Publikation Westasien - Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Befreiung in den Staat?

Palästina: Was kommt nach der gescheiterten Zwei-Staaten-Lösung?

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Helga Baumgarten,

Erschienen

Dezember 2020

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Nur online verfügbar

Ramallah 2016
«Die Leute auf der Straße tun oft so, als sei alles ‹normal›. Vor allem Ramallah und das Leben dort stehen für diese ‹Normalität›. Weder die Besatzung, der Siedlerkolonialismus, Israel noch die Corona-Pandemie scheinen im Alltag der Menschen eine besondere Rolle zu spielen. Stattdessen versuchen sie, die immer unerträglichere Realität auszublenden.» Ramallah 2016, CC BY 2.0, Adamina, via Wikimedia Commons

Die Zwei-Staaten-Lösung, also die Errichtung eines palästinensischen Staates in den im Juni-Krieg 1967 von Israel militärisch eroberten und seitdem besetzten bzw. annektierten Gebieten Westbank, Gazastreifen und Ost-Jerusalem, wurde von der PLO auf ihrem Nationalkongress in Tunis im November 1988 als offizielles Programm beschlossen. Seit Jahrzehnten akzeptiert die internationale Gemeinschaft diesen Ansatz und und fordert Jahr für Jahr von Israel die Beendigung der völkerrechtswidrigen Besatzung der palästinensischen Gebiete sowie die Ermöglichung des Aufbaus eines unabhängigen palästinensischen Staates.

Der Osloer-Verhandlungsprozess seit September 1993 sollte den – völlig asymmetrischen – Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser*innen beenden, Frieden herstellen und – so die Erwartung der internationalen Gemeinschaft sowie der Palästinenser*innen – zum Ende der Besatzung und zu einem palästinensischen Staat führen. Jede israelische Regierung, angefangen von der Regierung Rabin, die für Oslo verantwortlich zeichnet, bis hin zur Regierung Netanjahu, verfolgte seitdem jedoch eine ganz andere Politik. Diese sah nie einen palästinensischer Staat vor. Von vielen wird übersehen, dass die von der PLO und Israel unterzeichneten Osloer-Verträge an keiner Stelle von einem palästinensischen Staat sprechen (Baumgarten 2014).

Die Politologin und Historikerin Helga Baumgarten lehrt an der Universität Birzeit in der von Israel besetzten Westbank. Ihre Publikationen thematisieren den Nahostkonflikt, die palästinensische Nationalbewegung, den politischen Islam und die Problematik von Transformationen in der Arabischen Region.

Der Jahrhundert-Deal des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump sieht dagegen paradoxerweise einen palästinensischen Staat auf maximal 70 Prozent der besetzten Westbank vor, die anderen 30 Prozent, darunter vor allem die Gebiete, auf denen sich der Großteil der israelischen Siedlungen befindet, sollen von Israel annektiert werden. Ost-Jerusalem ist von all dem nicht berührt, da es für Trump einen essentiellen Teil der unteilbaren Hauptstadt des Staates Israel bildet (Gresh 2020). Israels Politik, auf einen kurzen Nenner gebracht, setzt auf eine Expansion und Vertiefung der kolonialistischen Siedlungen, angefangen von dem immer hermetischer geschlossenen Siedlungsgürtel um Ost-Jerusalem bis hin zum Jordan-Tal, aus dem die Palästinenser*innen sukzessive vertrieben werden sollen.

Was sind vor diesem Hintergrund die Optionen der palästinensischen Regierung in Ramallah bzw. in Gaza? Wo steht die PLO? Welche Vorstellungen von einer zukünftigen Staatlichkeit werden in der palästinensischen Zivilgesellschaft und generell in der palästinensischen Gesellschaft diskutiert? Welche Positionen vertreten die Palästinenser*innen in Israel? Was sind die Diskussionen in der palästinensischen Diaspora? Und wie stellt sich schließlich die winzige israelische Linke zu diesem Problem-Komplex?

Historischer Rückblick: Vom demokratischen Staat zur Zweistaatenlösung

Es war die Fatah, vor allem ihr linker Flügel, sowie die Fatah-Aktivist*innen in Europa, die eine erste politische Lösung für den Konflikt mit Israel entwickelten: einen demokratischen Staat, in dem Muslim*innen, Christ*innen sowie Juden und Jüd*innen friedlich zusammenleben sollten. Die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) unter Nayef Hawatmeh entwickelte diese Idee weiter und versuchte, innerhalb der israelischen außerparlamentarischen Linken dafür Unterstützung zu bekommen (Baumgarten 1991).  Spätestens nach dem Oktober-Krieg 1973 zeichnete sich innerhalb der PLO, unter der Federführung Yasir Arafats und der von ihm angeführten Fatah, eine Entwicklung in Richtung Zwei-Staaten-Lösung ab. Walid Khalidi, einer der wichtigsten Intellektuellen und politischen Repräsentant*innen der palästinensischen Diaspora in den Vereinigten Staaten, formulierte dieses Programm 1978 in seinem historischen Artikel «Thinking the Unthinkable: The Establishment of a Palestinian State» (Khalidi 1978). Sowohl die palästinensische Linke, angeführt von der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP), als auch die linke Solidaritätsbewegung in Europa und weltweit sowie ein beträchtlicher Teil der radikalen israelischen Linken, also an erster Stelle Matzpen, lehnten diese Idee zunächst entschieden ab. Sie bestanden vielmehr auf einem Staat für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordantal, der Ergebnis einer Revolution sein sollte. In diesem Staat sollten alle mit gleichen Rechten und Pflichten und in voller Freiheit leben können (Baumgarten 2002). Erst 1988, also 15 Jahre später, konnte Arafat die von ihm seit 1973 systematisch verfolgte Zwei-Staaten-Lösung im palästinensischen Nationalrat durchsetzen. Es waren nicht zuletzt die Erfolge der ersten Intifada seit Dezember 1987, die dies ermöglichten. Die palästinensische Gesellschaft in den besetzten Gebieten stand fast uneingeschränkt hinter diesem Beschluss, denn die «Vereinigte Führung der Intifada» (bestehend aus Fatah, PFLP, DFLP und Kommunistische Partei) hatte eben diese Lösung zu ihrem politischen Programm gemacht. Lediglich die 1987 gegründete Hamas lehnte die Zwei-Staaten-Lösung ab. Sie hielt an den Forderungen der Palästinenser*innen aus der Periode vor 1967 fest: die Rückkehr der Palästinenser*innen in ihre alte Heimat und die Etablierung eines palästinensischen Staates im gesamten historischen Palästina. Im Gegensatz zur PLO und speziell zur Fatah stellte die Hamas den bewaffneten Widerstand ins Zentrum, während bei der Fatah unter Arafats Führung ein Paradigmenwechsel stattfand, weg von der Hegemonie des bewaffneten Kampfes hin zu politischen Verhandlungen und Diplomatie (Baumgarten 2013).

Von Madrid über Oslo bis heute

Nach dem Golfkrieg 1991 war die PLO wegen des Schulterschlusses von Arafat mit Saddam Hussein, dem damaligen irakischen Präsidenten, enorm geschwächt. Zur «Friedenskonferenz» von Madrid 1991 und den daran anschließenden Madrider Verhandlungen, die in zahlreichen Runden in Washington durchgeführt wurden, wurde nicht die PLO eingeladen, sondern stattdessen eine Delegation von Vertreter*innen aus der Westbank und dem Gazastreifen. Israel lehnte deren Forderungen kontinuierlich, ja kategorisch ab und im Frühsommer 1993 war ihr führender Vertreter, Haidar Abdel Schafi aus Gaza, soweit, dass er sein Scheitern eingestand. Er sah nur noch einen Ausweg, nämlich die palästinensische Vertretung zurück an die Arabische Liga zu geben, damit diese versuchen könnte, eine Lösung zu finden (Baumgarten und Steinbach 1993). Eben dies war die Chance für die PLO unter Arafat, wieder die uneingeschränkte Führung der palästinensischen Politik zu übernehmen. Der eingeschlagene Weg bestand aus den Osloer-Verhandlungen, die, zunächst geheim und ohne Wissen der Delegation aus den palästinensischen Gebieten, aufgenommen wurden und die schließlich zur Unterzeichnung der sogenannten Prinzipienerklärung in Washington im September 1993 führten. Für Arafat war entscheidend, dass die PLO in die besetzten Gebiete kommen konnte, um dort, so seine Erwartung, einen palästinensischen Staat aufzubauen. Er war, wie die gesamte Führungselite der PLO, nicht in der Lage, hinter den verbalen Äußerungen und Versprechen der israelischen Regierung unter Jitzhak Rabin und Jitzhak Peretz die kompromisslose und unnachgiebige israelische Politik zu erkennen. Auch der als Friedensbringer gefeierte Rabin plante keineswegs eine Zwei-Staaten-Lösung. Ganz im Gegenteil, seine politischen Ziele scheinen vielmehr in der heutigen politischen Realität verwirklicht zu sein mit der «de facto Annexion der größten Teile der Westbank», wie die israelische Journalistin Amira Hass überzeugend argumentiert. Arafat starb, ohne sein Lebensziel, einen unabhängigen palästinensischen Staat, erreicht zu haben. Bis heute ist dies auch seinem Nachfolger, Mahmud Abbas, nicht gelungen. Im Gegenteil: die Palästinenser*innen sind heute weiter denn je von einem eigenen Staat entfernt.

Aktuelle Diskussion über eine palästinensische Staatlichkeit

Innerhalb der palästinensischen Politik und Gesellschaft werden verschiedene, teils stark divergierende, Positionen vertreten. Die offizielle palästinensische Politik, wie sie die Regierung Abbas in Ramallah verfolgt, basiert auf dem Beschluss des palästinensischen Nationalrates (PNC) von 1988 sowie der palästinensischen Auslegung von Oslo: Beendigung der israelischen Besatzung und Aufbau eines palästinensischen Staates in Westbank und Gazastreifen mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Im Rahmen einer Veranstaltung des Forschungszentrums PASSIA in Ost-Jerusalem im November 2019 präsentierte Nasser al-Qudwa, langjähriger PLO-Vertreter bei der UNO in New York und Außenminister der Palästinensischen Autorität (PA) in den Jahren 2005 und 2006, erneut diese offizielle palästinensische Position. Ein palästinensischer Staat existiert in dieser Lesart schon seit 2012, als die UNO Palästina als «non-member observer state» aufnahm. Entscheidend ist für al-Qudwa, dass die Mehrzahl der Staaten der Welt den palästinensischen Staat anerkannt hat. Da der Staat Palästina unter israelischer Besatzung steht, muss die internationale Gemeinschaft dazu beitragen, die Besatzung zu beenden. Die schlichte «Tatsache» der «Existenz» eines Staates wird als historischer Erfolg gewertet und al-Qudwa, wie viele andere palästinensische Politiker*innen und Intellektuelle, halten daran unbeirrt fest. Einwände wie solche, dass die expandierende Präsenz israelischer Siedlungen eine Zwei-Staaten-Lösung inzwischen schlicht unmöglich macht, werden nicht akzeptiert. Die Regierung Abbas besteht mit ihren Unterstützer*innen weiter auf der Zwei-Staaten-Lösung, weil diese Lösung internationale Anerkennung gefunden hat und die PLO darin weltweite Unterstützung genießt, zuletzt am 19. November 2020, als 163 Staaten, darunter zum ersten Mal auch Deutschland, mit Ja für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser*innen, sprich einen palästinensischen Staat, gestimmt haben.

George Giacaman, Professor an der Universität Birzeit und langjähriger Direktor der NGO Muwatin in Ramallah, vertritt eine andere, ebenfalls relativ weit verbreitete Position, wenn er in seinem Vortrag auf einer Konferenz von Muwatin in Ramallah zur Frage, was «Nach der Zwei-Staaten-Lösung» kommt, den Schwerpunkt legt auf den Widerstand gegen die Besatzung. Das politische Ziel, ob ein palästinensischer Staat in den seit 1967 besetzten Gebieten oder ein Staat vom Mittelmeer bis zum Jordantal, in dem israelische Juden und Jüdinnen und Palästinenser*innen gleichberechtigt miteinander leben, lässt er zunächst offen. In einem persönlichen Austausch mit der Autorin Anfang Dezember 2020 stellt er die Durchsetzung des Rechtes auf Selbstbestimmung der Palästinenser*innen ins Zentrum seiner politischen Forderungen. Das, so argumentiert Giacaman, ließe verschiedene politische Optionen offen. Auch eine Zwei-Staaten-Lösung wäre auf dieser Basis möglich, ist aber, laut Giacaman, seit langem nicht mehr umsetzbar. Optionen wären von daher ein Staat mit gleichen Bürgerrechten für alle, aber auch eine Konföderation oder eine Föderation zwischen Israel und Palästina.

Ein demokratischer Staat für alle

Anstatt der Zwei-Staaten-Lösung, die seit Jahren nicht mehr umsetzbar erscheint, setzt sich punktuell ein alternativer Ansatz durch: ein demokratischer Staat für alle vom Mittelmeer bis zum Jordantal. Während diese Option von jüngeren Palästinenser*innen, vor allem Intellektuellen, in Israel, in den besetzten Gebieten und in Europa sowie in den USA favorisiert wird, findet sie insgesamt betrachtet eher wenig Unterstützung in der palästinensischen Gesellschaft in der Westbank und (noch weniger) im Gazastreifen. Umfragen des Palestinian Center for Policy and Survey Research (PCPSR) von September 2020 zufolge finden nur 6 Prozent Unterstützung für einen Staat, während sich in Umfragen von Mitte Dezember 2020 40 Prozent für die Zwei-Staaten-Lösung aussprechen. Eine gemeinsame israelisch-palästinensische Umfrage des PCPSR zusammen mit dem Evens-Programm der Universität Tel Aviv vom Oktober 2020 hat diese Fragen sowohl in den palästinensischen Gebieten als auch in Israel gestellt: für eine Zwei-Staaten-Lösung sprechen sich demnach 43 Prozent der Palästinenser*innen und 42 Prozent der jüdischen Israelis aus. Nur 9 Prozent der Palästinenser*innen und 10 Prozent der Israelis optieren für einen gemeinsamen Staat, der allen seinen Bürger*innen die gleichen Rechte gewährt, sprich einen demokratisch-egalitären Staat. 22 Prozent der jüdischen Israelis sprechen sich dagegen für einen Staat aus, in dem lediglich Juden und Jüdinnen volle Rechte genießen, was einem Apartheidstaat gleich käme – im Jahr 2018 waren dies noch 15 Prozent.  

Stimmen von der «palästinensischen Straße»

Die «einfachen Menschen auf der Straße», so mein Eindruck seit geraumer Zeit, wollen schlicht und einfach leben bzw. überleben. Oft tun sie so, als sei alles «normal». Vor allem Ramallah und das Leben dort, inklusive das Nachtleben, stehen für diese «Normalität». Weder die Besatzung, der Siedlerkolonialismus, Israel noch die Corona-Pandemie scheinen im Alltag der Menschen eine besondere Rolle zu spielen. Stattdessen versuchen sie, die immer unerträglichere Realität auszublenden. Der Grund dafür ist nicht zuletzt die Tatsache, dass die palästinensische Gesellschaft «kaputtbesetzt» ist. Dieser Prozess begann mit dem Scheitern der Ersten Intifada (1987-1991). Er vertiefte sich durch den verhängnisvollen Oslo-Prozess. Sowohl die Zweite Intifada (2001-2003) als auch der teils gewaltförmige Konflikt zwischen Hamas und Fatah, der sich nach dem Wahlerfolg der Hamas von 2006 noch verschärfte und in eine regelrechte Spaltung mündete, haben diese Tendenzen noch verstärkt. Die Menschen sind müde und frustriert, die Gesellschaft auseinandergerissen, Hoffnung existiert kaum mehr. Es gibt eine immer geringere Bereitschaft und Kraft für den Widerstand gegen die Besatzung. Formen von Widerstand entstehen vor allem lokal, wenn es um konkrete Bedrohungen oder Angriffe durch Armee und Siedler*innen geht. Ansonsten sind Widerstandsaktionen von oben durch die Fatah-Führung organisiert und werden vor allem von Fatah-Aktivist*innen durchgeführt. Eine Ausnahme bildet Ost-Jerusalem: jede israelische Aktion, die den Haram al-Scharif/Tempelberg bedroht, führt zu spontanen Massenaktionen. Jede Tötung von Palästinenser*innen führt hier oft zu lange anhaltenden Massenprotesten.

In der politischen Debatte bleibt die dominante Tendenz die Zwei-Staaten-Lösung – allerdings glaubt die Mehrheit der Menschen nicht, dass sich diese in absehbarer Zukunft umsetzen lässt. In der Realität ist es vor allem das Ende der Besatzung, das angestrebt wird, Umfragen von Mitte Dezember 2020 sprechen von 45 Prozent der Befragten. Gleichzeitig sind für 29 Prozent der Menschen Armut und Arbeitslosigkeit die größten Probleme, die Besatzung und die Siedlungen sehen in diesem Zusammenhang 26 Prozent als größtes Problem an. Gefühlsmäßig stehen wohl sowohl Palästinenser*innen als auch Israelis an dem Punkt, den der kürzlich verstorbene Meron Benvenisti, ehemaliger stellvertrender Bürgermeister von Jerusalem unter Teddy Kollek, Publizist und Autor, schon vor Jahren diagnostizierte: man hoffe, eines Tages wie nach einem Alptraum aufzuwachen und «der Spuk» sei vorbei, es gebe – je nach Perspektive – keine Israelis bzw. keine Palästinenser*innen mehr.

Ansatzpunkte für mögliche Veränderungen

Gibt es irgendwelche Ansatzpunkte für Veränderungen und falls ja, woher könnten sie kommen und in welche Richtung könnten sie gehen? Auf der palästinensischen Seite sind es wohl nur junge Palästinenser*innen aus den besetzten Gebieten, aus Israel und aus der Diaspora, die eine grundsätzliche Veränderung auf der politischen Ebene bewirken könnten. Paradigmatisch dafür steht sicher der palästinensische Think Tank Al-Shabaka, der transnational organisiert ist und in dem vor allem jüngere palästinensische Intellektuelle weltweit engagiert sind. Dort wird intensiv überlegt, wie und auf welchem Weg ein neues politisches Programm für Palästina erarbeitet werden könnte. Derzeit erhofft man sich noch viel von einer Erneuerung und tiefgreifenden Umstrukturierung der PLO, die der Kontrolle durch die PA in Ramallah entzogen werden müsste.

Die «Kampagne für einen demokratischen Staat», eine Initiative unter palästinensischer Führung, die von palästinensischen und jüdisch-israelischen Aktivist*innen, Intellektuellen und Akademikern 2018 in Haifa gestartet wurde, hat inzwischen ein Manifest mit einem klaren politischen Programm vorgelegt. Im Zentrum steht die Herstellung eines demokratischen Staates zwischen Mittelmeer und Jordantal, in dem alle dort lebenden Menschen gleiche Rechte, Freiheit und Sicherheit haben sollen. Die Kampagne sieht sich als Teil der progressiven Kräfte sowohl in der Region als auch weltweit und kämpft gegen Ausbeutung, Rassismus, Kriege, Kolonialismus und Imperialismus und für pluralistisch-egalitäre Gesellschaften.

Abschließend soll der US-amerikanische Politologe Ian Lustick zitiert werden. Er legt als Reaktion auf die Annexionspläne Israels interessante und potentiell weiterführende Überlegungen vor, die sich auf eine Lösungsperspektive auf der Basis eines gemeinsamen demokratischen Staates konzentrieren. Zum einen fragt er provokativ, warum die Zwei-Staaten-Lösung, die für ihn nicht nur tot, sondern längst begraben ist, weiterhin von Netanyahu, Trump oder Kushner, von liberalen Zionist*innen in Tel Aviv und New York, von der PA in Ramallah bis hin zu europäischen – auch deutschen - und amerikanischen Politiker*innen heraufbeschworen wird. Er antwortet mit einem Witz aus dem  Woody Allen Film «Annie Hall»: «Ein Mann geht zum Psychiater und fragt: ‹Was machen wir nur, mein Bruder ist verrückt geworden. Er denkt, er sei ein Huhn.› Der Psychiater schlägt vor, ihn in eine Klinik einweisen zu lassen. Darauf antwortet der Mann: ‹Aber wir brauchen doch die Eier.›» Die Zwei-Staaten-Lösung sei für deren «Propagandist*innen», so Lustick, die sehr komfortable Entschuldigung, nichts zu tun und alles beim Alten zu lassen, sie stehe, um an Woody Allen anzuschließen, für die unverzichtbaren Eier (Lustick 2019).


Bibliographie:

  • Al-Qudwa, Nasser. 2019. «Between Pessimism of the Intellect and Optimism of the Will», Gramsci. Ost-Jerusalem: Vortrag auf PASSIA-Konferenz am 26.11 2019.
  • Baumgarten, Helga. 2014. Das «System Oslo». INAMO 79: S. 34-38.
  • Baumgarten, Helga. 2013. Der Kampf um Palästina. Was wollen Hamas und Fatah? Freiburg: Herder.
  • Baumgarten, Helga. 2002. Das Projekt eines palästinensischen Staates zwischen Demokratie und autoritärer Herrschaft. In: Uta Klein und Dietrich Thränhardt (Hg.): Gewaltspirale ohne Ende? Konfliktstrukturen und Friedenschancen im Nahen Osten. Wochenschau, Schwalbach 2002, S. 103–122.
  • Baumgarten, Helga. 1991. Palästina. Befreiung in den Staat. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp, insb. S. 238-239.
  • Gresh, Alain. 2020. Le Monde Dipl. engl. Online, March 2020: «A hate plan, not a peace plan».
  • Khalidi, Walid. 1978. Thinking the Unthinkable. Foreign Affairs 56:4, July 1978, S. 695-713.
  • Lustick, Ian. 2019. Paradigm Lost: From Two-State Solution to One-State Reality. University of Pennsylvania Press.