Publikation Kapitalismusanalyse - Gesellschaftstheorie - Klasse - GK Klassen und Sozialstruktur Klassentheorie

Vom Making und Remaking

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Mario Candeias,

Wozu Klassentheorie, -analyse und -politik? Warum und wie über «Klasse» reden? Viele Jahre kaum beachtet, sind «Klassen» und «Klassenpolitik» als Begriffe mit Wucht in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt. Dabei fällt auf: Vieles, was im Gefolge der 1968er-Bewegung wissenschaftlich wie politisch an klassenanalytischem Erkenntnisfortschritt erreicht wurde, ist heute in Vergessenheit geraten oder gänzlich verloren gegangen. Deshalb wird die aktuelle Klassendiskussion heute aus wissenschaftlicher Perspektive oftmals oberflächlich und mitunter in geradezu vulgärer Weise geführt. Die Sozialwissenschaften verfügen derzeit über keinen Begriff zum Verständnis der Klassengesellschaften des 21. Jahrhunderts. Damit reproduzieren und verdoppeln sie in ihren Gesellschaftsdeutungen lediglich, was sich real ohnehin abspielt.

Einerseits nehmen sowohl vertikale als auch horizontale, klassenspezifische Ungleichheiten in nahezu allen Gesellschaften des globalen Nordens wie des Südens zu, andererseits sind um den Gegensatz von Kapital und Arbeit gebaute politische und gewerkschaftliche Organisationen so schwach, wie es nach 1949 wohl noch nie der Fall gewesen ist. In diese Lücke stoßen rechte, radikalpopulistische Strömungen, denen es in vielen Ländern gelungen ist, Teile der Lohnabhängigen für sich zu interessieren und «Solidarität» an völkische Zugehörigkeit zu koppeln. Solidarität ist geschwächt, wird exklusiv. Was sind die Ursachen? Können diese Teile der Klasse zurückgewonnen werden?

Nun gab es in den letzten Jahrzehnten eigentlich viele Untersuchungen über die Veränderungen der Klasse durch die Produktivkraftentwicklung, neue Subjektivierungsformen, die unterschiedlichen Emanzipations- und Klassenkämpfe der Zeit. Sicher wurden dabei selten Begriffe der Klassenanalyse eingesetzt. Es gab sicher auch keine umfassende Klassenanalyse. Aber der Sache nach gab es natürlich einiges an gutem Material – davon gingen wir aus, als wir am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit der Konzeption einer «neuen» oder «verbindenden Klassenpolitik» begannen.

Wir setzten dabei außerdem die entwickelte marxistische, marxistischfeministische und praxeologische Klassentheorie als gegeben voraus, von Antonio Gramsci, E. P. Thompson, Stuart Hall, Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein, Pierre Bourdieu, Frank Deppe, Frigga Haug, Gayatri Spivak oder Michael Vester, um nur einige zu nennen – alle jene, die in diesem Buch versammelt sind. Man kann auch andere nennen. Viele fehlen, mehr Marx und Engels, Eleanor Marx-Aveling und Edward Aveling, Clara Zetkin, Lenin, Klaus Dörre, Wolfgang Abendroth, José Carlos Mariátegui, Karl-Heinz Roth, André Gorz, Loïc Wacquant, Stéphane Beaud und Michel Pialoux, Tithi Bhattacharya, Bell Hooks, aber auch Lia Becker und Bernd Riexinger und andere mehr. Der Platz im vorliegenden Buch und die Frage der Rechte für den Abdruck erzwingen eine rüde Beschränkung und Schwerpunktsetzung. Diese Theoretiker*innen wiederum inspirierten zahlreiche Klassenanalysen. Beides, die besten Theorien und die besten Untersuchungen, setzten wir also gewissermaßen voraus. Ein zumindest diskursives Versäumnis, das uns zu Beginn viel Mühe gekostet hat, denn dieses Wissen ist alles andere als verallgemeinert in der gesellschaftlichen Linken.

Denn beides, Klassentheorie und -analyse wurde an den Universitäten ausgedünnt. Es gab sie immer, aber die Verbindung empirischer, theoretischer und letztlich dann auch politischer Arbeit wurde immer seltener systematisch verfolgt. Daher funktioniert es auch nicht, einfach an die besten Arbeiten unvermittelt wieder anzuknüpfen, wie wir uns das unter dem politischen Handlungsdruck erhofften. Selbst die berühmtesten dieser Arbeiten waren auch unter politischen Profis nicht mehr bekannt, der Wissensstand zu zerklüftet, nicht aufgearbeitet, weitergetragen worden.

Wir wollen zumindest einen Teil davon mit diesem Lesebuch gebündelt verfügbar machen. Das Buch fasst einige der wichtigsten Texte marxistischer und linker Klassentheorie zusammen. Die Beiträge sind keine Einsteigertexte, obwohl das Buch auch für Einsteiger ist. Die Texte sind meist von hohem theoretischem und wissenschaftlichem Niveau und setzen vieles voraus. Ihre Aneignung ist Arbeit, nicht alles erschließt sich beim ersten Lesen. Es empfiehlt sich daher, nicht nur allein zu lesen, sich Diskussionszusammenhänge zu organisieren, Probleme beim Entschlüsseln, Übersetzen und Begreifen zu besprechen, den Zusammenhang für das eigene Erkenntnisinteresse und Praxis herzustellen. Dann eröffnet sich der Reichtum einer langen Linie kritischer Theorie.

Mit einem ähnlichen Buch, «Gramsci lesen – Einstiege in die Gefängnishefte» von Lia Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann und Anne Steckner, als Grundlage für unsere Kurse und selbstorganisierte (gegebenenfalls unter Anleitung) Seminare haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Auch wenn in diesem Band keine didaktischen Brücken als Einstieg in die Texte geboten werden, erhoffen wir uns einen ähnlichen Effekt auch diesmal wieder: einen kleinen Beitrag zur (Wieder)Aneignung des großen Fundus marxistisch inspirierter Klassentheorie als Grundlage zu ihrer Weiterentwicklung, zur Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Konflikte und Transformationen, zur Schärfung der Handlungsfähigkeit einer emanzipativen und sozialistischen Linken.

Mario Candeias, Vorwort

Das Buch ist erhältlich beim Argument Verlag:
Mario Candeias (Hrsg.):
Klassentheorie – Vom Making und Remaking
Argument Verlag 2021