Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung - Nordafrika - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus - COP27 Der unvollendete «arabische Frühling»

Zehn Jahre Aufstands- und Protestbewegungen in Westasien und Nordafrika – ein Überblick

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Harald Etzbach,

Erschienen

Dezember 2020

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Nur online verfügbar

Beirut im Oktober 2019
Beirut im Oktober 2019 Foto: Lilian Mauthofer

«Ash-shab yurid isqat an-nizam» – das Volk will den Sturz des Regimes war die zentrale Parole jener politischen Bewegung, die Ende 2010 als «arabischer Frühling»[1] zunächst Tunesien, dann Ägypten und schließlich weitere Länder Nordafrikas und Westasiens erfasste. Dazu gehörten neben den beiden genannten im Wesentlichen Syrien, Bahrain, Libyen und der Jemen; in vielen anderen Ländern wie Jordanien, Marokko oder dem Oman fanden kleinere Proteste statt. In Tunesien war es die Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohamed Bouazizi, die die Proteste gegen die Regierung auslöste. Bouazizi hatte seine Verzweiflungstat nach einer Reihe von Willkürmaßnahmen durch die Polizei begangen. Die Demonstrationen, die im Laufe der nächsten Wochen überall im Land stattfanden, weiteten sich rasch zu einer wirklichen Aufstandsbewegung aus, und relativ schnell stürzte dann tatsächlich das erste Regime: Mitte Januar 2011 verließ der autokratisch regierende Präsident Zine el-Abidine Ben Ali das Land in Richtung Saudi-Arabien.

Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er publiziert hauptsächlich zu Themen Westasiens und Nordafrikas und zur US-amerikanischen Außenpolitik.

Am 25. Januar begannen die Proteste in Ägypten, ab Anfang Februar wurden sie von Streiks begleitet, an denen sich Hunderttausende von Arbeiter*innen beteiligten. Bis zum Sturz des Regimes dauerte es diesmal nur gut zwei Wochen: Am 11. Februar 2011 trat Staatschef Husni Mubarak zurück, ein Militärrat übernahm die Regierungsgeschäfte.

In Bahrain gelang der Regimesturz nicht. Hier wurde der revolutionäre Prozess von außen erstickt, als Mitte März saudische Truppen in das Land einmarschierten und kurz darauf im Verein mit der bahrainischen Armee mit brutaler Gewalt gegen oppositionelle Demonstrant*innen vorgingen.

Im Jemen und in Libyen gelang es zwar, die jeweiligen Machthaber zu stürzen, die Aufstandsbewegungen mündeten jedoch in Bürgerkriege, bei denen sich in wechselnden Bündnissen Teile der alten Regime mit opportunistischen Gruppen der Aufstandsbewegung verbanden. Die beiden bis heute anhaltenden Konflikte sind zudem verbunden mit massiven internationalen Interventionen.

Die größte Tragödie des «arabischen Frühlings» ereignete sich in Syrien. Inspiriert von den Ereignissen in Tunesien und Ägypten hofften die Menschen hier, das Regime des damals bereits über 40 Jahre herrschenden Assad-Clans zumindest zu politischen und sozialen Reformen bewegen zu können. Tatsächlich stellte die Bewegung die Legitimität des Systems zunächst nicht infrage. Lokaler Auslöser der Proteste war die Verhaftung von Kindern in der südsyrischen Stadt Daraa. Nach verhaltenen Anfängen kam es im Laufe des Sommers 2011 zu großen Demonstrationen in Städten wie Homs und Hama. Das Regime reagierte mit brutaler Härte und setzte die Armee gegen die Demonstrant*innen ein, mehrere Hundert Menschen wurden bereits in den ersten Monaten der Protestbewegung getötet.

Blockierte Entwicklung und (neo)patrimonialer Staat

Die revolutionären Bewegungen in Westasien und Nordafrika ab 2010 waren der Ausdruck einer tiefen Krise und einer Blockierung der politischen und ökonomischen Entwicklung.[2] Besonders betroffen davon waren junge Menschen, sie waren es auch, die die Bewegung trugen und das Bild der vielen Proteste und Demonstrationen prägten. Auch Frauen spielten und spielen dabei eine herausragende Rolle.

Nordafrika und Westasien weisen eine der höchsten Raten von Jugendarbeitslosigkeit weltweit auf. So ist es möglicherweise kein Zufall, dass die Bewegungen des «arabischen Frühlings» gerade in Tunesien ihren Ausgang nahmen. In dem nordafrikanischen Land gibt es selbst im Vergleich zu anderen Ländern der Region eine ausgesprochen hohe Arbeitslosigkeit der Generation zwischen 15 und 29 Jahren (27,5 Prozent 2010 und 40 Prozent 2011).[3] Zugleich verfügen viele junge Menschen über einen hohen Bildungsgrad, wie zum Beispiel Universitätsabschlüsse.

«Ash-shab yurid isqat an-nizam» – «das Volk will den Sturz des Regimes» war eine der zentralen Parolen der politischen Aufbrüche, die Ende 2010 in Tunesien begannen und anschließend weitere Länder in Nordafrika und Westasien erfassten. Diese Bewegungen waren kein punktuelles Ereignis, sondern haben die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen in den Ländern nachhaltig verändert. Seit Herbst 2019 kommt es in verschiedenen Ländern erneut zu Massenprotesten und so unterschiedlich die Ansätze, Themen und Entwicklungen in jedem Land sind, gemeinsam ist ihnen der Wille nach gesellschaftlichen Veränderungen, gerechten ökonomischen Verhältnissen und politischem Wandel. Soziale Kämpfe und Widerstände finden täglich statt, dennoch ist der «Jahrestag» des «arabischen Frühlings» im Dezember 2020 eine besondere Möglichkeit, um auf die Akteure und ihre Forderungen zu blicken.

Die neue Print-Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Ich bin die Anführer*in der Revolution. Aufbruch und soziale Proteste in Westasien» möchte einladen, sich mit den sozialen Kämpfen in der Region zu beschäftigen und bietet dazu eine Auswahl von Texten aus dem (digitalen) Westasien-Dossier der letzten Jahre. Die Publikation ist ab Ende Dezember erhältlich und kann auf unserer Webseite bestellt werden. Wir veröffentlichen den Einleitungstext von Harald Etzbach an dieser Stelle vorab.

Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die neuen Informationstechnologien, soziale Netzwerke etc., die von der jungen Generation in großem Umfang für die Mobilisierung genutzt wurden. Videos von Demonstrationen und andere Nachrichten konnten sich so wie ein Lauffeuer in der gesamten Region verbreiten.

Die Unfähigkeit der Volkswirtschaften der arabischen Staaten, für eine wachsende Zahl junger Menschen einigermaßen adäquate Arbeitsplätze zu schaffen, ist auf die spätestens seit Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts niedrigen Wachstums- und Investitionsraten zurückzuführen – eine Folge des Verfalls und der anschließenden Stagnation des Weltmarktpreises für Öl.

In den siebziger Jahren hatte der Ölboom hohe Wachstumsraten garantiert. Davon profitierten auch jene Länder der Region, die keine Erdölproduzenten waren – unmittelbar durch zwischenstaatliche Finanztransfers oder mittelbar durch Arbeitsmigration. Allerdings fand keine Diversifizierung der wirtschaftlichen Strukturen statt. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft flossen hauptsächlich in den Dienstleistungssektor oder in hochspekulative Bereiche wie die Immobilienwirtschaft.

Verschärft wurde diese Entwicklung durch die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der neunziger Jahre. Das neoliberale Dogma der Privatisierung staatlicher Betriebe, der Kürzung von Sozialleistungen und des Primats von Privatwirtschaft und Freihandel hatte in den Ländern Nordafrikas und Westasiens besonders fatale Folgen. Es gibt keine klare Trennung zwischen «öffentlich» und «privat», Korruption und Nepotismus führten regelmäßig dazu, dass z.B. privatisierte Betriebe von Personen übernommen wurden, die in enger politischer und/oder verwandtschaftlicher Beziehung zu den politisch herrschenden Eliten stehen.[4]

Wesentliche Ursache hierfür ist eine spezifische Ausprägung von Staatlichkeit, die man in Anlehnung an Max Webers Herrschaftstypologie als patrimonial oder neopatrimonial bezeichnen kann. Ein patrimonialer Staat befindet sich gewissermaßen «im Besitz» der herrschenden Familie. Es gibt keine Trennung von Staatsapparat und Herrscherfamilie, die Streitkräfte funktionieren als «Privatarmee». Die Monarchien der Region gehören in diese Kategorie, aber ebenso einige nominelle Republiken wie der Irak unter Saddam Hussein, Libyen oder Syrien.[5]

Neopatrimoniale Staaten zeichnen sich demgegenüber durch eine gewisse Autonomie staatlicher Institutionen aus. Beispiele sind Algerien, Ägypten oder der Sudan. In diesen drei Ländern ist zudem die Armee der zentrale Machtfaktor, was erklärt, dass in diesen Fällen der jeweilige Präsident relativ leicht gestürzt und durch eine andere Person ersetzt werden konnte, da die Armee die Kontinuität des bestehenden Systems garantiert. In vollständig patrimonialen Staaten ist dies so nicht möglich, da mit der Person des «Herrschers» (egal, ob König, Emir oder Präsident) unmittelbar der gesamte Staat infrage gestellt ist. Wozu ein solcher Staat, der sich in seiner Existenz bedroht sieht, in der Lage ist, haben in den letzten Jahren insbesondere die syrischen Aktivist*innen erfahren müssen.

Arabischer Thermidor

Ungefähr ab dem Jahr 2013 kam der revolutionäre Prozess zum Erliegen, eine Welle reaktionärer Restauration erfasste die Region.

Diejenigen Kräfte, die die Protestbewegungen initiiert hatten – die Jugend, Arbeiter*innen, Intellektuelle –, waren politisch und organisatorisch nicht in der Lage, im revolutionären Prozess eine Führungsrolle zu übernehmen. Andere Kräfte mit eigenen Zielvorstellungen schlossen sich der Bewegung an und übernahmen schließlich die Führung, insbesondere galt dies für Organisationen, die der Muslimbruderschaft nahestehen. Die Ende der zwanziger Jahre in Ägypten gegründete islamistische Organisation hat Ableger in vielen arabischen Ländern und stand dort oftmals in Opposition zu den herrschenden Regimen. Diese Entwicklung führte zu einer zunehmenden Marginalisierung der fortschrittlichen Kräfte.

In Ägypten wurde die politische Arena zunehmend von einer Auseinandersetzung zwischen Vertreter*innen des alten Regimes auf der einen und Anhänger*innen der Muslimbrüder auf der anderen Seite beherrscht. Diese Situation verschärfte sich, als im Juni 2012 Mohammed Mursi von der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (eine Gründung der Muslimbruderschaft) zum Präsidenten gewählt wurde. Mursis zunehmend autoritäre Tendenzen, aber auch die desolate Wirtschaftslage führten zu neuen Protesten und Demonstrationen. Am 3. Juli 2013 putschte das Militär unter Führung des Militärratschefs Abd al-Fattah al-Sisi. Al-Sisi, der knapp ein Jahr später zum Präsidenten gewählt wurde, hat seitdem ein Regime etabliert, das an Brutalität und Unterdrückung weit über seine Vorgänger hinausgeht. Ökonomisch setzt die al-Sisi-Regierung konsequent die Forderungen des Internationalen Währungsfonds um, was zu einer weiteren Verarmung großer Teile der Bevölkerung geführt hat.[6]

In Syrien reagierte das Regime von Anfang an mit gnadenloser Härte und setzte die Armee und seine berüchtigten Geheimdienste gegen friedliche Demonstrant*innen ein. Als Antwort darauf bildete sich aus Zivilist*innen und desertierten Soldaten die Freie Syrische Armee (FSA), der es zunächst tatsächlich gelang, die Armee des Regimes aus Teilen des Landes zu vertreiben – u.a. aus Aleppo, der zweitgrößten Stadt Syriens. Der Mangel an finanzieller und militärischer Unterstützung sowie das Fehlen einer einheitlichen militärischen und politischen Führung schwächten die FSA jedoch nachhaltig. An ihre Stelle traten vielfach islamisch geprägte Milizen, die von Saudi-Arabien und den Golfstaaten finanziert wurden.

Auf der anderen Seite erhielt das Assad-Regime ab 2013 Unterstützung von der libanesischen Hisbollah und dann auch unmittelbar von den iranischen Revolutionsgarden. Zugleich fand ein gnadenloser Krieg gegen die Zivilbevölkerung statt, bei dem Fassbomben und Chemiewaffen zum Einsatz kamen. Diese Politik der verbrannten Erde wurde fortgesetzt, als ab 2015 auch Russland auf der Seite des Regimes in den Krieg eintrat. Russische Kampfbomber bombardierten in der Folgezeit nicht nur oppositionelle Milizen, sondern auch Schulen und Krankenhäuser. Eine besondere Situation entstand im Nordosten des Landes, wo es der kurdisch dominierten Verwaltung mit einer Politik wechselnder Bündnisse gelang, eine Art Autonomiegebiet zu errichten. Heute sind etwa 13 Millionen Syrer*innen auf der Flucht, die Hälfte davon sind Binnenflüchtlinge. Die Zahl der Toten wird zwischen 400.000 und knapp 600.000 geschätzt.

In Tunesien kam es nach 2010/11 tatsächlich formal zu einer politischen Demokratisierung. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der Gewerkschaftsdachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail). Nachdem die nach der Revolution gebildete Verfassungsgebende Versammlung im Dezember 2014 ihre Arbeit beendet hatte, wechselten einige mehr oder weniger kurzlebige Regierungen aus Islamisten, Vertreter*innen des alten Regimes und Technokrat*innen einander ab. Teile der Opposition, darunter auch die UGTT, wurden kooptiert. Der IWF hat Tunesien ein striktes Sparprogramm auferlegt, 2019 waren über 36 Prozent der jungen Tunesier*innen arbeitslos.[7] Fast scheint es so, als sei das Land nach zehn Jahren wieder an den Ausgangspunkt von 2010 zurückgekehrt.

Die zweite Welle: revolutionäre Bewegungen ab 2018

Revolutionäre Prozesse setzen sich fort, solange die ihnen zugrundeliegenden Widersprüche fortbestehen.

Daher ist es kaum verwunderlich, dass im Dezember 2018 mit dem sudanesischen Aufstand in Westasien und Nordafrika eine zweite Welle der revolutionären Erhebungen begann. Bereits im Juni desselben Jahres war – international wenig beachtet – die jordanische Regierung nach Protesten gegen die von ihr verhängten Sparmaßnahmen zurückgetreten. Es folgten im Februar 2019 der algerische Aufstand und seit Oktober 2019 massive soziale und politische Proteste im Irak und im Libanon. Auswirkungen dieser Aufstände waren in vielen Ländern der Region zu spüren. So organisierte zum Beispiel in Marokko der Front social marocain (FSM), ein Zusammenschluss linker Parteien und Gewerkschaften, im Februar 2020 mehrere große Demonstrationen, auf denen die Freilassung von politischen Gefangenen und soziale Verbesserungen gefordert wurden.[8] Und auch in Ägypten kam es trotz massiver Repression im Herbst 2019 in verschiedenen Städten zu Protesten mit mehreren Tausend Teilnehmer*innen.

Die zweite Welle unterscheidet sich jedoch von der ersten. Einer der auffälligsten Unterschiede ist, dass islamistische Bewegungen diesmal so gut wie keine Rolle in der Protestbewegung spielen. Dies liegt schlicht daran, dass Islamisten überall Teil der bekämpften Regime waren oder eng mit ihnen kooperierten. So war das Regime von Omar al-Baschir im Sudan eine Mischung aus Militärdiktatur und islamistischer Herrschaft. In Algerien hatte die Partei der Muslimbruderschaft, der Mouvement de la société pour la paix, lange Zeit die Regierung von Abdelaziz Bouteflika in einem «präsidentiellen Block» unterstützt. Und im Irak und im Libanon waren islamistische Kräfte – diesmal in der schiitischen Variante – wesentliche Bestandteile der jeweiligen Regierung.

Die Forderungen und Themen dieser neuen Protestwellen revolutionärer Bewegungen jedoch unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen der Jahre 2010/11. Nach wie vor geht es um Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Allerdings haben die Protagonist*innen der Bewegung auch Lernprozesse durchlaufen. Insbesondere Fragen der (Selbst-)Organisation der Bewegungen spielen dabei immer wieder eine wichtige Rolle.

Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung im Sudan. Im Unterschied zu anderen arabischen Ländern (abgesehen von Tunesien mit der UGTT) hat die Bewegung hier eine Führung in Form der Sudanese Professionals Association (SPA). Allerdings ist die SPA nicht eine Führung im Sinne einer Partei, sondern ein breites Netzwerk, das einige Jahre im Untergrund existierte und sich mit dem Aufstand vom Dezember 2018 zu einer Vereinigung der Gewerkschaften und Berufsverbände aller Schlüsselsektoren entwickelte. Zurzeit wird das Land von einem Übergangsrat regiert, in dem Vertreter*innen der Aufstandsbewegung neben dem Militärkommando vertreten sind – eine klassische Situation der Doppelherrschaft, in der sich auf Dauer eine der beiden Seiten gegen die andere durchsetzen wird.

Auf der «Grassroots»-Ebene gibt es zudem unzählige autonome «Widerstandskomitees», in denen Tausende zumeist junge Menschen organisiert sind.

Arabische Revolution in Zeiten der Pandemie

Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie Anfang 2020 führte zunächst zu einem Stillstand der neuen Massenmobilisierungen – Demonstrationen und Versammlungen auf öffentlichen Plätzen waren nicht mehr möglich. Die autokratischen Regime nutzten dies oftmals zu einem Zurückdrängen der Bewegung und einer weiteren Verschärfung der Repression und der autoritären Kontrolle. So erließ die algerische Regierung im April ein Gesetz, das die Verbreitung von «fake news» verbietet. Dies führte dazu, dass in den letzten Monaten immer wieder Aktivist*innen der Opposition aufgrund von Posts in den sozialen Medien zu längeren Haftstrafen verurteilt wurden. In Ägypten war eine der ersten Reaktionen des Sisi-Regimes die Novellierung des Notstandsgesetzes, das am 22. April in Kraft trat. Die Neufassung erweitert im Wesentlichen die ohnehin schon beträchtlichen Befugnisse des Militärs, Zivilisten strafrechtlich zu verfolgen. Zudem überträgt sie dem Präsidenten auch das direkte, persönliche Kommando über die Sicherheitskräfte und das Militär, unter Umgehung der bestehenden Kommandostruktur.

Auch das Assad-Regime in Syrien versucht, die Situation für seine Zwecke zu nutzen, indem es die Lieferung medizinischer und anderer Hilfsgüter in Regionen, die nicht unter seiner unmittelbaren Kontrolle stehen, verhindert. Auf der anderen Seite kontrolliert es den Strom internationaler Hilfsleistungen in Regierungsgebiete.

Die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie in der Region werden massiv sein: Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass das Bruttosozialprodukt in den Ländern Westasiens im Jahr 2020 um 4,7 Prozent schrumpfen wird.[9] In einigen Ländern, wie etwa dem Irak oder dem Libanon, wird der Rückgang noch bedeutender sein.[10] Auslandsüberweisungen, die in vielen Ländern eine wichtige Rolle bei der Stützung der nationalen Wirtschaft spielen, werden nach Berechnungen der Weltbank als Folge der internationalen ökonomischen Krise sogar bis zu 20 Prozent zurückgehen.[11] Wie wenig sich die grundlegenden sozio-ökonomischen Probleme der Region gelöst (und sich im Gegenteil durch die Pandemie noch verstärkt) haben, zeigt sich daran, dass 15 Prozent der dort lebenden 18-24-Jährigen aktiv versuchen zu emigrieren, weitere 27 Prozent haben dies zumindest bereits einmal erwogen.[12] Die Orientierung auf individuelle «Lösungen» kann – vor allem, wenn sie mit einem Gefühl der politischen Enttäuschung verbunden ist – zur Schwächung von Bewegungen führen. Zugleich gibt es in der jungen Generation jedoch auch eine große Unterstützung für die Protestbewegungen, viele sind der Überzeugung, dass die Proteste sich auch in naher Zukunft fortsetzen werden. Man kann daher davon ausgehen, dass die Pandemie nur zu einem Aussetzen der Bewegung, nicht aber zu ihrem Ende führen wird.

Die «longue durée» der arabischen Revolutionen

Die Zukunft der Region liegt im Ungewissen, neue regionale und internationale Konstellationen sind entstanden, deren Auswirkungen sich noch nicht abschätzen lassen, und es gibt mehr Grund zur Besorgnis als zur Euphorie. Viel wird davon abhängen, ob es den revolutionären und emanzipatorischen Kräften gelingt, dauerhafte und demokratisch funktionierende organisatorische Formen für sich zu finden. Zurzeit lässt sich mit Gewissheit nur eins sagen: Der 2010/11 begonnene Prozess ist nicht zu Ende. Die sozialen Widersprüche, die im sogenannten «arabischen Frühling» zum Ausdruck kamen, bestehen fort und werden immer wieder zu Unruhen, Aufständen und revolutionären Erhebungen in der Region führen. Selbst wenn es gelingt, das eine oder andere autokratische Regime abzusetzen, wird dies nicht genügen. Die politische Revolution bleibt ohne eine soziale Revolution immer unvollständig.


[1] Drei Anmerkungen zur Begrifflichkeit: 1. Die Verwendung der eingängigen Formulierung «arabischer Frühling» soll nicht suggerieren, dass es sich bei den Bewegungen, die 2010/2011 in Westasien und Nordafrika begannen, um ein Phänomen von kurzer Dauer handelt. Vielmehr sollte bei der Lektüre des Textes deutlich werden, dass sie Ausdruck eines langfristigen Prozesses sind. 2. Der Fokus des Textes liegt auf den arabischen Ländern. Dabei ist klar, dass es in Westasien und Nordafrika auch nicht-arabische Staaten und Gemeinschaften gibt. «Arabisch» ist zudem nicht in einem ethnisierenden Sinne gemeint, sondern im Sinne von «arabischsprachig». 3. Der Begriff «Revolution» wurde in diesem Text verwendet, da er auch von den Akteur*innen selbst verwendet wird. Ob es sich bei den Prozessen von 2010/11 und den Folgejahren tatsächlich um Revolutionen handelt, bleibt Gegenstand der Debatte.

[2] Vgl. Gilbert Achcar, Le people veut. Une exploration radicale du soulèvement arabe, Paris, Sindbad, Actes Sud, 2013, S. 23– 62 u. 63–114.

[3] International Labour Office (ILO): Youth Unemployment and Migration. Country Brief: Tunisia.

[4] Ein besonders markantes Beispiel hierfür ist Rami Makhlouf, ein Cousin des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der über ein weit gefächertes Netzwerk vor dem Krieg bis zu 60 Prozent der syrischen Wirtschaft kontrollierte, vgl. Lina Saigol, Assad cousin accused of favouring family, in: Financial Times, 21. April 2011.

[5] Zur Herausbildung des patrimonialen Staates am Beispiel Syriens vgl. Joseph Daher, Syria after the Uprisings. The Political Economy of State Resilience, London 2019, S. 1–37.

[6] Vgl. Amr Khafagy Celebrating poverty: the IMF in Egypt, in: Open Democracy, 15. November 2019.

[8] Jules Crétois, Maroc: le «Front social», c’est quoi?, in: Jeune Afrique, 26. Februar 2020.

[9] International Monetary Fund, World Economic Outlook Update, June 2020. A Crisis Like No Other, An Uncertain Recovery; in der Studie sind die Zahlen für West-und Zentralasien zusammengefasst.

[10] Joelle M. Abi-Rached/ Ishac Diwan, The Socioeconomic Impact of COVID-19 on Lebanon: A Crisis Within Crises, Juni 2020; United Nations Development Programme (UNDP), Impact of Covid-19 on the Iraqi Economy, 6. Oktober 2020.

[11] COVID-19 Crisis Through a Migration Lens. Migration and Development Brief 32, April 2020.

[12] Young Arabs look to emigrate as pandemic wrecks economies, in: Financial Times, 6. Oktober 2020.