Publikation Gegen den Strom. Die Sozialisten und der Krieg 1870/71

Von Erhard Korn, stellvertr. Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg

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Nicht nur Rosa Luxemburg fühlte sich bei Beginn des Weltkriegs 1914 an die Stimmung bei Beginn des Krieges gegen das bonapartistische Frankreich 1870 erinnert. Wilhelm Liebknecht schildert sie als einen Orkan menschlicher Leidenschaft, der alles beugt, niederwirft, zerbricht, als Orgie des Chauvinismus, die weiteste Volkskreise auf lange Zeit für ernstes, ruhiges Nachdenken unfähig machte. Die sozialistischen Gegner des Militarismus hätten sich gefühlt wie zwischen herumlaufenden eisernen Rädern, als verschwindende Minderheit, die im Volk keinen sicheren Stützpunkt mehr hat und gegen den Strom schwimmen musste. (Liebknecht 1894: 8) Und doch war die Beibehaltung ihrer Grundsätze Voraussetzung für ihren späteren Erfolg, so der Parteisekretär Ignaz Auer 20 Jahre später (Auer 1895: 4).

Bonapartismus und Krieg

Luis Bonaparte versprach nach der Niederlage der Revolution von 1848 Ruhe und Ordnung sowie eine Wiedererrichtung der »grande nation et l’arbitre de l’Europe«, eines Kaiserreichs als Schiedsrichter und Dominanzmacht in Europa, wie es sein Onkel Napoleon I. 1797 formuliert hatte. Die Versuche, Herrschaftsstruktur und Motive der Putinschen Kriegsführung in der Ukraine zu verstehen (siehe hierzu bereits frühere Versuche bei Jaitner 2014 und 2018), lenken heute erneut die Aufmerksamkeit auch auf das Herrschaftssystem Luis Bonapartes, der 1848 auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts zum Präsidenten gewählt wurde, dann alle Machtposten in Besitz nahm, am »18. Brumaire« 1851 das Parlament entmachten und sich dann zum Kaiser Napoleon III. krönen ließ.

Sein Regime, so Friedrich Engels, »war der Appell an den französischen Chauvinismus, das war die Rückforderung der 1814 verlornen Grenzen des ersten Kaiserreichs […]. Daher die Notwendigkeit zeitweiliger Kriege und Grenzerweiterungen.« (Engels 1891: 191)
Karl Marx hatte die Herausbildung dieses autoritären Systems analysiert, die Personalisierung der Herrschaft und ihre Legitimierung durch Plebiszite und allgemeines Wahlrecht ebenso wie die Erhebung der Staatsmacht über die Klassen der Gesellschaft (Marx 1852: 111ff.). Bonapartes Position beruhte auf der wirtschaftlichen Stabilisierung Frankreichs und seinen außenpolitischen Erfolgen, etwa der Annexion Vietnams, dem Krimkrieg und dem Gewinn Nizzas. Nach außenpolitischen Pleiten wie dem Scheitern der Einsetzung eines Satellitenkaisers in Mexiko und einer Wirtschaftskrise 1866 machte das Volk aus der Propagandaparole »L’empire c’est la paix« allerdings ein »L’empire c’est la baisse«. Bonapartes Popularität schwand und er geriet in Zugzwang.

Hurra, Germania!

Für den Gegenspieler Otto von Bismarck sollte den Siegen Preußens in den deutschen »Einigungskriegen« und der Errichtung des deutschen Kaiserreichs die Dominanz über Europa folgen. Bismarck habe, wie Kronprinz Friedrich festhielt, »schon bei Übernahme seines Amtes den festen Vorsatz gehabt, Preußen zum Krieg gegen Österreich zu bringen.« (Auer 1895: 12) Für den unpopulären Krieg Preußens gegen den »Deutschen Bund« um die Annexion Schleswig-Holsteins und die Vorherrschaft in Deutschland 1866 musste Bismarck kräftig »öffentliche Meinung machen«.

In der Wahl eines Hohenzollernprinzen zum spanischen König und der damit verbundenen Befürchtung einer Einkreisung sah Bonaparte in der Emser Depesche trotz Rückzug des Hohenzollernprinzen die Legitimierung zur Kriegserklärung. Bonaparte allerdings überschätze die militärischen Überlegenheit Frankreichs und unterschätzte den »nationalen Sinn« in Deutschland, so Bismarck, der die Chance sah, durch den »gemeinsamen nationalen Krieg gegen den seit Jahrhunderten aggressiven Nachbarn« die deutschen Teilstaaten zusammenzufügen. Die Kriegserklärung durch den »Erbfeind« Frankreich produzierte die von ihm erwarteten patriotischen Aufwallungen, »vergleichbar einem Strome, der die Schleußen bricht«, wie Bismarck in seinen Erinnerungen bemerkte (Bismarck 1995: 350). Die »öffentliche Meinung« propagierte einen Krieg gegen das französische Volk, das der Verwilderung verfallen ist«, im Namen der Menschheit, um französische Frivolität und Barbarei zu besiegen und betonte die Überlegenheit der Deutschen im »großen und ernsten Geisteskampf des Germanismus mit dem Romanismus «. (Koch 1978: 78) Die Erregung war so groß, dass in mehreren süddeutschen Staaten Vertreter der Neutralität verprügelt und fast gelyncht worden wären, auch Liebknecht und August Liebknecht wurden bedroht und mussten geschützt werden.

Der französischen Armee dagegen fehlten zunächst Begeisterung und Motivation für diesen Krieg, Organisationsmängel förderten eine Demoralisierung. Als sich im Herbst nach der Gefangennahme Bonapartes eine republikanische Regierung der nationalen Verteidigung gegen die immer brutalere Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung bildete, reichte die Kraft nicht mehr. Nur noch Paris konnte sich behaupten und wurde schließlich von der eigenen Regierung blutig niedergeworfen. 50.000 toten Soldaten auf deutscher Seite standen 150.000 auf französischer gegenüber. Über 300.000 zivile Opfer des Krieges, Zerstörungen von Städten und Dörfern, Annexionen, Vertreibungen und Reparationen prägten nun das französische Deutschlandbild.

In der Thronrede des preußischen Königs war zunächst von der Verteidigung »unserer Freiheit gegen die Gewalttat fremder Eroberer« die Rede, Deutschland verfolge »kein anderes Ziel, als den Frieden Europas dauernd zu sichern« (zitiert nach Bebel 1911: 182) Nach dem Sieg bei Sedan aber wurde der Anschluss von Elsass-Lothringen mit den Festungen Straßburg und Metz als Basen eines künftigen Aufmarschs zum zentralen Ziel der Weiterführung des Krieges. Über die populäre Begründung als »Pangermanismus« machte sich Marx lustig mit den Worten: »Dass die Lothringer und Elsässer die Segnungen der deutschen Regierung wünschen, wagt selbst der enragierteste Teutone nicht zu behaupten.« Wer sich nicht vom Geschrei des Augenblicks übertäuben lasse, müsse sehen, dass die Eroberungspolitik den Krieg gegen Russland im Schoße trage, ein ehrenvoller Friede mit Frankreich dagegen könne dem westlichen Kontinent friedlichen Entwicklung erlauben. (Marx 1870b: 269)

Die Sozialdemokratie und der Krieg

»Hurra, du stolzes, schönes Weib, Hurra Germania!« jubelte Ferdinand Freiligrath, früherer Mitarbeiter der Neuen Rheinischen Zeitung. Auch die konkurrierenden sozialdemokratischen Parteien gerieten in den Sog des nationalen Taumels. »Der Krieg ist erklärt! Luis Napoleon Bonaparte überfällt» Deutschland mit seiner stehenden Armee, ohne jeden triftigen Grund zum Kriege. Jeder Deutsche, der sich dem Friedensbrecher entgegenwirft, der kämpft nicht nur fürs Vaterland, der kämpft gegen den Hauptfeind der Ideen der Zukunft, für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.« So der (lassaleanische) »Social-Demokrat« am 17. Juli 1870, und am 20. Juli: »Jeder Deutsche […] ist ein Verräter, der jetzt nicht zu seinem Volke steht.« Entsprechend stimmten die drei lassaleanischen Abgeordneten im Norddeutschen Reichstag für die Kriegsanleihe.

Wilhelm Liebknecht betonte im »Volksstaat« der 1869 gegründeten SDAP vom 20. Juli 1870 die Rolle des Rechtspopulisten Bonaparte »als Eckstein des reaktionären Europa«: »Siegt Bonaparte, so ist mit der französischen die europäische Demokratie besiegt. […] Unser Interesse erheischt die Vernichtung Bonapartes.« Bebel dagegen sah eher eine Falle Bismarcks, in die Bonaparte getappt sei. (Bebel 1911: 177)

Der Parteiausschuss der SDAP in Braunschweig unterstützte am 24. Juli den deutschen »Verteidigungskrieg«. Man hoffe, »dass Begeisterung und Mut unsere deutschen Brüder bald zum Siege in Frankreich […] gegen die Söldnerscharen des französischen Kaisers« führen. Mit den Worten »Es lebe Deutschland! Es lebe der Internationale Kampf des Proletariats!« endete der Aufruf (Auer 1895: 4).

Liebknecht warf dem eigenen Parteivorstand daraufhin »patriotischen Dusel« vor und drohte mit Auswanderung. Da im Hintergrund der Konflikt schwelte, ob in Spanien ein Prinz aus einer Nebenlinie der Hohenzollern König werden sollte, sah Bebel einen dynastischen Krieg um die Vorherrschaft in Europa. Entsprechend formulierte er die Stellungnahme im Reichstag zu den Mitteln für die Kriegsführung. Preußen habe den Krieg seit 1866 vorbereitet, daher könne man die Mittel nicht bewilligen, sich aber auch nicht dagegen aussprechen, »denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefasst werden. Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozial-Republikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation […] können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung.« (Bebel 1911: 179)

Erst zwei Jahre später konnten Bebel und Liebknecht nachweisen, dass »Bismarck den Krieg von langer Hand vorbereitet«, durch die »gefälschte« Emser Depesche provoziert und das Volk »betrogen und hintergangen« hat. (Liebknecht 1893: 5) Bebel betonte später, er hätte gegen die Kriegskredite gestimmt, wenn er dies gewusst hätte. Das Abstimmungsverhalten brachte den Sozialdemokraten jahrzehntelange Angriffe ein. Trotz der prinzipiellen Gegnerschaft zu Bonaparte, der ja den deutschen Nationalisten im Grunde nahestand, galt es als Beweis, dass die Sozialisten Deutschland an Frankreich ausliefern wollten. (Auer 1895: 4)

Die erste Internationale

Marx und Engels, die um Rat gefragt wurden, neigten eher der Auffassung des Braunschweiger Ausschusses zu; in einer Situation, wo es »um die nationale Existenz« gehe, könne man nicht totale Abstention (Enthaltsamkeit) predigen, so Engels in einem Brief an Marx vom 15. August 1870 (MEW 33: 39ff). Engels betonte die positiven Seiten der deutschen Einigung und stimmte
Ludwig Kugelmann zu, der darin die Möglichkeit sah, sich auf nationaler Ebene zu organisieren (zitiert in MEW 33: 716, Anm. 46) Daher vertrat Engels die Position, die deutschen Sozialisten sollten sich »der nationalen Bewegung anschließen, soweit und solange sie sich auf Verteidigung Deutschlands beschränkt« und auf einen ehrenvollen Frieden mit der erwarteten republikanischen Regierung hinwirken. (MEW 33, 39)

Auch in der »Ersten Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg«, die Liebknecht am 7. August 1870 veröffentlichte, betonte Marx, dass Deutschland einen Verteidigungskrieg führe, Bismarck Deutschland durch seine Politik in den Zwang gebracht habe, sich verteidigen zu müssen. Wenn er allerdings seinen streng defensiven Charakter aufgebe »und in einen Krieg gegen das französische Volk ausarte, so wird Sieg oder Niederlage gleich unheilvoll« (Marx 1870a: 6).

Bebel bewirkte schließlich, dass ein öffentlicher Zwist vermieden wurde (Bebel 1911: 180f.). Der Wandel des Krieges vom Verteidigungs- zum Eroberungskrieg konnte die Fraktionen schließlich zusammenführen. Die Partei rief im September zu Kundgebungen gegen die Annexion von Elsass-Lothringen auf und forderte einen »billigen« (fairen) Frieden mit der Französischen Republik. Daraufhin ließ der norddeutsche Generalgouverneur von Falkenstein am 9. September 1870 die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses in Ketten und in die Festungshaft transportieren und die Parteizeitung »Volksstaat« ebenso verbieten wie die öffentliche Diskussion der Annexionspläne. (Ebd.: 193)

Am gleichen Tag veröffentlichte die Internationale ihre »Zweite Adresse über den Deutsch-Französischen Krieg«, beklagte die Bombardierung von Straßburg, die Tötung vieler Zivilisten und wies den Anspruch zurück, die frühere Zugehörigkeit zum deutschen Reich mache das Elsass zum »unverjährbaren deutschen Eigentum«, das nun konfisziert werden müsse (Marx 1870c: 272). Marx bezeichnet die Wiederbelebung der Politik der Eroberungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts als Verbrechen. Die deutsche Arbeiterklasse habe den Krieg nicht verhindern können und unterstütze ihn als Krieg für Deutschlands Unabhängigkeit, doch nun trieben die Eroberungen Frankreich in die Arme Russlands. Bliebe die Arbeiterklasse passiv, werde »der jetzige furchtbare Krieg nur der Vorläufer noch furchtbarerer internationaler Kämpfe sein«. (Ebd.: 287)

Am 17. März 1871 zog Wilhelm als siegreicher Kaiser durch das Brandenburger Tor und am 18. März erhob sich die Pariser Arbeiterklasse zur »Kommune«, zu deren gemeinsamen Abschlachten die siegreiche und die besiegte Armee verbündeten, so Marx nach ihrer Niederlage in der dritten Adresse des Generalrats, bekannt als »Der Bürgerkrieg in Frankreich«: »Der höchste heroische Aufschwung, dessen die alte Gesellschaft noch fähig war, ist der Nationalkrieg, und dieser erweist sich jetzt als reiner Regierungsschwindel.« (Marx 1871: 361)

Der Sozialistenkongress von 1907

1889 hatte sich zum 100. Jahrestag der Französischen Revolution die Internationale neu begründet, allerdings als Vereinigung autonomer Landesparteien, denen die internationalen Kongresse nur Richtlinien geben sollten. Dem Kongress 1907 in Stuttgart legte Bebel eine Resolution vor, die die Ursachen von Kriegen im imperialistischen Konkurrenzkampf darstellte und die Sozialisten verpflichtete, sich für die Verhinderung von Kriegen sowie die rasche Beendigung ausgebrochener Kriege einzusetzen.
Die Linke in der Internationale, vor allem Luxemburg und Lenin, schlugen einen Zusatz vor, der revolutionäre Aktionen für den Kriegsfall vorsahen, von Bebel allerdings mit Hinweis auf ein drohendes Parteiverbot abgelehnt wurde. Er akzeptierte schließlich eine Kompromissformulierung, die dann einstimmig angenommen wurde: »Der Kongress betrachtet es deshalb als Pflicht der arbeitenden Klasse und insbesondere ihrer Vertreter in den Parlamenten, unter Kennzeichnung des Klassencharakters der bürgerlichen Gesellschaft und der Triebfeder für die Aufrechterhaltung der nationalen Gegensätze, mit allen Kräften die Rüstungen zu Wasser und zu Lande zu bekämpfen und die Mittel hierfür zu verweigern. […] Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.«

Hervorgehoben werden dann auf Vorschlag von Jean Jaurès Aktivitäten der Parteien zur Kooperation bei Kriegsgefahr, besonders das Eingreifen der schwedischen Arbeiterbewegung gegen einen Krieg gegen Norwegen, das 1905 die Union mit Schweden unter einem König gelöst hatte. Der schwedische König, verbunden mit Kaiser Wilhelm, der den »germanischen Brüdern« seine Marine zur Niederwerfung des »norwegischen Staatsstreichs« anbot, wollte dies keineswegs akzeptieren, die Spannungen nahmen zu, die Armeen wurden mobilisiert. Doch die schwedischen Sozialdemokraten um Hjalmar Branting mobilisierten unter dem Slogan »Hände weg von Norwegen, König!« eine Kampagne, riefen zum Generalstreik auf und gewannen die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit. So konnte nicht nur der Krieg verhindert, ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Brudervölkern erhalten, sondern auch die Sozialdemokratie gestärkt werden (siehe hier Reinert 2005).

Die schiefe Bahn

Aus der Perspektive von 1915 konstatiert Rosa Luxemburg, dass Bismarcks »Vermächtnis«, die Annexion von Elsass-Lothringen, der erste Scheit zum Weltbrand wurde, da es Europa »auf die abschüssige Bahn« des militärischen Wettrüstens gestoßen und das Bündnis Frankreichs mit Russland zur Folge gehabt habe. Dies hätte wiederum den russischen Zarismus als Machtfaktor der europäischen Politik gestärkt (siehe Luxemburg 2016: 74ff.). Zudem habe es zum Bündnis Deutschlands mit Österreich und damit zur Rückendeckung für die österreichische Kriegserklärung an Serbien nach dem Attentat in Sarajewo geführt, dem direkten Beginn des Weltkriegs.

Die deutsche »Weltpolitik« mit dem »Flottenkult« habe das Reich zudem in scharfen Gegensatz zu England gebracht, das nun davon ausging, dass Deutschland, ausgehend von einer Diktatur über Kontinentaleuropa, die maritime Vorherrschaft Englands in Frage stelle und es auf eine Weltherrschaft abgesehen habe. Die Zunahme der Spannungen wurde begleitet von einer mehr oder weniger gelenkten »Erregung der öffentlichen Meinung«, durch nationalistische Lobbyverbände und die neu entstandene Massenpresse, die zunehmend auch die Arbeiterbewegung beeinflusste.

»Aber wenn es gegen den russischen Zarismus als Feind aller Kultur und aller Unterdrückten geht, werde selbst ich als alter Knabe noch die Flinte auf den Buckel nehmen.« Diese Worte August Bebels vom Essener Parteitag 1907 gerieten zu einer Art Parteiüberlieferung, die Bebel noch mit der Kommentierung verstärkte, es »wäre doch sehr traurig, wenn wir heute noch nicht sollten beurteilen können, ob es sich im einzelnen Fall um einen Angriffskrieg handelt oder nicht.« Mit diesen Worten unterstützte er eine damals sehr kritisch diskutierte Reichstagsrede Gustav Noskes, der die Bedeutung von Wehrhaftigkeit und Selbstverteidigung betont hatte.

Franz Mehring kritisierte Bebels Auftreten massiv: Schon 1870 sei diese Unterscheidung nicht möglich gewesen, der Krieg sei sowohl von der bonapartistischen Dezemberbande wie vom borussischen Junkertum geschürt worden. Mehring verwies auf das Herangehen des Generalrats (und damit von Marx) aus dem Jahr 1870, die Stellungnahme zu bestimmen »nach den Interessen des proletarischen Emanzipationskampfs«, den eigenen Interessen der Massen, »nicht der herrschenden Klassen«. Dies hieß 1870 zunächst Deutschland und seine Einigung gegen den rechtsautoritären Bonaparte zu unterstützen, dessen Sturz gleichermaßen im Interesse der französischen wie der deutschen Arbeiter gelegen habe, und nach Errichtung der Republik, die der demokratischen Entwicklung Raum gebe, einen fairen Frieden einzufordern. (Mehring 1907/1980: 116, 132) Hieß das im Kriegsfall dann aber, sich zunächst gegen den reaktionären Zarismus zu wenden, einen Verteidigungskrieg zu unterstützen, um das Land nicht zur Beute der Kosaken, zum Opfer russischer Bestialitäten und die Sozialisten zu Gefangenen in russischen Kerkern werden zu lassen, wie es 1914 in der sozialdemokratischen Presse hieß?

Ein letztes Mal bekannte sich die Sozialdemokratie 1907 zu ihren Prinzipien, obwohl sie bei den »Hottentottenwahlen« im Januar in einer chauvinistisch aufgeladenen Atmosphäre fast die Hälfte ihrer Mandate verlor. »Die Sozialdemokratie ist die einzige wirkliche Friedenspartei«, stand im Wahlaufruf. Und schon 1913 erfolgte erstmals die Zustimmung zur erneuten Verstärkung der Reichswehr um 130.000 Soldaten und zum Wehrbeitrag, da er an eine Vermögenssteuer gekoppelt und daher von der Parteirechten als Einstieg in die Umsetzung des sozialdemokratischen Steuerprogramms dargestellt wurde. Der Parteitag in Jena 1913 billigte diese Zustimmung und zeigte schon die Konturen der späteren Spaltung.

Für Rosa Luxemburg aber begab sich die Partei durch den »Bruch mit unserem bisherigen Prinzip« auf eine schiefe Ebene, auf der es keinen Halt mehr gibt. Unter Rückgriff auf die Diskussionen von 1870 und 1907 betonte sie, dass es angesichts der heutigen imperialistischen Weltpolitik der Großmächte »überhaupt keine nationalen Verteidigungskriege mehr geben« könne. Dieser imperialistischen Politik mit ihren Wechselwirkungen könne sich kein Staat entziehen, und das System der Bündnisse bewirke, dass immer mehr Länder in die Auseinandersetzungen einbezogen würden. So sei Serbien zwar Opfer eines Angriffskriegs durch die Großmacht Österreich, aber hinter dem serbischen Nationalismus stehe der russische Imperialismus und damit sei die Kriegserklärung an Serbien nur Glied in der Kette von Konflikten, die in den Weltkrieg geführt hätte. (Luxemburg 1916: 141) Luxemburg musste diese Analyse 1915 im Gefängnis schreiben, verurteilt wegen Hochverrats, da sie bei einer Volksversammlung im Februar 1914 in Frankfurt gesagt hatte: »Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht.«

Rückblick auf 1981

Es wird heute manchen erstaunen, dass sich 1981 der SPD-Vorsitzende Willy Brandt mit den Positionen der Sozialisten zum Krieg von 1870 auseinandersetzte. Aber in jungen Jahren war dieser immerhin bei Jacob Walcher in die politische Lehre gegangen, einem Schüler Luxemburgs, und er scheute sich nicht, das Versagen der SPD von 1914 zu kritisieren, die ihrer »Aufgabe nicht gerecht werden konnte.« Brandt betonte, dass die damalige Diskussion zwei neue Fragestellungen noch nicht erfassen konnte, die Hauptgefahr Nazismus im Zweiten Weltkrieg und die neuen Waffentechnologien, die sich so rasant entwickelten, dass »auf beiden Seiten überlegt wird, ob sich nicht auch ein Atomkrieg führen lässt«. Die Frage nach dem Verhalten im Kriegsfall stelle sich anders, wenn das eigene Volk ausgelöscht werden könnte, ohne dass es sich selbst auch nur aufbäumen hätte können. Das damals geforderte Milizsystem sei keine Alternative mehr, wenn wenige Spezialisten einen Krieg machen, und er doch alle ereilen wird. Und er schlussfolgerte: »Im Atomzeitalter darf es unter keinen Umständen zum militärischen Konflikt zwischen den großen Mächten kommen. Es gäbe für unendlich viele Menschen keine Rettung. Ich kann auch niemandem garantieren, Atomwaffen seien nur dazu da, nicht eingesetzt zu werden. Ich identifiziere mich mit denen, die ein Gefühl existenzieller Bedrohung haben: Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts. […] Deshalb erwarten wir Einsicht: dass es höchste Zeit ist, das Prinzip der gemeinsamen Sicherheit anzuerkennen. Sicherheit gibt es in den großen Zusammenhängen nicht mehr voreinander, sondern in Wirklichkeit nur noch miteinander.« (Brandt 2012: 724)

Literatur

  • Auer, Ignaz (1895): Sedanfeier und Sozialdemokratie. Berlin.
  • Bebel, August (1911): Aus meinem Leben. Zweiter Teil. Stuttgart.
  • Bismarck, Otto von (1959): Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart.
  • Brandt, Willy (2012): Friedenssehnsucht und Friedenspolitik, Rede am 3. November 1981, in: Willy Brandt: Im Zweifel für die Freiheit. Reden zur sozialdemokratischen und deutschen Geschichte. Bonn.
  • Engels, Friedrich (1891): Einleitung zu Karl Marx »Bürgerkrieg in Frankreich«. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 22. Berlin.
  • Jaitner, Felix (2014): Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin. Hamburg.
  • Jaitner, Felix (2018): Die Entstehung des Kapitalismus und das Regime der Ruhe. Bonapartismus in Russland von Jelzin bis Putin. In: Beck, Martin/Stützle, Ingo, Die neuen Bonapartisten. Berlin.
  • Koch, Ursula, E. (1978): Berliner Presse und europäisches Geschehen 1871. Berlin.
  • Liebknecht, Wilhelm (1893): Die Emser Depesche oder wie Kriege gemacht werden. Nürnberg.
  • Liebknecht, Wilhelm (1894): Der Hochverrats-Prozeß wider Liebknecht, Bebel, Hepner vor dem Schwurgericht zu Leipzig vom 11. bis 26. März 1872. Berlin.
  • Luxemburg, Rosa (1916): Die Krise der Sozialdemokratie, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 4. Berlin.
  • Marx, Karl (1852): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW, Bd. 8. Berlin.
  • Marx, Karl (1870a): Erste Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg. In: MEW, Bd. 17. Berlin.
  • Marx, Karl (1870b): Brief an den Ausschuss der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. In: MEW, Bd. 17. Berlin.
  • Marx, Karl (1870c): Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg. In: MEW, Bd. 17. Berlin.
  • Marx, Karl (1871): Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation. In: MEW, Bd. 17. Berlin.
  • Mehring, Franz (1907/1980): Eine Schraube ohne Ende. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8. Berlin.
  • Protokoll (1907): Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart. Berlin.
  • Reinert, Jochen (2005): Das Karlstad-Abkommen von 1905 – als Norwegen unabhängig wurde. In: Neues Deutschland vom 29.10.

Zum Autor

Erhard Korn war bis zu seiner Pensionierung Rektor der Blankensteinschule in Steinheim. Er wurde für seine ehrenamtliche Tätigkeit als Personalrat, in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und im Landesschulbeirat mit der silbernen Ehrennadel des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet, und ist aktiv im Vorstandsbereich Grundsatzfragen der dortigen GEW sowie als stellvertretender Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg. Veröffentlichungen zu Bildungspolitik und Rechtspopulismus, Arbeiterbewegung und Kolonialismus. Zuletzt besprach er in Heft 4-2022 von Sozialismus.de den Roman »Pflaumenregen« von Stefan Thome, in dem eine familiäre Tragödie vor dem Hintergrund des »228-Massakers« in Taiwan am 28. Februar 1947 erzählt wird, bei dem zwischen 10.000 und 30.000 Zivilist*innen ermordet wurden.

Quellenangabe

Dies ist ein Beitrag aus dem Supplement der Monatszeitschrift Sozialismus.de. Informationen über den weiteren Inhalt finden Sie unter www.sozialismus.de. Dort können Sie ebenfalls ein Probeheft bzw. ein Abonnement bestellen.