Auf den ersten Blick erscheint das Jahr 2021 als ein neues «Superwahljahr» mit Bundestagswahl, sechs Landtagswahlen sowie Kommunalwahlen in Hessen und Niedersachsen.[1] Doch anders als frühere «Superwahljahre» werden die Wahlen im neuen Jahr überschattet von der «Corona-Krise».
Die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus und die seuchenpolitischen Gegenmaßnahmen haben – rund um den Globus – den Alltag von Menschen innerhalb kürzester Zeit grundlegend verändert. Die Verbreitungswege des Virus wieder unter Kontrolle zu bringen, das Gesundheitssystem funktionsfähig und die Zahl der «Corona-Toten» niedrig zu halten, wird bis zum Frühjahr weiterhin harte Umstellungen in den Alltagsabläufen erfordern. Die Verteilung des knappen Guts «Impfstoff» beschwört neue Konflikte, wer wann warum geimpft werden kann - und absehbar aber auch, ob der Impfpass zur Voraussetzung für Zugang und Nutzung von Einrichtungen jedweder Art gemacht werden kann, gemacht werden sollte. Denn die Verfügbarkeit eines Impfstoffes entfaltet eine ähnliche Wirkung wie das Licht am Ende eines dunklen Lochs …
Horst Kahrs arbeitet am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu den Themen Demokratie und Wahlen, Klassen und Sozialstruktur.
Frühestens zum Jahreswechsel 2021/22 kann mit einer nachhaltigen Entspannung an der «Corona-Front» gerechnet werden. Die wirtschaftlichen, sozialen, sozialpsychologischen und politischen Folgen in privaten Haushalten, bei Kindern und Jugendlichen, in Alltagsgewohnheiten und öffentlichen Einrichtungen, bei staatlichen Haushalten und privaten Unternehmen werden noch etliche Jahre länger zu bewältigen sein, von Individuen wie der Gesellschaft insgesamt. Und sie vermischen sich mit den sozioökonomischen Umbrüchen, die unter den Stichworten «Digitalisierung» und «Dekarbonisierung» mit wachsender Geschwindigkeit stattfinden. Blickt man auf die bisherige deutsche Krisenpolitik zurück, lässt sich ohne besondere wahrsagerische Fähigkeiten prognostizieren, dass die Angst vor dem Virus und das vielfältige Leiden unter den exekutiven Maßnahmen den Sound der Wahlkämpfe bestimmen werden – wobei für die Wahlkämpfe selbst von den Parteien noch pandemiegerechte Formen gefunden werden müssen.
Die Seuchenpolitik in Deutschland hat zwei das Alltagsbewusstsein umtreibende Konfliktlinien geschärft. Da sind zum einen die Auseinandersetzungen um die staatlichen Ausgleichsmaßnahmen zur finanziellen und sozialen Kompensation der seuchenpolitischen Verordnungen einschließlich der Frage, wer für die Schulden einstehen soll. Und da sind zum anderen die Auseinandersetzungen um «die» richtige Langfriststrategie in der Seuchenpolitik selbst. Sie ist angesichts dessen, dass es sich um ein – immer noch in vieler Hinsicht unerforschtes – neuartiges Virus handelt, im Kern die Frage nach dem Umgang mit zukünftigen Seuchen, Notlagen, unbekannten Ereignissen. Handelt es sich um ein auf Jahrzehnte einmaliges Ereignis oder müssen systemische Veränderungen erfolgen und wenn ja, welche?
Die Seuchenpolitik setzt seit Monaten auf freiwillige oder verordnete massive Beschränkungen der individuellen sozialen Kontakte auf ein «notwendiges», «unverzichtbares» Maß, wobei eine hierarchische Ordnung von Frei-Zeit, Konsum-Zeit und Arbeits-Zeit durchgesetzt wird. Den Appellen an Vernunft und Verantwortlichkeit gegenüber Dritten folgen viele, zumal diejenigen, die über die entsprechenden sozialen und psychologischen Ressourcen verfügen.
Doch der exekutive Rückgriff auf die Kontrolle des individuellen Verhaltens schärft auch alte und neue Konturen der Ungleichheit und fördert Unverständnis, Bitterkeit, Wut. Wer Rücklagen hat, kann sich die Einkommensverluste eher leisten. Aus dem Heimbüro blickt es sich anders auf die Seuche als aus der vollen S-Bahn auf dem Weg zur Fabrik oder Baustelle. Wer allein wohnt, leidet eher unter den Folgen sozialer Vereinsamung. Nicht nur wer alt und «vorerkrankt» ist, zählt zu den Risikogruppen, sondern auch diejenigen, denen – mit Grundsicherung staatlich verordnet oder durch Niedriglöhne aufgenötigt – eine gesündere Lebensweise, die das Immunsystem bekanntlich stärken würde, finanziell nicht möglich ist. Es stellt sich die Frage nach der Balance zwischen individueller Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten und den systemischen, strukturellen Voraussetzungen für pandemiegerechtes Verhalten. Hierbei geht es nicht nur um Schutzkleidung, um Testkapazitäten, um Krankenhauspersonal und -betten, um die Ausstattung von Schulen, um die Offenhaltung von Kitas, damit die berufliche Verfügbarkeit der Eltern erhalten bleibt, um die Sicherheit im öffentlichen Nahverkehr. Es geht generell um die Puffer, die in den gesellschaftlichen Institutionen vorgesehen sind, um unvorhergesehene Situationen zu bewältigen. Wie viel «Feuerwehr» wird in Ämtern, Heimen, öffentlichen Einrichtungen generell benötigt, also Material und Personal, das vorhanden ist, aber möglichst nicht zum Einsatz kommen soll? Wie können unter Seuchenbedingungen demokratische Rechte wahrgenommen, demokratische Strukturen mit Leben gefüllt werden? Auf dem einen Pol die Frage, was die Gesellschaft für eine gute Seuchenpolitik tun und vorbereiten kann; auf dem anderen Pol die Frage nach der individuellen Verantwortlichkeit und am Ende repressiven Erziehung der Angehörigen von Problemgruppen wie «Großfamilien», «Baptisten» und anderen Religionsgruppen, Party-Süchtigen, Großsiedlungs-Bewohnerinnen und -bewohnern, «Ungebildeten», Esoterikern, Impfgegnern usw. Und mittendrin diejenigen, die in Kultur und Gastronomie «alles richtig gemacht» und nachweislich funktionierende Hygienekonzepte entwickelt und investiert haben, nun aber wieder als Erste schließen müssen.
Selbstverständlich werden neben der Seuchenpolitik andere Themen im Wahlkampf präsent sein, ihn womöglich gar prägen, zum Beispiel die Klimapolitik, die Rentenpolitik, die Arbeitsmarktpolitik usw. Doch immer gegenwärtige oder unvorhergesehen aufbrechende Bezüge zur Pandemie werden auch diese Themen durchziehen: Wie ernst werden die Warnungen der Wissenschaft genommen? Wie werden die Lasten verteilt? Wie viele finanzielle, materielle und personelle Ressourcen sollen in die öffentlichen Güter und Einrichtungen fließen, die sowohl Voraussetzungen sind für Arbeit und Produktivität als auch Vorsorge für Risiken, die möglichst nicht eintreten sollen? Die Pandemie hat gezeigt, zu welchen Eingriffen in das private und wirtschaftliche Leben, zur kurzfristigen Mobilisierung welcher finanziellen Ressourcen Politik und Staat in der Lage und bereit sind – da wird schließlich auch die Frage bleiben, warum das nicht auch bei anderen angekündigten Notlagen der Fall sein kann.
Das Parteiensystem zeigt sich auf diese Lage wenig vorbereitet. Eigentlich wird es auch von anderen Sorgen bestimmt. Manche Parteien nahmen die Warnungen der Virologen und Epidemiologinnen vor einer «zweiten Welle» so ernst, dass sie entscheidende Parteitage genau in diese Zeit verlegten. Von links bis rechts wird zwar die «Hinterzimmerpolitik» von Kanzlerin und Ministerpräsidentinnen und -präsidenten beklagt, die Parlamentsbeteiligung und eine «Langfriststrategie» eingefordert – was eine Partei jedoch konkret anders machen würde, bleibt im Ungefähren, abgesehen von besseren, höheren Ausgleichsmaßnahmen für jeweils bevorzugte Interessengruppen. Zur politischen Stimmungslage zählt auch, dass das Agieren der Länder als eher von wahlpolitischen Aspekten bestimmt denn von seuchenpolitischen geleitet wahrgenommen wurde und wird. Ein markanter Fall sind die Hakeleien zwischen den Ministerpräsidenten Markus Söder (Bayern) und Armin Laschet (Nordrhein-Westfalen) mit Blick auf eine Kanzlerkandidatur. Gleichzeitig birgt das gewachsene Misstrauen gegenüber den föderalen Strukturen den Wunsch nach klaren Vorgaben statt demokratischer Abwägung und Aushandlung, dem seitens der Parteien und Zivilgesellschaft wenig entgegengesetzt wird.
Die Stabilität des Parteiensystems, wie sie in den seit über neun Monaten festgefrorenen Umfrage-Ergebnissen erscheint, ist nur geborgt. Mit der Pandemie nahm die Zufriedenheit mit dem demokratischen System und der Arbeit der Bundesregierung in den Umfragen deutlich zu. Davon profitierten allerdings nur die CDU und CSU. Die Unionsparteien näherten sich wieder der früheren Stärke von bis zu 40 Prozent der Stimmen. Ob dieses Stimmenhoch anhält, ist aus zwei Gründen höchst ungewiss. Es beruht vor allem auf der Regierungskunst von Kanzlerin Angela Merkel, die aber nicht wieder für die Bundestagswahl zur Verfügung stehen will. Die Union geht ohne Amtsbonus in die Wahlen und ohne Kandidaten, dem die Bürger und Bürgerinnen aufgrund seiner Regierungsarbeit Vertrauen entgegenbringen. Zweitens steht die Union – seit dem Frühjahr erkennbar – ohne Merkel führungs- und richtungslos da. Die bevorstehende Wahl eines neuen Parteivorsitzenden droht die Richtungskämpfe eher zu verschärfen als zu befrieden. Die geplante geordnete Machtübergabe von Merkel an Kramp-Karrenbauer scheiterte bereits, als der Gegenkandidat Friedrich Merz nur knapp unterlag. Sie brach als offene Machtfrage an der Causa Thüringen wieder auf, als CDU und AfD gemeinsam den Kandidaten einer Fünf-Prozent-Partei zum Ministerpräsidenten wählten. Danach gelang es der CDU auf Bundesebene nur mit immer größerer Mühe, den Eindruck aufrechtzuerhalten, sie halte an dem strategischen Orientierungsrahmen eines tripolaren Parteiensystems fest. In diesem System steht einem antidemokratischen Pol (AfD) ein demokratisches Parteienlager gegenüber, das selbst wieder über einen rechten und linken Pol auf dem Boden des Grundgesetzes verfügt. Immerhin nutzte die CDU die Möglichkeit einer Mehrheitsbildung mit der AfD gegen die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen nicht mehr. An ihre Stelle trat die CDU in Sachsen-Anhalt, die bei der Ablehnung einer Gebührenerhöhung weit unter einem Inflationsausgleich für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemeinsame Sache mit der AfD machte. Dabei koppelten sowohl der damalige Landesvorsitzende als auch der Generalsekretär der Landespartei die Finanzierungsfrage mit inhaltlicher Kritik am Inhalt der Sendungen – ein in jeder Hinsicht nicht mit dem Grundgesetz, wohl aber mit der AfD kompatibler Gedanke. Friedrich Merz, erneut Kandidat für den CDU-Parteivorsitz äußerte pauschal «Verständnis» für die Parteifreunde in Sachsen-Anhalt.
Die Entscheidung über den Parteivorsitz der CDU wird zu einer weitreichenden Richtungsentscheidung über den zukünftigen Kurs der CDU. Armin Laschet steht dabei für eine Fortsetzung der pragmatischen gesellschaftspolitischen Modernisierung und für eine vorsichtige klimapolitische Transformation des bundesdeutschen Kapitalstocks, die die Mehrheitsfähigkeit der Union nicht gefährdet. Friedrich Merz, der Laufbursche von Blackrock, verlängert das befremdliche Überleben der neoliberalen Ideologie, versteht Modernisierung vor allem als freiwillige Marktanpassung und bedient gesellschaftspolitisch wertkonservative restaurative Positionen. Er wäre sicherlich in der Lage, nationalkonservative Wähler von der AfD zurückzugewinnen und gleichzeitig bei Wählerinnen und Wählern zu punkten, die sich für «nach der Pandemie» möglichst viel von der «alten Normalität» zurückwünschen. Den vom Elder Statesman der Union, Wolfgang Schäuble, hingeworfene Ball, die Corona-Krise als Aufforderung für eine wirtschafts- und europapolitische Kehre zu nutzen, hat er nicht aufgefangen. Das machen stattdessen je auf ihre Weise Laschet und Norbert Röttgen, der dritte Kandidat.
Schäuble hatte in einem Interview Ende April und in einem Grundsatzpapier Ende Juni, mit Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Corona-Krise als günstige Gelegenheit begriffen, den Umbau der deutschen Exportwirtschaft in Richtung «nachhaltiger» Technologie zu beschleunigen und den europapolitischen Kurs, den er selbst in der Euro-Krise angeführt hatte, in Richtung Transferunion zu korrigieren.
Die Entscheidung über den Parteivorsitz der CDU wird daher Bewegung in die Parteienlandschaft bringen. Gewönne Merz, dann stünde eine wertkonservativ-nationalliberale Wunsch-Koalition mit der FDP im Raum, die, sollte sie keine eigene Mehrheit erhalten, der machtpolitischen Öffnung zu einer (Meuthen-)AfD neue Dynamik verleihen würde. Auch die FDP versucht ja, im nationalliberalen und rechtslibertären Gewässer zu fischen. Gewönne hingegen Laschet, rückte eine Koalition des alten konservativen Besitzbürgertums mit dem neuen gesellschaftskritischen Bildungsbürgertum, wie man die Zusammenarbeit von CDU und Grünen auch beschreiben könnte, in den Blickpunkt. Wenn Merz einen Teil der «modernen» Wählerschichten der Union schwerlich binden könnte, so gilt für Laschet (und Röttgen), dass sie konservative Schichten kaum erreichen. Wollte die Union ihr Potential, welches sich in den aktuellen Umfragen ausdrückte, bei der Bundestagswahl tatsächlich voll ausschöpfen, dann liefe alles auf den bayrischen CSU-Ministerpräsidenten Markus Söder als gemeinsamen Kanzlerkandidaten hinaus, der bislang in beide Richtungen ausstrahlungsfähig ist.
Eine Regierung ohne die Union ist derzeit nicht vorstellbar. Die Parteien links von der Union kommen kaum über die Marke von 40 Prozent der Stimmen. An einer irgendwie abgestimmten Strategie, mit der die fehlenden Stimmen zu gewinnen wären, fehlt es. Die Stimmen wären entweder unter den Produktionsarbeitern mit einfacher oder mittlerer Qualifikation oder den entsprechenden Dienstleistungsberufen zu gewinnen, von denen bis zu 50 Prozent im Jahr 2017 gar nicht zur Wahl gingen. Weder bei der SPD noch bei der Linkspartei ist eine konsistente Strategie zur Mobilisierung dieser Schichten zu erkennen. Die Wahlstrategie der Partei DIE LINKE setzt vielmehr vor allem darauf, mögliche enttäuschte Wählerinnen und Wähler von SPD und Grünen zu gewinnen, während die SPD hofft, durch einen Linksschwenk in der Sozialstaatspolitik im Potential der Linken zulegen zu können.
Oder die nötigen Stimmen für eine Mehrheit ohne Union wären im Potential der Unionspartien zu finden. Hier haben allein die Grünen nennenswerte Aussichten. Bei ihnen docken am ehesten CDU-Anhänger an, die einem Merz-Kurs nicht folgen wollen, ähnlich wie CSU-Anhänger bereits den Grünen als Gegenpol der AfD zu ordentlichen Stimmenzuwächsen in Bayern verhalfen. Ausschlaggebend für die Wählerbewegung waren und wären normative und praktische Ordnungsmodelle für demokratische Kultur und gesellschaftliche Vielfalt in Abgrenzung zu homogenen und autoritären Gesellschaftsbildern und die Sorge um die natürlichen Grundlagen der Zukunft der Kinder. «Weiche Nachhaltigkeit» in Wirtschafts- und Gesellschaftsthemen stünden bei Schwarz-Grün im Vordergrund, nicht soziale und sozialstaatliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsfragen.
Mit Olaf Scholz hatte sich die SPD frühzeitig auf einen Kanzlerkandidaten festgelegt. Die Partei vermied damit bisher erfolgreich, dass sich die innerparteilichen Lager entlang der Linien «Um jeden Preis raus aus der GroKo» und «Opposition ist Mist» erneut polarisierten. Mit der Nominierung von Scholz wurde der freie Fall in den Umfragen gestoppt, nicht aber eine Aufwärtsbewegung eingeleitet. Die Regierungsarbeit der SPD-Minister und -Ministerinnen, die etliche sozialdemokratische Projekte verwirklichen konnten, zahlt sich in den Umfragen nicht aus. Ein Grund dafür ist, dass sie zu wenig auf Zukunftsfragen ausgerichtet sind und viel zu sehr mit der Korrektur der Agenda-2010-Politik in Verbindung gebracht werden. Eine Kommunikationslinie, die vor allem aussagt: «Seht her, wir machen es jetzt doch wieder anders», transportiert zum einen wieder die Erinnerung an die Politik, die so Viele zur Abwendung von der Partei getrieben hat, und stößt zum anderen alle diejenigen vor den Kopf, die trotz oder wegen dieser Politik der Partei die Treue gehalten haben. Hinzu kommt, dass die soziale Basis der Arbeiter und Angestellten mit einfacher und mittlerer beruflicher Qualifikation relativ geschrumpft ist.
Die wohl einzige Chance von Olaf Scholz, die SPD stärker werden zu lassen als die Grünen, liegt in dem Verzicht von Angela Merkel auf eine erneute Kanzlerschaft. Als Finanzminister, Regierendem Bürgermeister Hamburgs und vormaligen Arbeitsminister fiele im ein verwaister Amtsbonus in den Schoß. Spannend würde es dann, wenn er die Aussetzung der Schuldenbremse und die aktuelle Staatsverschuldung nicht aus den zukünftigen laufenden Einnahmen finanzieren wollen würde, sondern aus einem neuen Lastenausgleich, der vom oberen Drittel der Einkommens- und Vermögenspyramide aufzubringen wäre. Damit könnte tatsächlich ein neues gesellschaftliches Bündnis skizziert werden, in dem sich Teile der oberen Mittelschicht mit größeren Teilen der unteren Einkommenshälfte zusammenfinden, um nicht zuletzt als Lehre aus der Seuchenpolitik die öffentliche Infrastruktur und die kollektiven Güter als Grundlage des Alltagslebens nachhaltig zu sanieren und auszubauen.
Indes erscheint eine solche Orientierung auf einen «nachhaltigen Wohlfahrtsstaat» eine zu frühe Hoffnung angesichts des inneren Zustandes von SPD und Linkspartei, die sich ja die Rolle der parteipolitischen Protagonisten teilen müssten. Während die SPD letztlich vor allem bemüht sein wird, ja nicht hinter den Grünen zu landen und damit den Status als zweite Volkspartei und führende Kraft im selbsternannten «progressiven Lager» endgültig zu verspielen, wird sich DIE LINKE darauf konzentrieren, ihre Wählerschaft überhaupt zu halten. Die Linke leidet unter der Pandemie, weil sie ihre Führungs- und Richtungsfragen nicht mehr rechtzeitig vor dem Wahlkampf klären konnte. Eine konsistente Strategie in Richtung «Linkes Regieren» war damit personell wie inhaltlich nicht mehr durchsetz- und kommunizierbar. Eine Verständigung zwischen SPD und Linkspartei über ein gemeinsames politisches Angebot an die Grünen, welches für diese anziehender wäre als eines der CDU/CSU, ist ebenfalls nicht in Sicht. In der Pandemie entwickelten die linken gesellschaftlichen und politischen Kräfte keine eigene überzeugende eigenständige Antwort, wie ein erneuter harter Lockdown hätte verhindert werden können oder wie eine linke Kritik der exekutiven Maßnahmen aussehen könnte, die gleichermaßen die Entscheidungsnöte der Regierenden wie auch die Ängste, Verunsicherung, Zweifel, Existenzsorgen unter Bürgerinnen und Bürgern ernst nimmt und Grundrechte achtet.
Bei aller Unsicherheit darüber, wie das Parteiensystem durch die Entscheidungen der Union in Bewegung gerät und wie die anhaltende pandemische (Stimmungs-)Lage in den Wahlkampf zurückwirkt, so lässt sich doch eines festhalten: Die Seuchenbekämpfung bringt auf den Punkt, was sich seit der Banken- und Finanzkrise 2008 abzeichnet: die «Rückkehr des Staates» in die Ökonomie und die relative Autonomie der Politik. Es gibt Wichtigeres als den täglichen privaten Profit. Wertschöpfung ist keine private Meisterleistung, sondern die kollektive Leistung einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Statt des Finanzkapitals steht nun die Arbeit und ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen in Mittelpunkt. Gesundheitswesen, Pflegeheime, Kindergärten, Schulen, digitale Netze usw. sind je auf ihre Weise unverzichtbare Teile der Wertschöpfungsprozesse. Die Politik hat Möglichkeiten und damit auch Alternativen. Sie können demokratische oder autoritäre Gestalt annehmen. Die Wahlen im Jahr 2021 könnten darüber entscheiden, ob staatliche Politik ihre Gestaltungsräume gegenüber Marktprozessen und wirtschaftlicher Macht nutzen will und in welcher Richtung dies erfolgen soll. Die politische Grundkonstellation hat sich für linke Antworten weit geöffnet.
[1] Den Auftakt der Länder bilden am 14. März Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, in Hessen finden Kommunalwahlen statt. Am 25. April, so ist es zwischen rot-rot-grüner Landesregierung und CDU verabredet, soll in Thüringen der Landtag neu gewählt. Am 6. Juni ist Wahltag in Sachsen-Anhalt. Voraussichtlich am 26. September stehen die Entscheidungen über die Zusammensetzung des Bundestages sowie der Landesparlamente in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin an, zwei Wochen zuvor sollen in Niedersachsen die kommunalen Parlamente neu gewählt werden.