Publikation HKWM eingreifende Sozialforschung

Ausdrückliches Ziel der empirischen Forschung ist es, ihre >Objekte< als lernende Subjekte, die ihr Leben selbst gestalten, in die Forschung einzubeziehen.

Information

Reihe

HKWM

Autorin

Frigga Haug,

Erschienen

April 2022

Zugehörige Dateien

Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden. 

Weitere Informationen über das Projekt und andere übersetzte Lexikon-Einträge finden sich in unserem HKWM-Dossier.

A: baht igtima'i tadahhuli. - E: interventive social research. - F: recherche sociale intervenante. - R: rešajuščee social’noe issledovanie. - S : investigación social de intervención. - C: jieru de shehui diaocha 介入的社会调查

Sozialforschung ist gewöhnlich so konzipiert, dass die Forschenden das zu Erforschende nicht durch ihr Dazwischentreten verändern sollen. Für den ›Fehler‹, der dennoch durch die bloße Anwesenheit ›Dritter‹ im Untersuchungsraum auftreten kann, wurde der Begriff ›bias‹ verwendet, den bereits John Locke zur Bezeichnung interessenbedingter Verzerrungen der Erkenntnis gebraucht (»men, being biased by their interest«, An essay concerning the true original extent and end of civil government, Ch. IX, §124). Kritisch wird gefordert, dass die Feldveränderung zumindest reflektiert wird. Dagegen besteht für eine Reihe von Untersuchungen, die sozialen Bewegungen verpflichtet sind, das Ziel empirischer Forschung ausdrücklich darin, das Untersuchungsfeld selbst zu verändern und ihre »Objekte« als lernende und ihr Leben gestaltende Subjekte in die Forschung mit einzubeziehen. Diese Sozialforschung kann – in Anlehnung an Brechts eingreifendes Denken – eS genannt werden.

Der Sache nach ist Marx mit seiner Arbeiterumfrage der erste, eS betreibt. Da es in Frankreich, anders als in England, keine Fabrikinspektoren und daher auch keine Berichte über die Arbeitsbedingungen in den Fabriken gab, versuchte er diese in einer eigenen Umfrage zu erkunden. Dabei änderte er die vorhandenen empirischen Verfahren in drei entscheidenden Punkten: eine genaue Kenntnis der Arbeitsbedingungen sollte erreicht werden, was Fragen der Organisierung der Arbeiter ebenso einschloss wie solche nach Widerstand; die Arbeiter sollten die Dokumentierung übernehmen, so dass nicht »Experten« die Erhebung machten, sondern die Arbeiter sich selbst durch die Artikulation ihrer Erfahrungen und die Erforschung ihrer Bedingungen (etwa Licht und Luft am Arbeitsplatz) zu Experten qualifizierten; schließlich war die Umfrage so angelegt, dass in umfassender und forschender Selbstdokumentation ein Bewusstsein über die eigene Lage entstehen konnte – damit hatte die Fragebogenaktion selbst aufklärende Funktion. Die hier schon praktizierten Formen der Erhebung wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jh. als gesellschaftskritische empirische Sozialforschung ausgebaut. Diskutiert wurden in diesem Zusammenhang die Fragen von Subjekt und Objekt in der Forschung, die Zweifel an der Rolle der Experten und schließlich die Kritik an den Leitbegriffen Objektivität und Wertfreiheit.

Antonio Gramsci hat selbst keine eS betrieben, doch lassen sich aus seiner Philosophie der Praxis Leitlinien für eine kritische Empirie des Alltagslebens gewinnen. »Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein ›Erkenne dich selbst‹ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in dir selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, ein ohne Vorbehalt angenommenes Nachlassverzeichnis. Ein solches Verzeichnis gilt es zu Anfang zu erstellen.« (Ge/6, H. 11, §12, 1376). Dafür braucht es ein gemeinsames Projekt, das auf die Gestaltung der Lebensbedingungen gerichtet ist und ohne das die Einzelnen sich als machtlos in undurchschaubare Strukturen geworfen erfahren. Die »organischen Intellektuellen«, die den Weg bereiten, dass jede(r) ein(e) Intellektuelle(r) sein kann, haben die Aufgabe, »eine bereits bestehende Aktivität zu erneuern und ›kritisch‹ werden zu lassen« (1382). Gramsci orientiert Forschung damit nicht nur auf die Anbindung an ein Befreiungsprojekt; zugleich treten die Alltagsmenschen hier selbst als Subjekte in den Forschungsprozess ein, und die Stellung der Wissenschaftler verschiebt sich zu katalytisch unterstützenden (»organischen«) Intellektuellen, die ihre Analysewerkzeuge zur Verfügung stellen.

Henri Lefebvre versteht das Marx-Engelssche Projekt in DI als Anleitung, Alltagsleben zu erforschen, die in ihm schlummernden und verkehrten Kräfte aufzudecken, die Kritik als revolutionäre Potenz zu nutzen. »So führt die Kritik des Alltagslebens zur Kritik des politischen Lebens, weil das Alltagsleben diese Kritik bereits enthält und ausbildet: es ist nämlich diese Kritik.« (1946, 100) Von den Praxen der Menschen her werden herkömmliche Theoriegebäude als Ideologien, Spekulationen entzifferbar. Lefebvre orientiert auf eine Wissenschaft, die für die vergesellschafteten Menschen brauchbar ist, Politik im Alltag ermöglicht und zur Grundlage hat. Er betreibt ideologiekritische Medienanalyse, studiert Filme und Theaterstücke, untersucht veränderte technische Bedingungen in den Haushalten und im Freizeitverhalten u.v.a.m. Seine Analysen führen ihn jedoch nicht dahin, die alltäglichen Menschen selbst in den Forschungsrahmen mit einzubeziehen. – Ebensowenig geschieht dies in der berühmten Marienthal-Studie (Jahoda u.a. 1933), wenngleich auch sie befreiungstheoretisch konzipiert ist – es ging um mögliches revolutionäres Bewusstsein bei den Arbeitern. – Gleiches gilt für C.Wright Mills (1959), der versuchte, empirische Sozialforschung vom Standpunkt der Arbeitenden zu betreiben und an den Klassenkämpfen zu orientieren. Auch er sah keine Forschungsanordnung vor, die diejenigen, für die Forschung geschah, zu deren Akteuren machte.

Einige Dimensionen von eS wurden dagegen in der Aktionsforschung aufgenommen. Der Begriff stammt von Kurt Lewin, der »Tat-Forschung« 1946 als eine Form vorschlug, in der Forscher im untersuchten Feld beteiligt sind und soziales Handeln verändern. »Sie ist eine Art Tat-Forschung (›action research‹), eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln führende Forschung« (1953, 280). Der Impuls wurde weitergeführt im Michigan Research Center for Group Dynamics (vgl. Cartwright/Zander 1960) und im Tavistock-Institut in London (vgl. Rapoport 1972), wo jeweils Forschung mit Sozialberatung verbunden wurde. Während diese Forschungen mit der Problematik von Wertneutralität in interessenbesetzten Bereichen rangen, organisierte sich in Italien in den 1960er Jahren mitmachende Forschung innerhalb der Arbeiterbewegung, conricerca, im Umkreis der Zeitschrift Quaderni Rossi. Deren Theoretiker suchten empirische Forschung und Analyse als organische Intellektuelle in der Bewegung zu betreiben, um die Arbeiterschaft auf Basis der konkreten Erfahrungen von Arbeitskonflikten im Betrieb handlungsfähiger zu machen. Implizite Verbindungslinien gibt es zu Oskar Negts Konzeption des »exemplarischen Lernens«.

Zu Kernpunkten von Aktionsforschung wurden in den 1970er Jahren die Einbeziehung der Erforschten in den Forschungsprozess und die Bindung von Erkenntnis an Veränderung für Unterdrückte und sozial Benachteiligte. Die kaum explizierte Verknüpfung von Empirie mit Befreiungstheorie wurde unter der Fragestellung diskutiert, ob die Politisierung von Sozialforschung wissenschaftlich legitimierbar sei. Weitergetrieben und angewandt wurde Aktionsforschung insbes. in der Pädagogik.

Die Grabe-wo-Du-Stehst-Bewegung, die Ende der 1970er Jahre in Schweden aufkam, ist eine Form von eS, insofern sie die Arbeitenden ermutigt, ihre eigene Geschichte im Zusammenwirken mit Wissenschaftlern zu erforschen, um sich als Mittelpunkt von Gesellschaft zu erfahren und »die ökonomische Demokratie« zu erobern (Lindqvist 1989, 282ff). Das Buch gleichen Titels enthält Ratschläge für Detailforschungen und überraschende Fragen in 30 Bereichen des Lebens von arbeitenden Menschen. Es initiierte eine Bewegung, die etwa 10 Jahre nach Erscheinen 50000 aktive Teilnehmer umfasste, 600 örtliche Museen der Arbeit begründete und ca. 500 Bücher mit Forschungsergebnissen verfasste (293). In anderer Form wurde eine solche Arbeit in den Geschichtswerkstätten weitergeführt.

Erinnerungsarbeit (Haug 1990) versteht sich ebenfalls als eS. Die Einzelnen als Expertinnen ihrer Geschichte erarbeiten hier kollektiv die Wege, die sie in ihrer Vergesellschaftung gegangen sind, spüren Möglichkeiten auf, die sie ausschlugen, und versuchen sich in einer Weise kohärent zu arbeiten, die Veränderung der Lebensbedingungen und Selbstveränderung als wechselseitigen Prozess ermöglicht.

ES ist in allen Fällen ein Befreiungsprojekt; sie verbündet sich mit den Unterdrückten und Subalternen und versucht, Wissenschaft so nutzbar zu machen, dass sie zum kollektiven Erwerb von Kompetenzen anstiftet.

Bibliographie: R.Alquati, Klassenanalyse als Klassenkampf. Arbeiteruntersuchungen bei Fiat und Olivetti, hgg. u. eingel. v. W.Rieland, Frankfurt/M 1974; D.Cartwright u. A.Zander (Hg.), Group Dynamics. Research and Theory, New York 1960; F.Haug, Erinnerungsarbeit, Berlin-Hamburg 1990; M.Jahoda u.a., Die Arbeitslosen von Marienthal (1933), m. e. Vorw. v. P.Lazarsfeld, Frankfurt/M 1975; H.Lefebvre, Kritik des Alltagslebens (1946, 1962), 3 Bde., Kronberg 1977; K.Lewin, Die Lösung sozialer Konflikte (1946), Bad Nauheim 1953; S.Lindqvist, Grabe wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, Bonn 1989; C.W.Mills, Kritik der soziologischen Denkweise, Neuwied 1963 (The Sociological Imagination, Oxford 1959); O.Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung, Frankfun/M 1976; R.N.Rapoport, »Drei Probleme der Aktionsforschung. Unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am Tavistock-Institut«, in: Gruppendynamik, 3. Jg., 1972, H. 1,45ff.

Frigga Haug

→ Alltagsforschung, Arbeiterumfrage, Befreiung, eingreifendes Denken, Empirie/Theorie, Erfahrung, Erinnerung, Erinnerungsarbeit, Erkenntnis, exemplarisches Lernen, Ideologiekritik, Kritik, Methode, organische Intellektuelle, Standpunkt und Perspektive, Parteilichkeit, Philosophie der Praxis, Verallgemeinerung