Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung - Arbeit / Gewerkschaften - Partizipation / Bürgerrechte - Sozialökologischer Umbau - Gewerkschaftliche Kämpfe - Spurwechsel Mein Pronomen ist Busfahrerin

Die gemeinsame Kampagne von FFF und Ver.di im öffentlichen Nahverkehr: Beispiel für ökologische Klassenpolitik

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Buch/ Broschur

Autor*in

Autor*innenkollektiv CLIMATE.LABOUR.TURN ,

Erschienen

April 2023

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Der Telegram-Chat der Kampagne «Wir fahren zusammen», die sich für eine Verkehrswende mitsamt besseren Arbeitsbedingungen im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) einsetzt, brodelt im März 2023. Knapp 1.000 ÖPNV-Beschäftigte und Klimaaktivist*innen tauschen sich per Telegram über die lokalen sozial- ökologischen Bündnisse aus. Der 3. März 2023, der Tag des globalen Klimastreiks, ist ein erster Höhepunkt der Kampagne: Nach Monaten des Kennenlernens, gemeinsamen Aktionen und viel Planung streiken Klimaaktivist*innen und ÖPNV-Beschäftigte in Deutschland gemeinsam. Der Chat ist voll mit Berichten und Emotionen: Morgens um halb sechs schicken die Aktivist*innen aus Hannover ein Foto vom Streikposten mit Feuertonne, ver.di-Fahnen und Fridays-for-Future-Transparenten herum. Mittags grüßt das Kölner Bündnis mit einem Foto, auf dem die streikenden Kolleg*innen des ÖPNVs in quietschgelben ver.di-Westen die Klimademonstration anführen. Auch in Göttingen laufen die Kolleg*innen des ÖPNVs gemeinsam mit Klimaaktivist*innen in der ersten Reihe. Aus Leipzig kommen Berichte von der «Wir fahren zusammen»-Rede, gefolgt von einer Rede von Arbeitern des Collettivo di Fabbrica aus der Toskana. Das Kollektiv kämpft für einen ökologischen Umbau ihrer ehemaligen Automobilzuliefererfabrik und betont, die Idee des gemeinsamen Streiks für die Verkehrswende nach Italien tragen zu wollen.

Auf den globalen Klimastreik folgt am 27. März der «Megastreik» im Verkehrssektor, an dem sich abermals zahlreiche Klimagruppen beteiligen. Wieder herrschen Euphorie und Hoffnung auf das, was aus dieser Zusammenarbeit entstehen könnte. Mit einem Herz-Emoji reagieren 80 Menschen auf einen Post von einer ehemaligen ÖPNV-Kollegin, in dem sie schreibt: «Ihr wisst gar nicht, wie gut mir das grad tut! Ich habe jahrelang im Nahverkehr gearbeitet, immer geringgeschätzt, kaputtgespart ... Dass ihr heute an der Seite dieser Menschen steht, bedeutet ihnen sicher viel. Danke für euer Engagement – aber auch Kreativität. Volker – hör die Signale :).» Volker Wissing, der Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, wird in diesen Tagen von der Straße unter Druck gesetzt.

Ganz anders klingen die Äußerungen auf der Arbeitgeberseite. Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber (BDA), denunziert den gemeinsamen Streik am Morgen des 3. März öffentlich als «eine gefährliche Grenzüberschreitung ». Ver.di vermische die Streiks im Rahmen der Tarifauseinandersetzung mit allgemeinpolitischen Anliegen und begebe sich dabei auf das Terrain des politischen Streiks. Zur Freude der Aktiven der Kampagne trägt dieser Vorwurf dazu bei, dass der Schulterschluss zwischen Gewerkschaft und Klimabewegung die Nachrichtenmeldungen an diesem Tag dominiert. Für viele Bündnisaktive verdeutlicht die Reaktion der Arbeitgeberseite, wie groß offenbar das (Bedrohungs-)Potenzial ist, das in dem gemeinsamen Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen und für mehr Klimaschutz steckt.

Die Kampagne «Wir fahren zusammen» praktiziert also genau das, was in Debatten der letzten Jahre als ökologische Klassenpolitik diskutiert wurde. So schreiben zum Beispiel die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete und der Lützerath-Aktivist Momo Ende 2022: «Wenn wir proletarisch-prekär geprägte Menschen vergessen oder sie proaktiv aus unserer Politik ausschließen, da sie nicht in unseren Lifestyle passen, können wir nicht weiterkommen.» Sie sprechen sich dafür aus, «RWE und Wintershall als größte deutsche fossile Unternehmen zu enteignen, Mietpreise zu deckeln und Deutsche Wohnen zu vergesellschaften, kostenlosen ÖPNV zu fordern» (Spreter/Thurm 2022).

Auch Markus Wissen, gemeinsam mit Ulrich Brandt Autor des Buchs «Imperiale Lebensweise » (Brand/Wissen 2017), argumentiert für «Brückenschläge zwischen ökologischen, feministischen, internationalistischen Klassenkämpfen ». Beispiele sind auch für ihn insbesondere Kämpfe für eine ökologisch nachhaltige gesellschaftliche Infrastruktur, deren Demokratisierung und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen (vgl. Wissen 2020: 460). Außerdem wird vermehrt auf das Potenzial hingewiesen, das sich entfalten könnte, wenn Arbeiter*innen- und Klimabewegung zusammenarbeiten: Während die Klimabewegung durch einen «labour turn» (Pye 2017) in die Betriebe ausstrahlen und den betrieblichen Streik als Machthebel hinzugewinnen könnte, könnten Gewerkschaften durch einen «climate turn» (Kaiser 2020) bestenfalls eine zunehmende gesellschaftliche Legitimität und Mitgliederzuwachs verzeichnen. Schließlich sei die Zusammenführung der Kämpfe ohnehin unumgänglich, denn die notwendige ökologische Kehrtwende erfordere eine «globale gesellschaftliche Umgestaltung, die in einer Reihe mit den größten sozialen Revolutionen in der Menschheitsgeschichte» stehe (Foster et al. 2011: 115). Ohne massenhafte betriebliche Streiks und von einer Mehrheit der Lohnabhängigen getragene gesellschaftliche Kämpfe wird es diese Revolution nicht geben.

Im März 2023 geschieht das, wovon wir Aktivist* innen, die bereits an der Vorläuferkampagne TV-N 2020 beteiligt waren, vor drei Jahren geträumt haben. Auch damals hatten wir das Ziel, dass Klimaaktivist*innen und ÖPNV-Beschäftigte im Rahmen der Tarifkampagne TV-N 2020 gemeinsam für eine Verkehrswende kämpfen. Die vorliegende Publikation ist die zweite, aktualisierte Auflage der Broschüre, die wir im Anschluss an die damalige Kampagne veröffentlichten. In der Broschüre geht es um die strategischen Annahmen, die uns bei der Verbindung des Fachbereichs Busse und Bahnen der vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) mit Fridays for Future (FFF) leiteten, und um die (Organizing-)Methoden, mit deren Hilfe wir die Zusammenarbeit zwischen den zwei sehr unterschiedlichen Bewegungen, Organisationen und Lebenswelten praktisch gestalteten.

Die Idee der Allianz entstand in einer Situation, in der ein strategisches Vakuum die Aktivitäten von FFF Deutschland lähmte. Die Bewegung war langsam abgeflaut; ihr gelang es nicht mehr, auf weitere Teile der Gesellschaft auszustrahlen; die Parole des «System Change» war zwar in aller Munde, allerdings blieb es zumeist bei symbolischen Aktionen zivilen Ungehorsams oder großen Protesten mit Appellen an die politischen Entscheidungsträger*innen. Mit der Allianz strebten wir an, die Klimafrage in die Betriebe zu tragen, um aktiv weitere Teile der Arbeiter*innenklasse in den Kampf für Klimagerechtigkeit einzubeziehen und die Streikmacht der Betriebe als Kampfform hinzuzugewinnen. Daraus entstanden kleine Aktivenkreise, in denen über die Tarifrunde und die Verkehrswende diskutiert wurde. Die lokalen Bündnisse gestalteten sich sehr unterschiedlich, wie im Folgenden zu lesen sein wird: In manchen Städten, wie zum Beispiel in Hamburg, konnten viele Beschäftigte für das Bündnis gewonnen werden, in anderen Städten, etwa in Leipzig, waren es nur einige wenige. Doch wir alle hatten die gemeinsame Vision, eines Tages ÖPNV-Streiks und Klimastreiks miteinander zu verbinden. Dafür mussten zunächst gemeinsame Aktionsformen und eine gemeinsame Sprache entwickelt und erprobt werden.
 

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Zum Autor*innenkollektiv CLIMATE.LABOUR.TURN gehören Hannah HarhuesJulia Kaiser, Lea Knoff, Rika Müller-Vahl, Max Schwenn und Lara Zschiesche. Sie sind im Studierendenverband die LINKE.SDS der Partei DIE LINKE und bei Students for Future aktiv. Betriebliche und ökologische Kämpfe zu verbinden stellt ihrer Meinung nach die Kernaufgabe all derer dar, die für eine klimagerechte Zukunft einstehen.

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