neue Stufe kapitalistischer Ausbeutung und gleichzeitig der Keim zum aktiven Widerstand gesehen werden wollte. In den Augen der Presse stießen sie in die Lücke, welche die Gewerkschaften hinterließen, indem es diesen bis dahin nicht gelungen war, die ausländischen Arbeiter in das sozialpartnerschaftlich organisierte System der industriellen Beziehungen Westdeutschlands einzubinden.»[30]

So konnten auch Solidaritätsstrukturen mit linken Organisationen aufgebaut werden. Die Proletarische Front in Hamburg und Bremen, der Arbeiterkampf in Köln, der Revolutionäre Kampf im Rhein-Main-Gebiet und die Arbeitersache in München beteiligten sich an der Entwicklung von Ideen für eine «multinationale Betriebsarbeit». Es gab Kontakte sowohl zu den betrieblichen migrantischen Strukturen als auch zu den migrantischen Selbstorganisierungen und migrantische und studentische Milieus näherten sich einander an.[31]

Bei VDM in Frankfurt und bei Opel in Rüsselsheim stürmten migrantische Arbeiter*innen die deutschen Betriebsversammlungen mit der vom Revolutionären Kampf ausgegebenen Parole «Eine Mark für alle!». Auch beim Frankfurter Häuserkampf, bei dem die Anwohner*innen – der Großteil von ihnen Migrant*innen – gegen Verdrängung und schlechte Wohnverhältnisse protestierten, wurden Transparente aufgehängt, die sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen richteten. «Mit der Parole ‹Fiat – Opel – Autobianchi dei padroni siamo stanchi!› (Von den Fiat-Opel-Autobianchi-Bossen haben wir die Schnauze voll!) thematisierten sie auch die kapitalistische Indienstnahme der Migration.»[32] Es gelang, den Kampf um beschränkte Aufenthaltsgenehmigungen mit dem Kampf um bessere Wohnverhältnisse und den betrieblichen Kämpfen und Streiks zu verbinden und ein neues antirassistisches Moment zu schaffen.[33]

So nahmen migrantische Arbeiter*innen ihre Kämpfe selbst in die Hand und leisteten als politische Subjekte Widerstand gegen die ihnen auferlegten Arbeits- und Lebensbedingungen.


[1] Lingl, Wolfgang: Der Familiennachzug in die Bundesrepublik Deutschland. Eine sozialethische Untersuchung aus migrationssoziologischer Perspektive, München 2017, S. 38.

[2] IG Metall, Ressort Migration und Teilhabe: Migrationsland D. Eine Handlungshilfe für Begegnung und Dialog, Wiesbaden 2019, S. 11.

[3] Vgl. Pries, Ludger/Dasek, Andrea: Das Verhältnis von Gewerkschaften zu Migration. Ambivalente Orientierungen zwischen Ablehnen, Ausblenden und Ernstnehmen, AIS-Studien 1/2017, S. 42.

[4] Vgl. Trede, Oliver: Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration. Gewerkschaften und Arbeitsmigration in der Bundesrepublik und in Großbritannien in den 1960er und 1970er Jahren, Paderborn 2015, S. 65.

[5] Vgl. Plamper, Jan: Das neue Wir – warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Bonn 2019, S. 96 f.

[6] Vgl. Goeke, Simon: Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund innerhalb von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen; September 2011, heimatkunde.boell.de.

[7] Vgl. Karakayalı, Serhat/Giesecke, Johannes/Schrenker, Markus/Foroutan, Naika/El-Kayed, Nihad, Mitglieder mit Migrationshintergrund in der IG Metall. Projektbericht, Berlin 2017, S. 3.

[8] Vgl. Engelschall, Titus: The Immigrant Strikes Back. Spuren migrantischen Widerstands in den 60/70er Jahren, in: interface (Hrsg.): WiderstandsBewegungen. Antirassismus zwischen Alltag & Aktion, Berlin/Hamburg 2005, S. 53.

[9] Hall, Stuart: Das Spektakel des «Anderen», in: ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg 2004, S. 118.

[10] Vgl. Engelschall: The Immigrant Strikes Back, S. 47.

[11] Goeke: Partizipation.

[12] Bojadžijev, Manuela: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2012, S. 156 f.

[13] Vgl. IG Metall: Migrationsland D., S. 17.

[14] Vgl. Bojadžijev: Die windige Internationale, S. 166.

[15] Vgl. Birke, Peter: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt a. M. 2007, S. 297 f.

[16] Vgl. Bojadžijev: Die windige Internationale, S. 170.

[17] Vgl. IG Metall: Migrationsland D., S.17.

[18] Vgl. Bojadžijev: Die windige Internationale, S. 164.

[19] Vgl. Huwer, Jörg: Gastarbeiter im Streik. Die Arbeitsniederlegung bei Ford Köln im August 1973, Köln 2013, S. 21.

[20] Vgl. ebd., S. 34 f.

[21] Karakayalı, Serhat: Sechs bis acht Kommunisten, getarnt in Monteursmänteln: Der Fordstreik, kanak-attak.de

[22] Vgl. ebd.

[23] Bojadžijev: Die windige Internationale, S. 158.

[24] Vgl. Karakayalı: Sechs bis acht Kommunisten.

[25] Vgl. Bojadžijev: Die windige Internationale, S. 160.

[26] Karakayalı: Sechs bis acht Kommunisten.

[27] Huwer: Gastarbeiter im Streik, S. 87.

[28] Piening, Günter: «Die Arbeiter sind total unzuverlässig!» Interview mit Peter Birke zum Verhältnis von betrieblichen Kämpfen und Migration, Mai 2017.

[29] Bojadžijev, Manuela: Zwölf Quadratmeter Deutschland. Staatliche Maßnahmen und das Konzept der Autonomie, kanak-attak.de.

[30] Huwer: Gastarbeiter im Streik, S. 58.

[31] Vgl. Bojadžijev: Die windige Internationale, S. 173.

[32] Karakayalı, Serhat: Across Bockenheimer Landstraße, in: diskus 2/2000, S. 41–47.

[33] Vgl. ebd.