Publikation Maoismus

Ein Überblick über die politischen und ideologischen Tendenzen, die im Denken und in der Praxis des chinesischen Revolutionsführers Mao Zedong wurzeln, ihre verschiedenen Strömungen und ihren weltweiten Einfluss.

Information

Reihe

HKWM

Autor

Henning Böke,

Erschienen

Juli 2022

Zugehörige Dateien

chineseposters.net / Chi Changyao

Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden. 

Weitere Informationen über das Projekt und andere übersetzte Lexikon-Einträge finden sich in unserem HKWM-Dossier.

A: māwīya. - E: Maoism. - F: maoïsme. - R: maoizm. - S: maoísmo. - C: Máo zhǔyì 毛主义

Als maoistisch werden seit Mitte der 1960er Jahre, als sich das ideologische Zerwürfnis zwischen KPdSU und KPCh als langfristig abzeichnet, kommunis­tische Strömungen bezeichnet, die sich auf die Theo­rie und Praxis des chinesischen Revolutionsführers Mao Zedong und der KPCh (bis 1976) berufen. Als typische Charakteristika ihrer Politik gelten: Ableh­nung des Sozialismusmodells der SU und der Stra­tegie der mit ihr verbündeten kommunistischen Par­teien; Orientierung auf die Dritte Welt als treibende Kraft der Weltrevolution (mit starker Fokussierung auf Guerillakriege); Hervorhebung der permanenten revolutionären Umwälzung der Gesellschaft auch im Sozialismus (nach dem Modell der chinesischen Kul­turrevolution); Zurückweisung ökonomistischer und deterministischer Konzeptionen, stattdessen Bezug­nahme auf die Produktionsverhältnisse als zentrale Kategorie und starke Betonung der Politik, der Revo­lutionierung des Bewusstseins und des Überbaus. Der Terminus M war zunächst eine Fremdzuschreibung aus sowjetischer bzw. prosowjetischer (vgl. Fahrle/Schöttler 1969) und westlicher Perspek­tive. Erst nach 1980, als die tiefgreifende Revision der Politik der KPCh maoistische Gruppierungen welt­weit in eine Identitätskrise stürzte, formulierten ein­zelne Guerillaorganisationen in Lateinamerika und Asien die Doktrin eines Marxismus-Leninismus-Maoismus (MLM). Im Sprachgebrauch der KPCh hat der Ausdruck M niemals Fuß fassen können; er wird dort nur zur Bezeichnung maoistischer Strö­mungen im Ausland verwendet. Als auf China bezo­genes Supplement des Marxismus-Leninismus wer­den in China die Mao-Zedong-Ideen verstanden. Die sich auf Mao berufenden und mit China sympathi­sierenden Organisationen in aller Welt bezeichneten sich selbst in der Regel nicht als maoistisch, sondern als marxistisch-leninistisch (häufig im Namenskürzel durch »ML« gekennzeichnet). Damit war der Anspruch verbunden, die ‘authentische’ Lehre des revolutionären ML zu vertreten, die von der KPdSU und ihren Verbündeten nach Stalins Tod verraten worden sei. Die Verknüpfung von marxistisch-leni­nistischer Orthodoxie mit Theorien von Mao, die in mancher Hinsicht eigenständige und gegenläufige Elemente umfassen, führte jedoch zu Mehrdeutigkeiten und breiten Interpretationsspielräumen, die eine Zersplitterung maoistischer Strömungen zur Folge hatten.

Als relevante politische Strömung hat sich der M bis zum Beginn des 21. Jh. nur in wenigen Ländern des Südens - v.a. Indien und Nepal - behaupten können. In der nördlich-westlichen Welt war er ein Phänomen von relativ kurzer Dauer, verankert in den außerparlamentarischen Bewegungen der Zeit um 1968 und in hohem Maße orientiert am Modell der von Mao 1966 eingeleiteten »Kulturrevolution«, von der man sich eine Wiedergewinnung der revolutionären Dynamik des Sozialismus mit einem neuen Gesellschaftsmo­dell auf massendemokratischer Grundlage versprach. Über den engeren organisationspolitischen Horizont hinaus hat der M dort eine erhebliche Ausstrahlungs­kraft auf jene Intellektuelle entfaltet, welche sich mit Fragen der Entwicklung eines nicht-ökonomistischen Marxismus befassten.

1. In den chinesisch-sowjetischen Beziehungen kam es nach dem 20. Parteitag der KPdSU (1956) zu Spannungen, die Anfang der 1960er Jahre zur Spal­tung der kommunistischen Weltbewegung führ­ten. Der nach Stalins Tod unter der Führung von Chruschtchow eingeschlagene außen- und innen­politische Kurs der SU wurde von der KPCh mit zunehmender Schärfe als Zurückweichen vor dem Klassenfeind attackiert. Dass die KPdSU in Anbe­tracht des Zerstörungspotenzials nuklearer Waffen eine dauerhafte friedliche Koexistenz mit dem Impe­rialismus anstrebte, die Verbreitung des Sozialismus in erster Linie durch Steigerung seiner Attraktivität in einem wirtschaftlichen Wettbewerb der Systeme (»Gulasch-Kommunismus«) voranbringen wollte und den friedlichen Übergang zum Sozialismus durch Gewinnung parlamentarischer Mehrheiten favori­sierte, galt den chinesischen Führern als Preisgabe der »historischen Mission der proletarischen Weltrevolution« und »Abkehr von der revolutionären Lehre des Marxismus-Leninismus« (ZK der KPCh ans ZK der KPdSU, 14.6.1963; zit.n. Crankshaw 1963, 149). Die Entwicklung der KPdSU wurde als Hinwendung zu einem »modernen Revisionismus« ähnlich dem Revisionismus in der Sozialdemokratie zu Beginn des 20. Jh. angeprangert; die KPdSU ver­trete, in marxistische Rhetorik gehüllt, die Interessen der Bourgeoisie. Im Unterschied zur KPdSU, die vor den verheerenden Folgen eines thermonuklea­ren Kriegs für die menschliche Zivilisation warnte, bewertete die KPCh, die in einem langen Krieg und Bürgerkrieg gegen waffentechnisch weit überlegene Gegner zur Macht gelangt war, die Existenz atomarer Massenvernichtungswaffen nicht als grundlegende Veränderung der Bedingungen des internationalen Klassenkampfs: »Nach Auffassung der Marxisten-Leninisten ist das Volk der Schöpfer der Geschichte. In der Entwicklung der Geschichte und im realen Leben ist der Mensch der entscheidende Faktor. Die Marxisten-Leninisten schenken der Rolle des technischen Umschwungs eine große Aufmerksamkeit, es ist jedoch falsch, wenn man die Rolle des Faktors Mensch herabmindert und die Rolle des technischen Faktors übertreibt« (165). Viel stärker als die KPdSU betonte die KPCh, die ihren revolutionären Kampf Maos Analysen der Klassenstruktur der chinesi­schen Gesellschaft folgend v.a. auf die große Masse armer Bauern gestützt hatte, die Rolle der nationalen, antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungs­bewegungen im Prozess der Weltrevolution - bei gleichzeitiger Hervorhebung der Notwendigkeit der Führung durch »prinzipientreue proletarisch-revolu­tionäre Parteien«.

Hintergrund des ideologischen Zerwürfnisses waren v.a. die Bestrebungen der SU, die sozialistischen »Bruderländer« in eine internationale Arbeitsteilung einzubinden. China lehnte die geforderte Spezialisie­rung ab und beharrte auf eigenständiger Industriali­sierung. Dieses Streben nach autarker Entwicklung (»sich auf die eigene Kraft stützen«, self-reliance) wurde zu einem der wesentlichen Prinzipien des M.

Die Position der KPCh fand unerwartet starke Unterstützung bei Kommunisten v.a. in Asien und Lateinamerika, wo teilweise ganze Parteien wie die KP Indonesiens (die 1965 durch General Suharto fast vollständig liquidiert wurde) sich der chinesi­schen Linie anschlossen. Andere große KPn (Indien, Brasilien) spalteten sich. Unter den regierenden KPn unterstützte die Partei der Arbeit Albaniens ener­gisch die chinesische Position. In Westeuropa blieb das Zerwürfnis anfangs weitgehend folgenlos. In Ländern wie Italien, Frankreich oder Belgien for­mierten sich zunächst nur kleine, in der BRD gar nur winzige einflusslose Gruppen traditionsorientierter Kommunisten, die Chruschtchows »Entstalinisierung« ablehnten und Chinas Kampf gegen den »Revisionismus« begrüßten.

In einem von den Redaktionen der Parteizeitungen Renmin Ribao und Hongqi gezeichneten Kommentar Über den Pseudokommunismus Chruschtschows und die historischen Lehren für die Welt (1964) finden sich Kernelemente der maoistischen Theorie des Sozia­lismus: Im Unterschied zur sowjetischen Auffas­sung vom Sozialismus als einer stabilen, homogenen, widerspruchsfreien Gesellschaftsform, die den Weg zum kommunistischen Endziel durch permanente Höherentwicklung der Produktivkräfte beschreitet, wird der Sozialismus - auch hier unter Berufung auf Marx und Lenin - als »sehr lange historische Etappe« des Übergangs zum Kommunismus beschrieben, die »einige Jahrhunderte« dauern werde (71) und in der trotz der Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln Widersprüche fortbestehen. Die Betonung der langen Dauer stellt bereits eine Korrek­tur der Ende der 1950er Jahre während des »Großen Sprungs nach vorn« von Mao proklamierten Per­spektive einer schnellen Verwirklichung kommunis­tischer Produktionsverhältnisse dar; jetzt wird sie gegen Chruschtchows damalige Ankündigungen gerichtet, wonach die SU binnen weniger Jahrzehnte den Endzustand des Kommunismus erreichen werde (60). In der Periode des Sozialismus sei der Klassen­kampf zwischen dem Proletariat und der gestürzten Bourgeoisie noch nicht entschieden. Überreste der alten Ausbeuterklassen, Überbleibsel der Kleinpro­duktion, das Festhalten an alten Gewohnheiten und das zunächst unvermeidliche Fortbestehen bürger­licher Rechtsverhältnisse (im Sinne von Marx in Gotha) würden dazu führen, dass »ununterbrochen in den Reihen der Arbeiterklasse, in den Partei- und Staatsorganen entartete Elemente, in den staatlichen, volkseigenen Betrieben neue bürgerliche Elemente, Plünderer von öffentlichem Gut und korrupte Leute, im Kultur- und Bildungswesen, in den Kreisen der Intelligenz neue bürgerliche Intellektuelle aufkom­men« (8). Stalin wird als verdienstvoller Revo­lutionär gewürdigt und gegen Chruschtchows Angriffe verteidigt, zugleich werden ihm aber auch folgenschwere Fehler aufgrund eines undialektischen Sozialismus-Verständnisses angelastet: Er habe Mitte der 1930er Jahre irrtümlich angenommen, infolge der Überführung der Produktionsmittel in staatliches und kollektives Eigentum existierten keine Klassen­antagonismen mehr. Die Verkennung der inneren Widersprüche der sozialistischen Gesellschaft habe dazu beigetragen, dass die der Herausbildung von Funktionseliten inhärente Gefahr unbemerkt blieb und eine »privilegierte Schicht« aus »Entarteten in den Reihen der führenden Funktionäre der Parteior­ganisationen, Staatsinstitutionen, Betriebe, Kolchosen und Sowchosen sowie aus bürgerlichen Intellektuel­len« (26) entstanden sei. Dabei handele es sich zwar um eine kleine Minderheit, die unter Stalin noch in Schach gehalten worden sei, sie habe jedoch nach des­sen Tod in der »revisionistischen Chruschtchow-Clique« (31) eine politische Vertretung gefunden, welche die SU »auf den Weg der Restaurierung des Kapitalismus« führe (54). Zahlreiche Beispiele aus Industrie und Landwirtschaft (15-26) sollen zeigen, dass korrupte Funktionäre vielfach Staats- und Kol­lektivbetriebe wie Privatunternehmen zum Zweck der eigenen Bereicherung führten, womit faktisch eine private Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums, also ein Klassenantagonismus vorliege. Die 1961 vom 22. Parteitag der KPdSU verkündete Doktrin, die »Diktatur des Proletariats« sei nach Erfüllung ihrer Aufgaben beendet und die SU habe sich zu einem »Staat des ganzen Volkes« entwickelt (eine Auffassung, die tatsächlich bereits in den von Stalin Mitte der 1930er Jahre vertretenen Positionen im Zuge der Ausarbeitung der neuen sowjetischen Verfassung vorgezeichnet war), wird als Beweis dafür gewertet, dass Chruschtchow proletarisch-revo­lutionäre Grundsätze zugunsten einer »Spielart des bürgerlichen Sozialismus« (61) aufgegeben habe; sein opportunistischer Standpunkt der Klassenversöhnung sei »mit der Auffassung des Renegaten Kautsky von der ‘reinen Demokratie’« identisch (44), sein Ideal sei »eine bürgerliche Spießergesellschaft« (62), sein Ziel bloß allseitiger Konsum (»Gulasch-Kommunismus«, 61f). Dass Chruschtchow faktisch die Position der Bourgeoisie vertrete, werde durch seine Bewunde­rung für die Leistungen der USA bestätigt (62).

Daraus wird die Konsequenz gezogen, dass im Sozialismus der Klassenkampf gegen alle Erschei­nungen bürgerlicher Entartung offensiv fortgesetzt werden müsse, um das kommunistische Endziel zu erreichen und eine Rückentwicklung zum Kapitalis­mus zu verhindern. Von einer Verschärfung des Klas­senkampfs im Sozialismus hatte Stalin noch 1938 gesprochen, wobei er jedoch die Gefahr des Wiedererstarkens der Bourgeoisie hauptsächlich auf den Einfluss ausländischer Agenten zurückführte. Solche Überlegungen haben in der KPCh kaum eine Rolle gespielt. Sie stützte sich vielmehr auf Maos Theorie des Widerspruchs, wonach im Sozialismus nicht­antagonistische »Widersprüche im Volke« in anta­gonistische »Widersprüche zwischen uns und dem Feind« übergehen können, wenn sie nicht erkannt und durch Debatten und Massenmobilisierung offen ausgetragen werden (Über den Widerspruch, 1937, AW I, 365-408; Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volke, 1957, AW V, 434-76). Mao setzt dem sowjetischen Konzept eine auf dem Pri­mat der Politik beruhende, den Prozesscharakter und die Entfaltung von Widerspruchsdynamiken beto­nende Strategie einer ununterbrochenen Revolution entgegen. Der Kommunismus sei nicht das Resultat der Produktivkraftentwicklung, sondern einer poli­tischen Transformation.

In der ‘Stalinfrage’ wird die innere Widersprüchlich­keit des M deutlich: Mao warf Stalin in parteiinter­nen Äußerungen »metaphysisches« Denken vor, das zu grundlegenden Fehlorientierungen, übermäßiger Repression, Fixierung auf Technik, Unverständnis im Umgang mit den Bauern und einer ausschließlich auf Dirigismus (»Die Kader entscheiden alles«) statt auf Überzeugungsarbeit und Massenmobilisierung beru­henden Politik geführt habe (1957; Mao intern, 1977, 103f). Zugleich hat die KPCh die Verteidigung Stalins als »Klassiker« für eine unverzichtbare Grundlage der eigenen Legitimität gehalten und das von ihm errichtete System nicht in Frage gestellt. Diese Zwei­deutigkeit hatte zur Folge, dass in der internationalen Anhängerschaft des M Strömungen mit im Grunde gegenläufigen Interessen zusammentrafen: ‘Stalinis­tische’ Kommunisten sahen in Mao den Bewahrer der Tradition, während erhebliche Teile der sich im Westen formierenden ‘Neuen Linken’ ihre Hoffnun­gen auf ein alternatives, demokratisches Sozialismusmodell auf China projizierten und in Maos Texten eigenständige, innovative, den Dogmatismus über­windende Ansätze wahrnahmen.

Zu den ‘Gründungsdokumenten’ des M zählt auch Es lebe der Sieg im Volkskrieg! von Lin Biao, erschie­nen am 3. Sept. 1965 in Renmin Ribao. Lin beschreibt dort die in der chinesischen Revolution praktizierte Strategie der von den ländlichen Räumen ausgehen­den, auf die Bauern gestützten militärischen Einkrei­sung der Städte als Modell der Weltrevolution. Der »Volkskrieg« der Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika soll die imperialistischen Zentren bezwingen. Dabei sollen die Völker sich aus­schließlich auf ihre eigene Kraft stützen. Die sowjet­ischen »Revisionisten«, die den »Volkskrieg« ableh­nen, werden als Erfüllungsgehilfen des Imperialismus charakterisiert, die in Zusammenarbeit mit den USA die Weltherrschaft anstreben. Mit dieser Veröffentli­chung machte die KPCh den Anspruch geltend, die richtungsweisende Kraft der Weltrevolution zu sein. Lin postuliert, dass Mao »die allgemeingültige Wahr­heit des Marxismus-Leninismus auf die konkrete Praxis der chinesischen Revolution erfolgreich ange­wandt und durch seine meisterhafte Zusammenfas­sung und Verallgemeinerung der im Laufe des lang­wierigen revolutionären Kampfes des chinesischen Volkes gesammelten Erfahrungen bereichert und wei­terentwickelt« habe; seine Theorie vom Volkskrieg stelle »einen bedeutenden Beitrag zum revolutionä­ren Kampf der unterdrückten Nationen und Volks­massen in der ganzen Welt« dar (Lin 1968, 47f).

2. Die im Streit mit der KPdSU entwickelten Positio­nen, in denen sich die ideologischen Grundlagen des M herauskristallisierten, wurden von der chinesischen Führung nach außen einmütig vertreten. Gleichzeitig kam es jedoch zu inneren Auseinandersetzungen um den Entwicklungsweg. Nach 1958 hatte der »Große Sprung nach vorn« als Versuch einer organischen Verbindung von Kollektivierung der Landwirtschaft und Industrialisierung mit dem Ziel eines möglichst schnellen Übergangs zum Kommunismus zu kata­strophalen Fehlschlägen und schwerer Hungersnot geführt. Das veranlasste Liu Shaoqi, Deng Xiaoping u.a. einen pragmatischeren Weg einzuschlagen. Mao hatte aus der klassischen marxistischen Auffassung, wonach rückständige Produktionsverhältnisse zur Fessel der Produktivkraftentwicklung werden, den Umkehrschluss gezogen, die größtmögliche Revolutionierung der Produktionsverhältnisse werde einen gewaltigen Schub der Produktivkraftentwicklung freisetzen. In Anbetracht der Folgen dieser utopistischen Politik steuerten Liu und Deng nach 1960 einen Kurs, der in erster Linie auf wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung der Technik zielte und die politisch-ideologische Auseinandersetzung hint­anstellte. (Aus dieser Zeit stammt Dengs berühmtes Diktum »Egal ob eine Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse«, womit gemeint war, dass die Arbeit wissenschaftlich-technischer Exper­ten als Beitrag zur Produktivkraftentwicklung in ers­ter Linie nach ihrer fachlichen Leistung zu beurteilen sei, während ihre politisch-ideologischen Haltungen zweitrangig seien.) Mao sah darin einen Vormarsch »revisionistischer« Positionen und fürchtete, dass eine ökonomistische und technokratische Politik über arbeitsteilige Spezialisierungen zur Herausbil­dung von Eliten und hierarchischen Strukturen führt, die neue kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse nach sich ziehen.

Dieser Entwicklung sollte mit der »Großen Prole­tarischen Kulturrevolution« Einhalt geboten werden. Um das Ziel der Entmachtung seiner als Verfechter des »kapitalistischen Wegs« geschmähten innerpar­teilichen Gegner zu erreichen, musste Mao soziale Akteure in Bewegung setzen, die mit den traditio­nellen Vorstellungen des ML kaum kompatibel sind. Die soziale Basis der Kulturrevolution bildeten zu großen Teilen unzufriedene Jugendliche, Lehrlinge und Jungarbeiter sowie prekarisiertes Landproleta­riat (vgl. Hoffmann 1977), während die etablierte Industriearbeiterschaft sich eher reserviert verhielt. Der historisch einzigartige Vorgang, dass ein Füh­rer einer regierenden KP die Bevölkerung gegen den eigenen Apparat mobilisiert und zur eigenständigen Organisierung ermutigt, fand starken Widerhall in der antiautoritären Protestbewegung im Westen, die ihren Kampf gegen das »Establishment« nun mit dem der chinesischen Jugend identifizierte.

Nicht alle der KPn, die 1963/64 die chinesische Posi­tion unterstützt hatten, akzeptierten diese Politik. So ging die 1963 aus dem größeren Teil der indischen KP entstandene KPI (Marxisten) deutlich auf Distanz. Von ihr spalteten sich wiederum dezidiert maoistische Gruppen ab, die 1967 den Bauernaufstand im west­bengalischen Naxalbari anführten und sich in den folgenden Jahren stark der Politisierung der ärmsten und am schärfsten diskriminierten Unterschichten - der aus den Ureinwohnern des indischen Subkonti­nents hervorgegangenen und aus dem hinduistischen Kastensystem ausgeschlossenen Dalit- und Adivasi-Bevölkerung - widmeten. Die militanten »Naxaliten« stellen auch Anfang des 21. Jh., wiewohl organisatorisch zersplittert, eine ernste Herausforderung für die indische Gesellschaft dar.

Eine ähnlich bedeutende Rolle spielte der M nach 1968 im ostanatolischen Dersim-Gebiet. Maoistische Strömungen thematisierten in scharfer Opposition gegen die kemalistische Staatsdoktrin der Türkei die Problematik der mehrheitlich dem Alevitentum zugehörigen und zazasprachigen, aber zur Assimi­lation in die türkisch-sunnitische Mehrheitsgesell­schaft gezwungenen Bevölkerung der ökonomisch rückständigen Bergregion. Ibrahim Kaypakkaya (2011) lieferte eine maoistisch inspirierte Analyse der »halbfeudalen« Machtstrukturen und begann mit der »Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee der Tür­kei« einen Partisanenkrieg, der 1973 mit einer Nie­derlage endete. In solchen Kontexten kam dem M seine Fähigkeit zu differenzierter Analyse komplexer Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse zugute, die den ökonomistischen Schemata des traditionel­len Sowjetmarxismus und des Trotzkismus nicht zugänglich waren.

Westliche Beobachter wie Charles Bettelheim (1974), die China nach der 1968 vollzogenen militä­rischen Befriedung der bürgerkriegsartigen Ausein­andersetzungen in der »Kulturrevolution« besuchen durften, beschrieben deren Resultate als emanzipative Umgestaltung der sozialen Beziehungen im Pro­duktionsprozess durch betriebliche Selbstverwaltung, Abbau von Hierarchien und Stärkung der Souveränität der Produzenten. Solche Schilderungen bestärkten in der westlichen Neuen Linken die Wahrnehmung Chi­nas als zukunftsweisende Alternative zum erstarrten und unattraktiven sowjetischen Sozialismusmodell. Dabei beschränkte der Einfluss des M in Westeuropa sich nicht auf die um 1970 entstehenden dogmatischen »ML«-Organisationen (in der BRD als »K-Gruppen« bezeichnet), die mit wenig Erfolg versuchten, sich als neue kommunistische Kaderparteien in der Tradition der III. Internationale mit fest gefügtem marxistisch-leninistischem Lehrgebäude und rigider Organisa­tionsdisziplin zu etablieren. In den romanischen Län­dern wurde der M auch Teil einer undogmatischen linksradikalen Kultur und strahlte selbst auf den lin­ken Rand des ‘Eurokommunismus’ ab. Die Fokussie­rung des M auf die Produktionsverhältnisse als zen­trale Kategorie und die starke Aufmerksamkeit für den reproduktiven Sektor und den Überbau berührten sich mit den in Europa aufflammenden Kämpfen um auto­nome Arbeits- und Lebensweisen. In diesem Umfeld verschmolzen z.B. in Italien Impulse des Operaismus mit maoistischen Ansätzen unter der gemeinsamen Perspektive der Überwindung des fordistisch-hierarchischen Industriemodells. Bis in linksliberale Kreise hinein wurde die VRCh als ein Land wahrgenommen, das einen für die Dritte Welt vorbildlichen, auf die eigene Kraft gestützten, vom Weltmarkt unabhängigen alternativen Entwicklungsweg beschreitet.

Die »Kulturrevolution« blockierte jedoch die wirt­schaftliche Entwicklung Chinas. Nach 1970 leitete Zhou Enlai eine Politik der Konsolidierung ein, die eine Rehabilitierung zahlreicher zuvor gestürzter, aber wegen ihrer fachlichen Kompetenz unabkömm­licher Kader und die Anbahnung einer Zusammen­arbeit mit dem Westen beinhaltete. Protagonisten des radikalen linken Kurses wie Chen Boda wur­den ausgeschaltet. 1971 kam Lin, der 1969 als Maos Nachfolger designiert worden war, nach einem unaufgeklärt gebliebenen Putschversuch (nach par­teioffizieller Darstellung soll er die Ermordung Maos und eine Wiederannäherung an die SU angestrebt haben) auf der Flucht ums Leben. 1973 wurde Deng nach einer Selbstkritik wieder mit Führungsaufga­ben in der Regierung betraut. ‘Linientreuen’ maoistischen Gruppen in aller Welt bereitete es Mühe, diese abrupten Wendungen mitzuvollziehen. Hinzu kam, dass die chinesische Außenpolitik nunmehr jede revolutionäre Perspektive aufgab und stattdes­sen einem Pragmatismus huldigte, dessen Grund­lage die scharfe Frontstellung gegen die inzwischen als »sozialimperialistisch« bezeichnete SU war, die mit Argumenten, die der »Sozialfaschismus«-These der Komintern Ende der 1920er Jahre ähnelten, als »Hauptfeind« dargestellt wurde. Mit Dengs Rede vor der UN-Vollversammlung 1974 zeichneten sich die Konturen der nach Maos Tod 1976 als Theorie der »Drei Welten« kodifizierten Doktrin ab, derzufolge die um »Hegemonie« wetteifernden »Supermächte« USA und SU gemeinsam die »erste Welt« bildeten und zwischen ihnen und den Entwicklungsländern - der »dritten Welt« - eine aus Europa, Japan, Kanada und Australien bestehende »zweite Welt« stehe. Mao hatte schon 1964 von »Zwischenzonen« gesprochen (vgl. Bechtoldt 1969, 256-64) und dies 1974 dem Präsidenten von Sambia Kenneth Kaunda gegenüber präzisiert (Mao Zedong on Diplomacy, 1998, 454). Nun diente die Theorie zur Rechtfertigung einer Zusammenarbeit auch mit Politikern wie Franz Josef Strauss oder Schah Reza Pahlavi im Kampf gegen den sowjetischen »Hegemonismus«. Für revolutio­näre Bewegungen wie die in Chile hingegen war sie kaum akzeptabel (vgl. Open Letter, 1978).

Während die chinesische Außenpolitik den mili­tanten Revolutionsismus der 1960er Jahre längst auf­gegeben hatte und Zhou das Programm der »Vier Modernisierungen« proklamierte, versuchte ab 1973 (10. Parteitag) die in der Kulturrevolution-Hoch­burg Schanghai ansässige, später als »Viererbande« bezeichnete linksextreme Gruppe um Maos Ehefrau Jiang Qing (mit Zhang Chunqiao, Yao Wenyuan und Wang Hongwen) durch eine vehemente Kam­pagnenpolitik die »Kulturrevolution« wieder in Gang zu bringen. Auch wenn Mao bemüht war, eine Balance zwischen revolutionärem Idealismus und wirtschaftlicher Vernunft herzustellen, und das sektiererische und fraktionistische Vorgehen der shanghaier Gruppe kritisierte, kann doch kein Zweifel bestehen, dass die »Viererbande« ihm geis­tig näher stand. In ihren Interventionen offenbart der Spätmaoismus ein Paradoxon: Als Grundlage des »Revisionismus« attackierte die »Viererbande« die Orientierung am »Primat der Produktivkräfte« - also ausgerechnet das, was in der II. und III. Inter­nationale als Kerninhalt marxistischer Orthodoxie galt. Ihre v.a. über die in der »Kulturrevolution« als Kommunikationsmittel eingeführten Wandzeitungen (dazibao) verbreitete Propaganda richtete sich gegen die autoritäre konfuzianische Ethik, gegen westliche und bürgerliche Kultur (»Kritisiert Beethoven!«), gegen eine Orientierung auf technische Zielsetzungen (»Man schießt Satelliten in den Himmel, um die rote Fahne herunterzuholen«), gegen eine technischen Imperativen unterworfene Arbeitsdisziplin (»Lieber eine revolutionäre Verspätung als revisionistische Pünktlichkeit«) und gegen leistungsbezogene Lohndifferenzierungen. Im Bildungswesen wurden Prü­fungen abgelehnt und Jugendliche zum Boykott des Schulunterrichts ermutigt.

Solche Positionen berührten sich, obwohl von ganz anderen Voraussetzungen ausgehend, mit Sichtwei­sen und Interessen der westlichen Neuen Linken, die sich mit den Problemen technischer Rationalität im Spätkapitalismus auseinandersetzt und das traditio­nelle ‘produktivistische’ Paradigma des Marxismus in Frage stellt. Aus dieser Perspektive erschienen die Aktivitäten der »Viererbande« als antiautoritärer und antielitärer Beitrag zur Wiedergewinnung der eman­zipatorischen Perspektive einer Überwindung des kapitalistischen »Fetischismus«, der Herrschaft des Produkts über die Produzenten. In der Lesart der »Viererbande« ist der M die einzige Strömung des Parteimarxismus, in der die traditionelle marxistische Grundannahme einer gesellschaftlichen Neutralität der Produktivkräfte hinterfragt und das Problem des Verhältnisses zwischen technischen Arbeitstei­lungen und sozialen Hierarchien bemerkt wurde. Indem jedoch die »Viererbande« jegliches Bemühen um die Hebung von wirtschaftlicher und technischer Produktivität, Rationalität und Effizienz als »kapita­listisch« denunzierte, schadete sie der dringend notwendigen Entwicklung des noch immer armen und rückständigen Landes erheblich.

Die Theoretiker der »Viererbande« Yao und Zhang veröffentlichten 1975 Beiträge zu Proble­men der sozialistischen Gesellschaft, die das Problem der strukturellen Ursachen restaurativer Tendenzen im Sozialismus wieder aufgreifen. Erstens wird mit Bezugnahme auf Marx' Gotha auf das zunächst unvermeidliche Fortbestehen »bürgerlicher Rechtsverhältnisse« verwiesen, die soziale Ungleichheit reproduzieren und verschleiern, indem sie ungleiche Individuen einer formalen Gleichheit unterziehen. Zweitens weist Zhang darauf hin, dass Tendenzen zum Kapitalismus nicht nur von Überbleibseln der Kleinproduktion ausgehen - wovon bereits Lenin sprach -, sondern auch in volkseigenen Industrie­betrieben die »Frage der Führung« entscheidend ist, »das heißt, welche Klasse der Eigentümer ist, und zwar nicht dem Namen nach, sondern in der Wirk­lichkeit« (Zhang 1975, 10). Formelle Eigentumstitel sagten nichts über die tatsächlichen sozialen Bezie­hungen aus: Es müssten zugleich »die anderen zwei Aspekte der Produktionsverhältnisse«, die »auf die Eigentumsverhältnisse zurückwirken«, beachtet wer­den: »die wechselseitigen Beziehungen der Menschen und die Verteilungsformen«. Diese wie auch der Überbau könnten »unter bestimmten Bedingungen sogar eine entscheidende Rolle spielen«. Die Politik sei »der konzentrierte Ausdruck der Ökonomie«. »Ob die ideologische und politische Linie korrekt ist oder nicht, welche Klasse die Führung innehat, davon hängt ab, welcher Klasse ein Betrieb in Wirklichkeit gehört.« (12) Diese Texte entstanden im Zusammen­hang mit der Verkündung einer neuen Verfassung der Volksrepublik China, die auf Maos Drängen das Streikrecht garantierte und damit die Existenz klas­senmäßiger Interessenkonflikte im Sozialismus offi­ziell anerkannte.

3. Im Machtkampf nach Maos Tod 1976 zeigte sich schnell, dass die radikale Linke im Parteiapparat und in der Bevölkerung isoliert war. Der von Mao zum Nachfolger bestimmte Hua Guofeng bildete eine zentristische Koalition aus Militärveteranen und Apparatkräften und ließ die »Viererbande« verhaften. Sein Versuch, eine produktivistisch disziplinierte, von antiautoritären und basisdemokratischen Elementen gereinigte formelle Mao-Orthodoxie aufrechtzuer­halten (vgl. Hua 1977) und den wenige Monate vor Maos Tod erneut gestürzten Deng außen vor zu lassen, scheiterte. Binnen zwei Jahren gelang es dem als fähiger Organisator geachteten Deng, die geistige Führung zu übernehmen und seinen der wirtschaft­lichen Entwicklung absolute Priorität beimessenden Kurs der »Reform und Öffnung« durchzusetzen. Dabei wurden einige identitätsstiftende Elemente des M revidiert: die Politik der autarken Entwicklung wurde zugunsten einer Öffnung zum Weltmarkt aufgegeben; an die Stelle des Egalitarismus trat die Auffassung, dass die Herausbildung leistungsfähiger Mittelschichten als Schrittmacher für die Entwick­lung des Landes notwendig sei; Maos Verdienste als Revolutionär und Staatsgründer wurden gewürdigt,  die meisten seiner innenpolitischen Entscheidungen seit Ende der 1950er Jahre jedoch als falsch bewertet; die »Kulturrevolution« wurde als »ultralinke« Verir­rung verworfen.

Diese Entwicklung entzog dem internationalen M sein Referenzmodell. Maoistische Organisationen standen vor der Wahl, entweder der neuen chinesi­schen Führung zu folgen und bisherige Überzeu­gungen tiefgreifend zu revidieren oder Maos Politik gegen seine Nachfolger zu verteidigen und damit den Weg in eine dogmatische Isolation in Kauf zu nehmen. Manche Gruppierungen verurteilten die Verhaftung der »Viererbande« sofort, andere billigten den Kurs von Hua zunächst, gingen aber auf Distanz, als sich mit dem 3. Plenum des 11. ZK der KPCh 1978 die Deng-Linie durchsetzte.

Der albanische Staats- und Parteichef Enver Hoxha, seit Ende der 1950er Jahre einer der wich­tigsten Bundesgenossen Chinas, brach - nachdem Maos Nachfolger an einer Unterstützung Albaniens kein großes Interesse mehr hatten - nicht nur mit der neuen Führung, sondern verurteilte die »Mao-Zedong-Ideen« insgesamt als »Spielart des Revisionismus« und »Amalgam von Auffassungen, in dem vom Marxismus-Leninismus entliehene Ideen und Thesen mit anderen - idealistischen, pragmatischen und revisionistischen - philosophischen Prinzipien verquickt worden sind« (1979, 458f). Hoxha wirft Mao insbesondere vor, die führende Rolle der Arbei­terklasse und die leninistische Einheit der Partei ver­nachlässigt und stattdessen Fraktionsismus und Plu­ralismus propagiert zu haben: Mao zufolge müsse »in der sozialistischen Gesellschaft neben der proletari­schen Ideologie, dem Materialismus und dem Atheis­mus auch die Existenz der bürgerlichen Ideologie, des Idealismus und der Religion, das Gedeihen von ‘Giftpflanzen’ neben den ‘duftenden Blumen’ usw. zugelassen« werden. Diese »versöhnlerische Haltung gegenüber allem Reaktionären« sitze »so tief«, dass Mao »Unruhen in der sozialistischen Gesellschaft für unvermeidlich und das Verbot der Tätigkeit der Feinde für falsch« halte (475f). Aus der Perspektive des stalinschen ML beleuchtet Hoxhas Polemik eigenständige Aspekte in Maos Denken, die dieser Tradition fremd sind: Maos Verständnis der Dialektik kennt keine lineare und teleologische Entwicklung, sondern anerkennt mit der Permanenz von Wider­sprüchen die prinzipielle Unabgeschlossenheit und Mehrdeutigkeit des Sozialen.

Während die meisten maoistischen Organisatio­nen in Westeuropa ab Ende der 1970er Jahre eine Entdogmatisierung vollzogen und sich früher oder später in diverse linksalternative Zusammenhänge auflösten, schlossen andere »ML«-Parteien in aller Welt sich der Linie von Hoxha an (z.B. die KP Brasiliens), bis 1990 der Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa auch Albanien ereilte. Wieder andere revidierten im Lauf der 1980er Jahre ihre antisowje­tische Haltung, bewerteten Mao kritischer, ohne ihn ganz zu verwerfen, und orientierten sich stärker am klassischen ML sowjetischer Prägung. Umgekehrt ist seit 1990 bei den verbliebenen orthodox-kom­munistischen Kräften der sowjetischen Tradition in bestimmten Aspekten eine Annäherung an vormals als »maoistisch« verworfene Positionen zu beobach­ten, insofern diese Kreise den »Opportunismus« und »Revisionismus« nach Stalins Tod für den Nieder­gang des Sozialismus verantwortlich machen - ohne dass allerdings die genuin maoistische Interpreta­tion der Widersprüche sozialistischer Gesellschaften übernommen wird. Solche Konvergenzen zwischen ehemals maoistischen und ehemals prosowjetischen und proalbanischen Strömungen in Richtung auf eine marxistisch-leninistische Neo-Orthodoxie ver­sucht etwa die ehemals maoistische Partei der Arbeit Belgiens (PTB) mit ihren internationalen Konferen­zen zu fördern.

In diesem Sinne ist der M als internationale poli­tische Strömung mit eigenständiger ideologischer Identität bald nach Maos Tod verschwunden bzw. zu einem Randphänomen von Splittergruppen gewor­den. Konträr zu diesem Zerfall konnten allerdings nach 1980 in einzelnen Ländern Lateinamerikas und Asiens militante Organisationen Fuß fassen, die sich auf Maos Theorie des »Volkskriegs« berufen. 1980 begann die aus mehreren Spaltungen der kommu­nistischen Bewegung des Landes hervorgegangene, unter dem Namen »Sendero Luminoso« bekannte Partido Comunista del Peru (PCP-SL) unter der Führung von Abimael Guzmán (genannt Gonzalo) einen gleichermaßen gegen den Staat wie gegen alle anderen linken Gruppierungen gerichteten Guerilla­krieg, der 1992 mit einer Niederlage endete. Das ZK der PCP-SL erklärte 2007 - mit Guzmán - den M zur »dritten, neuen und höchsten Etappe des Mar­xismus« und führte zur Abgrenzung von allen Arten des »Revisionismus« die Bezeichnung »Marxismus-Leninismus-Maoismus« ein (Sol Rojo 30, Juni 2008, 9). Damit wurde Mao ein Rang verliehen, den die KPCh ihm niemals zuerkannt hatte. 1984 entstand, maßgeblich von der PCP-SL getragen, die »Revo­lutionäre Internationalistische Bewegung« (RIM) als lockerer Zusammenschluss von Organisationen, die diese Ausrichtung teilen. Die größte Bedeutung unter ihnen erlangte die von Pushpa Kamal Dahal (genannt Prachanda) geführte KP Nepals (Maois­tisch), die 1996 einen Bauernaufstand anführte, im Laufe eines zehnjährigen Bürgerkriegs große Teile des Landes unter ihre Kontrolle brachte und den Sturz der Monarchie herbeiführte. Sie schlug seit 2005 jedoch einen pragmatischen Kurs ein und stand vor­übergehend an der Spitze einer Koalitionsregierung. Diese Wendung ist in den RIM-Organisationen nicht unumstritten (vgl. Sol Rojo 30, 10ff). Abgesehen von diesem punktuellen Fortbestehen in einzelnen Län­dern des Südens stellt der M Anfang des 21. Jh. keine relevante politische Kraft mehr dar.

4. Abseits der auf einen historisch engen Zeitraum beschränkten identitätsstiftenden Bedeutung für zumeist doktrinäre politische Organisationen spielte der M eine nicht zu unterschätzende Rolle für unab­hängige marxistische Intellektuelle, in Europa v.a. in romanischen und skandinavischen Ländern. Bereits 1962 und 1963 wies Louis Althusser als erster Theo­retiker des westlichen Marxismus auf die Bedeutung der philosophischen Arbeiten von Mao hin: Dieser habe in Über den Widerspruch ein Modell der Ana­lyse gesellschaftlicher Widersprüche formuliert, bei dem an die Stelle des von Hegel stammenden Kon­zepts der Dialektik als widersprüchliche prozessuale Entfaltung einer einfachen logischen Einheit eine irreduzibel komplexe Struktur und dynamische Beziehung von »Hauptwiderspruch« und »sekun­därem Widerspruch« und »hauptsächlichen« und »sekundären Seiten« von »antagonistischen« und »nichtantagonistischen« Widersprüchen unter dem »Gesetz der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der Widersprüche« tritt (FM, 57, Fn.; auch 66, 139, 157f). Althusser bezieht daraus die methodische Grundlage für eine nicht-ökonomistische, nicht­reduktionistische und nicht-teleologische Konzep­tion materialistischer Gesellschaftsanalyse, in der die Ökonomie nicht als mechanische Ursache gesell­schaftliche Erscheinungen determiniert, sondern die Einheit eines komplexen Ensembles von Praktiken darstellt. Im Umfeld Althussers wurden unabhän­gig von politischer Organisationszugehörigkeit (er selbst blieb Mitglied der Französischen KP, manche seiner Schüler waren in maoistischen Gruppen aktiv) maoistische Theorieansätze einbezogen (vgl. Karsz 1976, 138-53).

Bettelheim stützte seine Kritik an produktivkraft-zentrierten Sozialismuskonzeptionen ab Mitte der 1960er Jahre ebenfalls auf das kulturrevolutionäre China: »Das Beispiel China zeigt, dass es nicht not­wendig (ja, tatsächlich sogar gefährlich) ist, ‘zuerst’ die materiellen Grundlagen der sozialistischen Gesell­schaft aufbauen zu wollen und die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf später zu verschie­ben, um sie dann mit den entwickelteren Produktiv­kräften in Einklang zu bringen. Das Beispiel zeigt, dass die sozialistische Umgestaltung des Überbaus die Entwicklung der Produktivkräfte begleiten muss, und dass diese Umgestaltung den wirklich sozialistischen Charakter der ökonomischen Entwicklung bedingt. Das Beispiel China zeigt auch, dass - solange sich die Umgestaltungen auf diese Weise vollziehen - die Industrialisierung im Gegensatz zur sowjetischen Entwicklung nicht erfordert, der Bauernschaft einen Tribut abzuverlangen, der das Bündnis der Arbeiter und Bauern ernsthaft gefährdet.« (1975, 45) Unter Berufung auf den späten Lenin und Mao setzte Bettelheim dem aus der deutschen Sozialdemokratie des ausgehenden 19. Jh. stammenden Verständnis von Sozialismus als Resultat maximaler Zentralisierung großindustrieller Produktivkräfte das Konzept eines alternativen Entwicklungswegs unter dem Primat der Politik entgegen, geleitet vom bewussten Handeln der Produzenten statt von abstrakten Systemimperativen. In Sowjetrussland jedoch sei die bolschewistische Partei nach Lenins Tod nicht in der Lage gewesen, der aus dem Verlauf der Klassenkämpfe resultieren­den Zurückdrängung des revolutionären Bündnis­ses der Arbeiter und Bauern durch eine Allianz aus Facharbeitern und technischer Intelligenz gegen die Bauern zu widerstehen. Stalin habe nach anfänglich korrekten, von Lenin übernommenen Weichenstel­lungen (43) mit seiner forcierten Industrialisierungs­politik eine im damaligen »verflachten Marxismus« (24) allgemein verbreitete »ökonomistische« Tendenz konsequent vollstreckt, deren Grundannahmen auch von den oppositionellen Parteiströmungen (Trotzki, Bucharin) nie in Frage gestellt wurden. Im Resultat habe sich in der SU seit den 1930er Jahren ein »kapi­talistischer Staat besonderen Typs« (49) herausgebil­det: »Die Produzenten bleiben Lohnabhängige und arbeiten an der Verwertung der Produktionsmittel. Die Produktionsmittel funktionieren als gemeinsa­mes Kapital einer Klasse (im Unterschied zum indi­viduellen Kapital des ‘klassischen’ Kapitalismus), das von einer Staatsbourgeoisie verwaltet wird.« (47) Bettelheim bot damit eine Lesart des M, die - abweichend von der offiziellen Doktrin maoistischer Parteien - die Ursachen des zeitgenössischen »Revi­sionismus« und der Fehlentwicklung der SU nicht in Machenschaften ‘entarteter’ Kräfte nach Stalins Tod sah, sondern auf Unzulänglichkeiten des traditionel­len Parteimarxismus verwies, die erst durch die Pra­xis der chinesischen Revolution überwunden worden seien. Seine Auffassungen beeinflussten, ähnlich wie die von Althusser, nicht nur die marxistische Dis­kussion in West- und Südeuropa, sondern strahlten auch stark nach Lateinamerika sowie Indien aus. Die Ereignisse nach Maos Tod, die offenbar werden ließen, dass auch die »Kulturrevolution« die Par­teidiktatur nur modifiziert, nicht überwunden hat (Bettelheim 1978, 87-90), veranlassten ihn schließ­lich zur Distanzierung vom M und generell vom Leninismus.

In den USA entwickelte sich die 1949 von Paul M. Sweezy gegründete Monthly Review zu einer wichti­gen Plattform der Neuen Linken mit starkem Fokus auf die Dritte Welt und deutlichen Sympathien für China. Ähnlich wie in Frankreich und Italien - und vielleicht sogar nachhaltiger - hat sich auch hier eine intellektuelle Kultur herausgebildet, in der »maois­tische« Impulse nicht in dogmatische und sektiereri­sche, politisch ineffiziente Organisationen kanalisiert, sondern mit einem offenen »westlichen« Marxismus verschmolzen wurden. Nach 1990 begann diese Art der Aneignung auf China zurückzuwirken: Unter den chinesischen Intellektuellen, die nach der Zeit der Verfolgung und Demütigung in der »Kulturre­volution« zunächst einmütig die von Deng initiierte Reformpolitik unterstützt hatten, bildete sich in Aus­einandersetzung mit den negativen sozialen, ökologi­schen und kulturellen Folgen der marktwirtschaftli­chen Modernisierung die Strömung einer »Neuen Linken« (xinzuopai), in der teilweise eine Neuaneig­nung Maos aus dem Blickwinkel westlicher Theorie­bildung (westlicher Marxismus, Poststrukturalismus) zu beobachten ist. Hier wirkt u.a. die im Umfeld der Monthly Review angesiedelte »China Study Group« aus us-amerikanischen und chinesischen Linksintel­lektuellen koordinierend.

Die Attraktivität des M für die linksgerichtete Intelligenz im Westen ergab sich daraus, dass seine im Vergleich zum sowjetischen ML und auch zum Trotzkismus weniger schematische und determinis­tische Orientierung ihren Bedürfnissen entgegen­kam: Mao hatte in China eine Methodik zur Analyse einer Gesellschaft entwickelt, die den im klassischen Marxismus vorgestellten Idealtypus einer entwickel­ten kapitalistischen Industriegesellschaft noch nicht erreicht hatte (und unter den Prämissen der von Lenin übernommenen Imperialismustheorie auch nicht erreichen konnte), während die Neue Linke des Westens es mit einer Gesellschaft zu tun hatte, die die­sen Idealtypus bereits hinter sich ließ. Der M zeigte sich sensibel für Problematiken gesellschaftlicher Modernisierung, die sich in China aus der Perspek­tive eines Entwicklungslands, im Westen hingegen im Zeichen der beginnenden Krise des Fordismus stellten. Darauf beruhte seine theoretische Relevanz. Als politische Strömung scheiterte der M am Unver­mögen, diese Problematiken in der erhofften Weise konstruktiv zu bewältigen.

Bibliographie: H. Bechtholdt, Chinas Revolutionsstra­tegie: Mit der Dritten Welt gegen Russland und Amerika, erw. u. akt. A., München 1969; Ch.Bettelheim, China nach der Kulturrevolution. Industrielle Organisation, dezentralisierte Planung und Wertgesetz, München 1974; ders., Die Klassenkämpfe in der UdSSR, Bd. 1, a.d. Frz. v. W.Aschmonetti u.a., Berlin/W 1975; ders., Fragen über China nach Mao Tse-tungs Tod, Berlin/W 1978; H. Böke, Maoismus. China und die Linke - Bilanz und Perspektive, Stuttgart 2007; E. Crankshaw, Moskau-Peking oder Der neue Kalte Krieg, a.d. Engl. v. H.-H.Wellmann, Reinbek 1963; R. Fahrle u. P. Schöttler, Chinas Weg: Marxis­mus oder Maoismus?, Frankfurt/M 1969; R. Hoffmann, Maos Rebellen. Sozialgeschichte der chinesischen Kultur­revolution, Hamburg 1977; E. Hoxha, Imperialismus und Revolution, Tirana 1979; Hua Guofeng, Weiterführung der Revolution unter der Diktatur des Proletariats bis zur Vollendung, Beijing 1977; S. Karsz, Theorie und Poli­tik: Louis Althusser, Frankfurt/M-Berlin/W-Wien 1976; I. Kaypakkaya, In stürmischen Jahren: Texte des türkischen Revolutionärs, eingel. u. übers. v. A.Stengl, Frankfurt/M 2011; Lin Biao, Es lebe der Sieg im Volkskrieg! Zum 20. Jahrestag des Sieges des chinesischen Volkes im Widerstands­krieg gegen die japanische Aggression, Beijing 1968; Mao intern. Unveröffentlichte Schriften, Reden und Gespräche Mao Tse-tungs 1949-1976, hgg. v. H.Martin, München 1977; Mao Zedong on Diplomacy, Beijing 1998; Open Let­ter of the Revolutionary Communist Party of Chile to the Communist Party of China, Toronto 1978 (Digital Reprint 2004); Über den Pseudokommunismus Chruschtschows und die historischen Lehren für die Welt: Neunter Kommentar zum offenen Brief des ZK der KPdSU, Beijing 1964; Yao Wenyuan, Über die soziale Basis der parteifeindlichen Lin-Biao-Clique, Beijing 1975; Zhang Chunqiao, Zur allseiti­gen Diktatur über die Bourgeoisie, Beijing 1975.

Henning Böke

→ Agrarfrage, Antagonismus, antiautoritäre Bewegung, Antikolonialismus, Arbeitsteilung, Avantgarde, chinesi­sche Kulturrevolution, chinesische Revolution, Dialektik, Diktatur des Proletariats, Drei-Welten-Theorie, Dritte Welt, Egalitarismus, Entmaoisierung, Entstalinisierung, Eurokommunismus, Fokustheorie, Fordismus, friedliche Koexistenz, geistige und körperliche Arbeit, Gleichmache­rei, Großer Sprung, Grundwiderspruch (Haupt-/Neben­widerspruch), Guerilla, Hegemonismus, Kampf der zwei Linien, K-Gruppen, Klassenkampf, Komintern, Krise des Fordismus, Kulturrevolution, Linksradikalismus, Liuismus, Mao-Zedong-Ideen, Marxismus, Marxismus-Leni­nismus, Modernisierung, Neue Linke, Nord-Süd-Konflikt, Ökonomismus, Operaismus, Personenkult, Produktivis­mus, Revisionismus, Sektierertum, Selbstverwaltung, Self-Reliance, Sinisierung, Sozialimperialismus, Spätkapitalis­mus, Stalinismus, Technikdeterminismus, Technikkritik, Technokratie, Trotzkismus, Überbau, Ultraimperialismus, Ultralinke, Volkskommune, Volkskrieg, Weltrevolution, Widersprüche im Volke, Zweite Internationale