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Indiens Bäuer*innen im Kampf gegen Neoliberalismus und Hindunationalismus

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Eine Frau fährt einen Traktor, als sie mit anderen Bauern am Protestort in Neu-Delhi ankommt (21.12.2020). picture alliance / AP | Manish Swarup

Indiens Bäuer*innen wehren sich gegen neue Landwirtschaftsgesetze. Das ist der aktuelle Anlass. Wer die Hintergründe verstehen will, muss jedoch tiefer in die Krise der indischen Landwirtschaft eintauchen. In den Massenprotesten manifestiert sich zudem der breiter werdende Widerstand gegen die autoritäre und neoliberale Politik der Regierung. Deren Gegenstrategien funktionieren immer weniger. Vieles spricht dafür, dass die Protestierenden diesmal Erfolg haben könnten.

Wer sich dieser Tage den Stadtgrenzen von Delhi nähert, den erwartet ein Bild der Belagerung: An jeder Zufahrtsstraße kampieren zehntausende Menschen. Viele sind mit ihren Tieren gekommen, haben provisorische Zeltdörfer aufgebaut. Von buntbemalten Traktoren hängen Fahnen und Transparente, Protestgesänge erschallen aus allen Richtungen. Mit etwas Glück sieht man vielleicht einen geschmückten Elefanten, von dessen Rücken die Rote Fahne mit Hammer und Sichel weht. Inzwischen sind es nach Schätzungen bis zu zwei Millionen Bäuer*innen, die vor den Toren der indischen Hauptstadt gegen die Landwirtschaftsreformen der Zentralregierung protestieren.

Aurel Eschmann forscht zu autoritären und neoliberalen Transformationen in Indien und China. Er arbeitete im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Delhi und war als Projektmanager für deren Südasienprogramm in Berlin tätig. Im Rahmen seines Masterstudiums studierte er unter anderem an der Jawaharlal-Nehru Universität (JNU) in Delhi.

Ende November marschierten mehr als 300.000 Bäuer*innen aus den Bundesstaaten Haryana und Punjab, nordwestlich von Delhi, zu Fuß in Richtung Hauptstadt. Die Zentralregierung beantwortete den Protest mit metertiefen Gräben, Stacheldraht, Betonblockaden und Wasserwerfern, so dass nur ein kleiner Teil der Protestierenden in die Stadt vordringen konnte. Der Rest der Protestierenden verblieb an den Stadtgrenzen und zeigt sich entschlossen, so lange dort zu verharren, bis die Regierung nachgibt. Selbst der Ministerpräsident des Unionsterritoriums Delhi, Arvind Kejriwal von der Oppositionspartei AAP, besuchte bereits die Proteste und wurde anschließend nach eigener Aussage von der Polizei unter Hausarrest gestellt. Die Polizei, die in Delhi der Zentralregierung unterstellt ist, bestreitet dies jedoch. Die Lieferung von Grundnahrungsmitteln in die Hauptstadt sind durch die Blockaden mittlerweile um 30-50% zurückgegangen und Preise steigen, auch wenn Händler*innenvertreter derzeit noch davon ausgehen, dass die Grundversorgung der Hauptstadt aufrechterhalten werden kann.

Zwar ist Delhi das Epizentrum des Bharat Bandh, des Nationalstreikes, aber im ganzen Land, von Assam im Nordosten, über Karnataka und Kerala im Süden, bis nach Uttar Pradesh in Nordindien protestieren hunderttausende Menschen. Mehr als 500 Bäuer*innenorganisationen, 15 Oppositionsparteien und etliche Gewerkschaften unterstützen den Protest, der sich gegen drei neue Landwirtschaftsgesetze richtet. Die Regierung der hindunationalistische Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) von Premierminister Narendra Modi hatte die Gesetze im September im Schnelldurchlauf durch beide Häuser des Parlaments gebracht.

Auf den ersten Blick wirkten die drei Landwirtschaftsgesetze relativ harmlos. Sie sollen den Markt für Landwirtschafserzeugnisse soweit liberalisieren, dass Erzeuger*innen nun direkt Verträge mit Endverkäufer*innen schließen können. Die Gesetze geben den Bäuer*innen also mehr Möglichkeiten ihre Produkte zu verkaufen. Doch die Protestierenden befürchten eine Abschaffung der staatlichen Abnahmesysteme, die ihnen feste Preise und damit Sicherheiten garantieren. Die Regierung hat das jedoch zurückgewiesen. Den Kern des Systems bilden staatliche Mindestpreisgarantien (MSP) und die sogenannten Mandis. Das sind staatlich regulierte und bäuerlich selbstverwaltete Märkte, zu denen nur zugelassene Händler*innen Zugang haben. Durch die Schwächung des Mandi-Systems, sehen sich die Bäuer*innen der Übermacht der großen Agrar- und Lebensmittelfirmen ausgeliefert. So führen die Reformen beispielsweise auch ein, dass solche Agrarunternehmen nun auch Grundnahrungsmittel einlagern können, um sie zu einem anderen Zeitpunkt zu verkaufen, was zuvor nur staatlich autorisierten Zwischenhändler*innen erlaubt war. Dies ermöglicht durch künstliche Verknappung oder Schwemme die Preise zu manipulieren. Im Extremfall können so beispielweise die Preise in Erntezeiträumen, wenn die Bäuer*innen verkaufen müssen, gedrückt und während des Saatgutankaufes, wenn die Bäuer*innen einkaufen, gesteigert werden.

Die Wut der Protestierenden richtet sich jedoch nicht nur gegen den Inhalt der Gesetze, sondern auch darauf, dass die Regierung sie inmitten einer Pandemie ohne jedwede Konsultation von Betroffenenorganisationen verabschiedet hat. Zuvor hatte sie auf die gleiche Weise weitreichende Reformen des Arbeitsrechtes verabschiedet, mit denen eine Vielzahl bereits erkämpfter Rechte zurückgerollt wurden. Auch diese spielen für die Massenproteste eine große Rolle.

Freihandel und die Krise der indischen Landwirtschaft

Landwirtschaft hat einen enorm wichtigen Stellenwert in der indischen Wirtschaft. 2016 betrug der Anteil des Sektors am Bruttoinlandsprodukt 23 Prozent, gleichzeitig waren 59 Prozent aller erwerbstätigen Menschen in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Wegfall des staatlichen Schutzsystems mit garantierten Preisen hätte besonders für Kleinbäuer*innen, deren Anteil 82 Prozent an der indischen Landwirtschaft beträgt, katastrophale Folgen. Im nordindischen Bundesstaat Bihar, in denen das staatliche Schutzsystem bereits weitestgehend aufgelöst wurde, liegen die durchschnittlichen Preise schon heute weit unter den MSP und können kaum die Produktionskosten decken.

Dass sich die Proteste so stark auf die zwei Bundesstaaten Haryana und Punjab konzentrieren ist kein Zufall. So gehören die beiden Staaten zu den produktivsten Landwirtschaftsregionen Indiens. Selbst Kleinbäuer*innen verkaufen hier tatsächlich Überschüsse und wirtschaften nicht nur für die eigene Subsistenz, wie es in den meisten anderen Regionen Indiens der Fall ist. Dieser Zustand lässt sich auch darauf zurückführen, dass die beiden Staaten im Kerngebiet der sogenannten Grünen Revolution liegen, einer gigantischen landwirtschaftlichen Modernisierungskampagne aus den 1960er Jahren. Zwar steigerte die Kampagne die Erträge, aber sie führte auch zu einer hohen Abhängigkeit von industriell gefertigten Düngemitteln, reduzierte die genetische Varietät der angebauten Pflanzen und schadete der Bodenqualität. Die dadurch entstehenden Risiken ließen sich nur durch ein schützendes Agieren des Staates kompensieren, weshalb die Landwirtschaft in der Region heute besonders stark von den staatlichen Garantiepreisen und Absatzmöglichkeiten abhängig ist.

Die Befürchtungen der Bäuer*innen sind jedoch nur die Spitze des Eisberges, die eigentlichen Probleme liegen tiefer. Deswegen haben auch die Versprechen der Regierung keinen Effekt auf die Proteste. Die Demonstrierenden glauben nicht daran, dass die neuen Landwirtschaftsgesetze keinen Einfluss auf die staatlichen Mindestpreisgarantien haben und fordern weiterhin deren Rücknahme sowie die Wiederausweitung des bestehenden MSP-Systems, um auf die langanhaltende Krise der indischen Landwirtschaft zu reagieren. Die wirtschaftliche Situation der indischen Bäuer*innen ist in der Tat schlecht: Hohe Verschuldung, kaum vorhandene Gewinnmargen und sinkende Nachfrage wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise zwingen jedes Jahr über zehntausend Bäuer*innen in den Selbstmord. Diese erschreckenden Zahlen, die sich inzwischen mit bedrückender Gleichgültigkeit regelmäßig in indischen Tageszeitungen wiederfinden, werden wahrscheinlich sogar noch von einer hohen Dunkelziffer begleitet. In jüngster Zeit wurden sogar Anschuldigungen laut, die Zentralregierung würde die Veröffentlichung der entsprechenden Statistiken verhindern, um von der schlechten Lage der Bäuer*innen abzulenken.

Ungeachtet dessen war ein vollständiges Abschaffen der Garantiepreise bisher stets ein politisches Tabu in Indien - obwohl die Welthandelsorganisation (WTO) und die Vereinigten Staaten das System seit Jahren als angeblich unerlaubte Subventionierung der Landwirtschaft kritisieren. Dabei erhalten US-amerikanische und europäische Bäuer*innen die mit Abstand größten Landwirtschaftssubventionen weltweit. Der bisherige indische Widerstand gegen eine Reduktion der eigenen Subventionen, der nicht zuletzt das globale WTO Freihandelsabkommen zu Fall brachte, gründet wohl auch im Wissen, dass dies katastrophale Folgen für die Bevölkerung haben würde.

Mit dem jetzigen Festhalten an den Reformen setzt sich die Zentralregierung erheblichem innenpolitischen Druck aus und erodiert ihre Unterstützungsbasis. Dass sie dazu trotzdem bereit ist, könnte an den neuen Bestrebungen für ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Indien liegen. Die stark zunehmenden Spannungen zwischen Indien und China, welches vor kurzem die größte Freihandelszone der Welt (RCEP) ohne Indien verwirklichte, steigern auf indischer Seite das Interesse stärker mit den Vereinigten Staaten zu kooperieren. Gleichzeitig suchen die USA dringend nach Absatzmärkten für ihre Agrarüberschüsse. Die Landwirtschaftsreformen könnten ein Schritt sein, um eines der zentralsten Hindernisse für eine Übereinkunft auszuräumen. Am Ende ginge dies wohl auf Kosten der indischen Bevölkerung.

Hindunationalisten unter Druck

Seit dem Wahlsieg von Modis BJP im Jahr 2014 werfen Kritiker*innen der Regierung vor, den Umbau des pluralistischen und multireligiösen Indiens zu einer Hindu-dominierten und zunehmend totalitären Gesellschaft voranzutreiben. Entsprechend reagierte die Zentralregierung auf die Proteste mit einer inzwischen vielfach erprobten Strategie: Zunächst ignorierte sie diese so lange wie möglich. Als dies nichtmehr aufrechtzuerhalten war, versuchte sie, die Massendemonstrationen als „anti-nationale,“ von „Terroristen“ und „Sikh-Separatisten“ angeführte und manipulierte Bewegung darzustellen. Ziel war es dabei einerseits, die Restbevölkerung gegen die Protestierenden aufzubringen und gleichzeitig die harten Polizeimaßnahmen zu rechtfertigen. Bei dieser Setzung halfen sowohl die inzwischen weitgehend hindunational kontrollierten Mainstream-Medien, als auch manipuliertes Video-Material in den sozialen Medien. Dieses wurde allerdings von Twitter als solches gekennzeichnet. Zwar trifft die Regierung inzwischen Vertreter*innen der Protestierenden, sie weigert sich aber dennoch, ihren Kernforderungen nachzugeben und verzögert, wo sie kann. Dabei hofft sie wohl darauf, dass sich die Proteste ob des anbrechenden Winters in Delhi zerstreuen.

Dass die Hindunationalisten so stark gegen die Bäuer*innen vorgehen ist erstaunlich, erzielte die BJP ihre Wahlerfolge bisher auch auf den Schultern der Landbevölkerung. Vor seinem ersten Wahlsieg versprach Modi noch, die Einkommen in der indischen Landwirtschaft bis zum Jahr 2022 zu verdoppeln, durch Garantiepreise die 50 Prozent über den Produktionskosten liegen. Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten, heute sind die Garantiepreise noch unter denen von damals. Auch sonst zeichnet sich die Landwirtschaftspolitik der Hindunationalisten vor allem durch große Ankündigungen aus, die am Ende aber nicht eingehalten wurden. Wohl auch deshalb geben sich die Bäuer*innen nicht mehr mit Zusicherungen der Regierung zufrieden, sondern wollen handfeste Veränderungen sehen.

Die Proteste sollten nicht als isoliertes Ereignis verstanden werden, sondern als erneutes Aufflammen des immer breiter werdenden Widerstandes gegen die Hindunationalisten durch eine vielfältige und zunehmend solidarische Bewegungsallianz. Die Student*innen und Professor*innen, die 2016-2018 gegen das totalitäre eingreifen der Hindunationalisten in die Universitäten protestierten, standen noch weitestgehend alleine da.

Das hat sich jedoch spätestens mit der monatelangen Mobilisierung 2019 gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz geändert. Im Dezember 2019 verabschiedete die Zentralregierung den Citizenship Amendment Act (CAA), mit dem nicht-muslimischen Migrant*innen ein Weg zu Staatsbürgerschaft geöffnet wird. Erstmals wird dadurch per Gesetz die Zugehörigkeit zu Indien auf Basis von Religion festgemacht wird. Gleichzeitig fürchteten viele Beobachter*innen, dass die Regierung durch die Einführung des Nationalen Bürgerregisters (NRC) plane, indische Muslime staatenlos zu machen. Als Reaktion auf diesen Angriff auf das pluralistische Indien gab es im ganzen Land monatelang anhaltende Proteste. Ähnlich wie bei den jetzigen Demonstrationen standen damals die vornehmlich betroffenen Gruppen im Zentrum, allen voran Muslime und Adivasi (indische Indigene). Allerdings wurden sie seinerzeit wie auch jetzt von einem landesweiten Aufbäumen der Zivilgesellschaft unterstützt, das diverse Akteur*innen von Frauen- und Dalit-Organisationen über Student*innen und linke Intellektuelle bis hin zu Gewerkschaften und linken Parteien umspannte.

Diese Allianz setzte die Regierung stark unter Druck, die Proteste wurden aber durch einen strengen COVID-19-Lockdown und durch gewaltsame Ausschreitungen gegenüber Muslimen in Delhi aufgelöst. Die Bewegung gegen die Staatsbürgergesetze bleibt jedoch Dreh- und Angelpunkt des Widerstandes gegen die Hindunationalisten. Der pluralistische Widerstand brandete nicht lange nach dem harten Lockdown wieder los, erst gegen die Reformen des Arbeitsrechts, dann gegen die staatliche Ignoranz von sexueller Gewalt gegen die Angehörigen niedriger Kasten.

Auch die derzeitigen Proteste gegen die Landwirtschaftsgesetze können als eine neue Welle dieser immer breiter werdenden Widerstandsallianz gesehen werden. Jede Protestwelle verbündet neue Akteur*innen gegen die Regierung. Waren die bisherigen Proteste hauptsächlich urban konzentriert, so ist es nun die Landbevölkerung, ehemals das Rückgrat der Hindunationalisten, die die Proteste anführt. Mit jeder Welle greifen die spalterischen Strategien der Regierung weniger. Zwar haben die Protestierenden auf nationaler Ebene bisher kaum politische Erfolge erzielt, aber es wird zunehmend ungemütlich in Neu-Delhi. Und vieles spricht dafür, dass es dieses Mal anders sein wird.