Gegenwärtig befindet sich die deutsche Industrie in einem tiefgreifenden Umbruch. Vor dem Hintergrund des Klimawandels und dadurch bedingter – überwiegend politisch forcierter – Maßnahmen der Dekarbonisierung sehen sich die Unternehmen der (deutschen) Industriebranchen mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Produktionssysteme und Geschäftsmodelle zu transformieren. Dies gilt nicht zuletzt für die Chemieindustrie als einer der energie- und ressourcenintensivsten Industrien in Deutschland überhaupt. Dabei haben die Transformationsprozesse nicht nur technologische Implikationen, sondern wirken sich auch auf die Arbeits- und Beschäftigungssysteme sowie auf die Strategien der jeweiligen Akteure im Feld (wie Gewerkschaften und Unternehmensverbände) aus – und werden zugleich von diesen Akteur*innen aktiv mitgestaltet.
Die Untersuchung ist Teil des von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Projekts «Sozial-ökologische Transformation der deutschen Industrie», in dessen Rahmen sieben weitere Studien entstanden sind, die mit der vorliegenden Studie in Zusammenhang stehen. Hierzu gehören etwa Untersuchungen zur deutschen Auto- und Stahlindustrie sowie zu allgemeinen klimapolitischen Rahmenbedingungen oder zum EU-Emissionshandel und zu einem möglichen CO2-Grenzausgleich.
Die vorliegende Studie bündelt den gegenwärtigen Forschungsstand zur sozial-ökologischen Transformation in der deutschen Chemieindustrie. Sie beschreibt allgemeine Charakteristika der Branche (Struktur, Beschäftigtenzahl und -qualifikation), gibt einen Überblick über die Treiber und Rahmenbedingungen der sozial-ökologischen Transformation in der chemischen Industrie und arbeitet dabei heraus, dass die sozial-ökologische Transformation von weiteren Veränderungsprozessen innerhalb der Branche gerahmt und beeinflusst wird (Globalisierung, Digitalisierung sowie sich verändernde Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle). Zugleich analysiert sie die Instrumente, mit deren Hilfe die sozial-ökologische Transformation in der Chemieindustrie möglicherweise erfolgreich gestaltet werden kann bzw. soll. Ein Fokus liegt dabei auf der Beschreibung technologischer Veränderungen, infrastruktureller Voraussetzungen und damit in Verbindung stehender staatlicher Programme. Ein weiterer Fokus richtet sich auf absehbare Konsequenzen der sozial-ökologischen Transformation für quantitative und qualitative Beschäftigungseffekte und die Entwicklung von Arbeit, Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen. Schließlich wird der Blick auf die Strategien und Ziele der Verbände im Feld der Chemieindustrie vor dem Hintergrund der Transformation gerichtet. Neben den Unternehmensverbänden und Gewerkschaften wird dabei auch auf Positionen von NGOs eingegangen.
Im Ergebnis zeigt sich, dass die Dekarbonisierung von den Unternehmen der chemischen Industrie einen Umbruch sowohl der Produktionstechnologien als auch der Produkte erfordert. Der Verzicht auf Kohlenstoff als Treiber des Klimawandels setzt die Ersetzung fossiler Energieträger durch regenerativ erzeugten Strom und eine Umstellung der Rohstoffbasis auf Wasserstoff und andere regenerative Rohstoffe wie Biomasse voraus. Um die aktuellen Klimaziele zu erreichen, müssen neue Produktionstechnologien eingeführt werden, bevor sie gegenüber den konventionellen Technologien wirtschaftlich sind (plus dem Preisaufschlag des europäischen Zertifikatehandels). Zugleich zieht die damit verbundene Umrüstung der Produktion auf regenative Energien einen stark ansteigenden Strombedarf nach sich. Unverzichtbare Voraussetzungen der Transformation sind deshalb der rasche Ausbau der Produktion grünen Stroms aus klimaneutralen Quellen (wie Wind- und Sonnenkraft) und die Weiterentwicklung der Energieinfrastruktur zur Sicherstellung der Versorgung mit grünem Strom.
Fragen der Technologie und Wirtschaftlichkeit sind in der Forschung zur Dekarbonisierung der chemischen Industrie deutlich besser ausgeleuchtet als Einschätzungen zur Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitsbedingungen. Während die Beschäftigungsprognosen einigermaßen einheitlich eine leichte Absenkung des Beschäftigungsvolumens in der Branche vorhersagen, ist der Wandel von Arbeit bislang kaum scharf bestimmt. Klar scheint nur, dass für die Beschäftigten die Kompetenz für die Entwicklung und Nutzung der neuen Technologien an Bedeutung gewinnen dürfte.
Der Konsens der Forschung zur Klimawende in der Chemie ist von den Branchenverbänden der Unternehmen und der Gewerkschaft IG BCE inzwischen als Handlungsbedingung und -anforderung übernommen worden. Insbesondere der VCI hatte lange gegen politische Regulierungen votiert und erfolgreich eine Selbstverpflichtung der Unternehmen mit der deutschen Politik vereinbaren können. Der europäischen Zertifikatehandel musste zwar nolens volens hingenommen werden, doch gelang es auch hier längere Zeit, durch üppige Ausstattung mit Zertifikaten wirtschaftlichen Druck von den Unternehmen fernzuhalten. Nach dem Pariser Klimaschutzabkommen und den daran anschließenden nationalen Verpflichtungen zur Klimareduzierung hingegen war der Weg der Vermeidung von politischen Regulierungen nicht mehr gangbar. Anknüpfend an die Roadmap-Studie schlug der Verband eine Strategie mit neuer inhaltlicher Ausrichtung ein. Nicht mehr die Vermeidung politischer Klimaregulierungen, sondern die Umsetzung der politischen Ziele unter Beibehaltung einer wettbewerbsfähigen Industrie stand nun im Zentrum des Verbandshandelns. Der Verband fordert seitdem von der Politik, die Bedingungen der Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen, die sich aus der Studie ableiten ließen. Daraus stechen vor allem drei Bedingungen hervor: ein niedriger Strompreis; eine sichere Versorgung mit ausreichenden Mengen grünen Stroms; und die finanzielle Unterstützung der Entwicklung und Markteinführung klimaneutraler Technologien vor dem Zeitpunkt ihrer Wirtschaftlichkeit. Nur unter diesen Bedingungen lässt sich aus Sicht des Verbandes eine wettbewerbsfähige Transformation organisieren; ohne sie droht die Verlagerung von Produktionskapazitäten, das Carbon Leakage.
Auch die Gewerkschaft IG BCE schloss sich dieser Sichtweise an. Hier waren es die Erfahrungen bei der Ausarbeitung des Ausstiegs aus Kohleförderung und -verstromung in der Kohlekommission, die einen Wandel der Einschätzungen nach sich zog. Mit dem Kohlekompromiss und den vielfältigen arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Fördermaßnahmen war eine neue Art von Industriepolitik verbunden, die von nun an zum Leitbild für die Gewerkschaft wurde. Die Gewerkschaft unterstützt seitdem wie der VCI die Ziele der Dekarbonisierung und versucht Druck auf die zügige Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen auszuüben. Auf dieser Grundlage haben die Verbände einige gemeinsame Initiativen gestartet. Dabei setzt die IG BCE allerdings ihren eigenen Akzent mit weiteren Schwerpunkten. Dazu zählen zum einen die Förderung der Qualifizierung und die Umsetzung einer Qualifizierungsinitiative, und zum anderen der Ausbau der Mitbestimmung durch Erweiterungen der betrieblichen Mitbestimmung bei der Technikeinführung und der Einführung eines Schlichtungsverfahrens für die Unternehmensmitbestimmung im Aufsichtsrat.
Die Umweltverbände schließlich befanden sich lange in Frontstellung zum VCI. Sie übten Kritik an der Abwehr politischer Regulierungen und schärferer Preisbildungen im ETS und forderten ihrerseits einen deutlich strengeren Kurs der Klimapolitik. Auch das Verhältnis der Umweltverbände zur IG BCE war nicht ungetrübt; dies lag vor allem am Festhalten der Gewerkschaft an der Kohleförderung. Die Umweltverbände forderten lange vor der Kohlekommission einen Ausstieg aus der Kohle, die IG BCE stand wegen der Beschäftigungsinteressen ihrer Mitglieder aus dem Bereich zur Kohleförderung. Mit dem Kohlekompromiss und dann mit dem Umschwenken der Branchenverbände auf den Dekarbonisierungskurs änderten sich jedoch die Vorzeichen. Die Umweltverbände nahmen die Einladung des VCI zu den neuen Dialogformaten an. Die Frontstellung wich einem sachlichen und zugleich kritischen Diskurs.
Offene politische Fragen der Transformation beziehen sich auf die finanzielle Unterstützung der Transformation durch Politik und Gesellschaft und mögliche Verpflichtungen der Unternehmen beispielsweise zur Beschäftigungssicherung, auf den zukünftigen politischen Einfluss der öffentlichen Hand, aber auch auf die von der IG BCE geforderte Ausweitung der Mitbestimmung in der Gestaltung von Transformationsprozessen. In diesen Fragen geht es vor allem darum, ob die Unternehmen nicht ihrerseits Gegenleistungen erbringen sollten für die finanzielle Unterstützung bei der Finanzierung der Transformation, die ohne Zweifel in erheblichem Umfang erforderlich werden wird.
Die Autoren
Thomas Haipeter ist Soziologe und arbeitet am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Arbeitsbeziehungen und Arbeitsregulierung. In diesem Rahmen beschäftigt er sich aktuell mit Themen der transnationalen Arbeitsregulierung, der Digitalisierung von Arbeit und dem Wandel des Kapitalismus.
Alexander Bendel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am IAQ der Universität Duisburg-Essen. Er ist studierter Sozialwissenschaftler und arbeitet unter anderem zu Fragen der Digitalisierung und Dekarbonisierung der Arbeitswelt. In seinem derzeitigen Promotionsvorhaben beschäftigt er sich zudem mit Entgelten und Entgeltordnungen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung