Publikation Drei-Welten-Theorie

Warum wurde dieses geopolitische Konzept von Mitte der 1970er Jahre, das eine Neuorientierung der chinesischen Außenpolitik zum Ausdruck brachte, nach Maos Tod allmählich obsolet?

Information

Reihe

HKWM

Autor

Ingo Nentwig,

Erschienen

Juli 2022

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Foto: Unsplash / William Navarro

Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden. 

Weitere Informationen über das Projekt und andere übersetzte Lexikon-Einträge finden sich in unserem HKWM-Dossier.

A: naẓarīyat al-cawālim al-thalātha. – E: three worlds theory. – F: theorie des trois mondes. – R: teorija trech mir. – S: teoría de los tres mundos. – C: san’ge shijie huafen de lilun 三个世界划分的理论

Die DWT stützt sich auf eine Bemerkung Maos vom 22. Februar 1974 (im Gespräch mit dem sambischen Präsidenten K. Kaunda): »Meiner Meinung nach bil­den die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion die Erste Welt. Japan, Europa und Kanada, die Kräfte der Mitte, gehören zur Zweiten Welt. Wir sind die Dritte Welt. [...] Die Dritte Welt hat eine große Bevölke­rung. Mit Ausnahme Japans gehört Asien zur Dritten Welt, und Lateinamerika ebenfalls.« Diese Äußerung wurde erst am 1.11.1977 im Zentralorgan des ZK der KPCh Renmin Ribao veröffentlicht, doch zeigten sich Auswirkungen auf die chinesische Außenpolitik be­reits in der Rede von Deng Xiaoping vor der UNO-Vollversammlung am 10.4.1974. Deng zitierte Maos Äußerung, ohne ihren Urheber zu nennen. Danach betonte er den politischen Kern der DWT: »Die bei­den Supermächte, die USA und die Sowjetunion, trachten nach einer Vorherrschaft über den Erdball. Sie versuchen, jede auf ihre Weise, die Entwicklungs­länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas unter ihre Kontrolle zu bringen, und zugleich die entwickelten Länder, die ihnen machtmäßig nicht gewachsen sind, zu tyrannisieren.«

Chinas Bruch mit der Sowjetunion – eine der Vor­bedingungen für die Formulierung der DWT –‚ der Ende der 1950er Jahre begann und Mitte der 60er Jahre mit dem Abschluß der Polemik über die General­linie der internationalen kommunistischen Bewegung (1963 /64) endgültig vollzogen wurde, hat historische Wurzeln, die sich bis in die 1930er Jahre verfolgen lassen. In der KPCh gab es schon früh Widerstände gegen die Komintern- und KPdSU-Politik, sofern sie die chinesische Revolution betraf. Unter Maos Füh­rung verfolgte die KPCh einen eigenständigen Kurs, besonders hinsichtlich der Frage nach der Hauptkraft der Revolution (Bauern statt Industrieproletariat) und der Bündnispolitik gegenüber der Guomindang. Aus der traditionellen sinozentrischen Denkweise (»Reich der Mitte«) und dem Selbstbewußtsein, das einer aus eigener Kraft und z.T. gegen sowjetische An­weisungen siegreichen Revolution entsprang, ergab sich zwangsläufig eine Sonderrolle Chinas im »sozia­listischen Lager«, die einer Unterordnung unter so­wjetische Führung entgegenstand. Die Machtpolitik der UdSSR nach 1949, vor allem die Versuche, China in das eigene militärpolitische Konzept zu integrieren (etwa mit dem Wunsch nach Errichtung sowjetischer Marinebasen auf chinesischem Territorium) verstärk­ten die Tendenzen, sich schrittweise von der SU zu distanzieren. Zudem sah sich China zunächst als »armes« und unterentwickeltes Land, das sich weder mit den entwickelten kapitalistischen noch mit den entwickelten sozialistischen Staaten (Atomwaffen und Raumfahrt in der SU) messen konnte. So ver­stärkte China seit 1955 (Bandung-Konferenz) sein außenpolitisches Engagement im Bereich der »Block­freien«, vor allem des Trikont.

Der Bruch mit der SU und die damit verbundene Spaltung des »sozialistischen Lagers« brachte China in eine schwierige Situation. Die chinesische Führung kam zu dem Schluß, daß China von sowjetischer Seite eine größere Gefahr drohe als vom US-Imperialis­mus; gleichzeitig maß sie den innerimperialistischen Widersprüchen große Bedeutung zu. Sie mußte sich neue Verbündete suchen. In der Reihenfolge der Ge­wichtung waren das: 1. sozialistische Staaten, die China freundlich gesinnt waren (Albanien, Nordkorea, eingeschränkt Nordvietnam und Rumänien); 2. die »Dritte Welt«; 3. Staaten der »Zweiten Welt«, die sich dem Einfluß der Supermächte zu entziehen versuch­ten; 4. die USA als »weniger gefährliche Supermacht«. Somit kann die Formulierung der DWT letztlich als Endpunkt einer außenpolitischen Umorientierung gesehen werden.

Nachträglich wurde die DWT mit »Klassiker-Zitaten« ­– im Kontext des chinesischen ML vor allem Lenin, Stalin und Mao – begründet. In Die Theorie des Vor­sitzenden Mao (1977) belegte man die Korrektheit der Strategie eines Bündnisses mit der »Dritten Welt« u.a. mit einer Einschätzung Lenins aus dem Jahre 1916: »Die soziale Revolution kann nicht anders vor sich gehen als in Gestalt einer Epoche, in der der Bürger­krieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie in den  fortgeschrittenen Ländern mit einer ganzen Reihe de­mokratischer und revolutionärer Bewegungen ver­bunden ist, darunter auch mit nationalen Befreiungsbewegungen der unentwickelten, rückständigen und unterdrückten Nationen.« (LW 23, 53). Auch die Auf­teilung in mehrere »Welten« wurde in Leninsche Tra­dition gestellt: »Das charakteristische Merkmal des Imperialismus besteht darin, daß sich, wie wir sehen, gegenwärtig die ganze Welt in eine große Zahl unter­drückter Völker und eine verschwindende Zahl un­terdrückender Völker teilt.« (LW 31, 228) »Leider gibt es jedoch heute auf der Welt zwei Welten: die alte – den Kapitalismus [...] und die heranwachsende neue Welt.« (LW 33, 132) Stalin: »Die Welt hat sich ent­schieden und unwiderruflich in zwei Lager gespalten: in das Lager des Imperialismus und in das Lager des Sozialismus.« (W 4, 205) – Damit war zunächst nur die Zweiteilung der Welt erklärt. Aber Stalin traf auch schon die zweite Teilung, die quer zur ersten verstan­den werden konnte: »Die Welt ist in zwei Lager geteilt: in das Lager einer Handvoll zivilisierter Nationen, die über das Finanzkapital verfügen und die die gewal­tige Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs ausbeuten, und in das Lager der unterdrückten und ausgebeute­ten Völker der Kolonien und der abhängigen Länder, die diese Mehrheit bilden.« (W 6, 127)

Als Praktiker und Theoretiker eines solchen Landes zog Mao daraus 1940 den Schluß: »Diese [Welt-]Revolution hat das Proletariat der kapitalistischen Länder zur Hauptkraft und die unterdrückten Nationen der Kolonien und Halbkolonien zu ihren Verbündeten. Unabhängig davon, welche Klassen, Parteien oder Einzelpersonen einer unterdrückten Nation an der Revolution teilnehmen – diese Revolution wird, wenn sie alle nur gegen den Imperialismus kämpfen, zu einem Bestandteil der proletarisch-sozialistischen Weltrevolution, und ihre Teilnehmer werden zu deren Bundesgenossen, ob sie sich nun dieses Umstands be­wußt sind oder nicht, ob sie ihn begreifen oder nicht.« (AW II, 404). Diese Äußerung wurde später, als die DWT die Außenpolitik der VR China bestimmte, als Begründung dafür herangezogen, daß die Klassenge­gensätze in den Ländern der »Dritten Welt« gegen­über dem Antagonismus zwischen diesen Ländern und den »Supermächten« vernachlässigt werden könnten. Die endgültige Abkehr von der Zweiteilung der Welt, wie sie Lenin und Stalin vorgenommen hatten, vollzog Mao im Januar 1957: »Selbstverständ­lich sind die Widersprüche zwischen den imperialisti­schen und den sozialistischen Ländern sehr scharf, aber jetzt ringen die imperialistischen Staaten mitein­ander um verschiedene Gebiete, und der Kampf gegen den Kommunismus dient ihnen nur als Vorwand. Um welche Gebiete ringen sie? Um die Territorien Asiens und Afrikas mit ihrer Milliarde Bewohner. [...] Dort sind zwei Arten von Widersprüchen und drei Arten von Kräften in Konflikt geraten. Die zwei Arten von Widersprüchen sind: erstens die Widersprüche zwi­schen den verschiedenen imperialistischen Mächten, das heißt zwischen den USA und England sowie zwi­schen den USA und Frankreich; zweitens die Wider­sprüche zwischen den imperialistischen Mächten und den unterdrückten Nationen. Die drei Arten von Kräften sind: erstens die USA, die größte imperialisti­sche Macht; zweitens England und Frankreich, impe­rialistische Mächte zweiten Ranges; und drittens die unterdrückten Nationen.« (AW V, 408f) Damit waren im Prinzip schon die späteren »drei Welten« der DWT benannt, nur die SU mußte noch der Kategorie der Supermächte zugeordnet werden.

Die KPdSU kritisierte diese »neue Theorie«, »derzufolge der Grundwiderspruch unserer Zeit nicht der Widerspruch zwischen Sozialismus und Imperialis­mus, sondern der zwischen der nationalen Befrei­ungsbewegung und dem Imperialismus sei« (Die Pole­mik, 1965, 225), und die KPCh verurteilte wiederum die KPdSU, die die genannten Positionen Lenins und Stalins hinsichtlich der nationalen Befreiungsbewe­gungen aufgegeben habe (221-27). Mao selbst hat al­lerdings durch keine bekannte schriftliche oder mündliche Äußerung eine »DWT« befürwortet, im Gegenteil, er hat offenbar sogar Zeit seines Lebens verhindert, daß seine Äußerung vom 22.2.1974 ver­öffentlicht wurde. Die Formulierung der DWT als »bedeutender Beitrag zum Marxismus-Leninismus« fand erst 1977, ein Jahr nach seinem Tode statt. Hin­gegen hat er sie im Sinne eines außenpolitischen Kon­zepts entwickelt und mitgetragen.

Charles Bettelheim bestritt 1978 (129, Anm. 70) der DWT jede wissenschaftliche Basis und jede Ent­sprechung in der Wirklichkeit. »It wrongly assumes that, as between the ‘Second’ and the ‘Third’ worlds, unity can have primacy over contradiction, an idea which runs counter to everything taught us by history, past and present. History reveals the deep conflicts which set many of the countries of the ‘Second’ and the ‘Third’ worlds against each other«. Die DWT »buries the class contradictions involved«, erst recht die zwischenstaatlichen Antagonismen.

De facto blieb die DWT nach Maos Tod ein taktisches außenpolitisches Konzept und wurde nicht zu einer Theorie, die auf einer konkreten Analyse beruht hätte. Sie ging von bestimmten, kaum begründeten theoretischen Vorgaben aus, z.B. daß die SU »sozialimperialistisch«, »sozialfaschistisch« und »staatskapi­talistisch« sei. Nachdem zu Beginn der 1980er Jahre diese Vorgaben und schließlich sogar der Revisionismus-Vorwurf gegen die KPdSU fallengelassen wurden, ver­schwand auch die DWT. Insofern kann sie nicht als strategisches Konzept begriffen werden, da sie in ihrer Gesamtheit von der jeweils aktuellen taktischen Ein­schätzung der SU abhängig war. Zwei andere Grund­elemente der DWT hingegen, die Orientierung auf die »Dritte Welt« und ihre nationalen Befreiungsbewe­gungen sowie der Widerstand gegen imperialistischen »Hegemonismus« usw., blieben für die chinesische Außenpolitik relevant.

Etwa mit Beginn der 1990er Jahre, als die Reform­politik der »sozialistischen Marktwirtschaft« zu einem stürmischen wirtschaftlichen Aufschwung führte, während die SU sich auflöste, wurde auch dies obsolet. Chinas Außenpolitik orientierte sich um auf die In­dustrie-Nationen, und seine nationalen Interessen ­– vor allem die ökonomischen – gerieten immer öfter in Gegensatz zu den Interessen anderer Staaten des Trikont.

Bibliographie: C. Bettelheim, »The Great Leap Back-ward«, in: Monthly Review, 30. Jg., H. 3, 1978; »Die Theorie des Vorsitzenden Mao über die Dreiteilung der Welt ist ein bedeutender Beitrag zum Marxismus-Leninismus«, von der Redaktion der Renmin Ribao, I. November 1977, in: Peking-Rundschau, Nr. 45/ 1977, 11-43; Die Theorie der Drei Welten, 2 Bde., hgg. v. ZK der Marxisten-Leninisten Deutschlands, Frankfurt/M 1978 (Dokumente I: Die Theorie der Drei Wel­ten. Die Klassenlinie im Internationalen Kampf des Proleta­riats. Dokumente der KPCh und der Partei der Arbeit Alba­niens; Dokumente II: Der Vormarsch der Drei-Welten-Theorie Mao Tsetungs); Deng Xiaoping, »Rede auf der Sondertagung der UNO-Vollversammlung (10. April 1974)«, in: Peking-Rundschau, Nr. 15/1974, 8-13; Die Polemik über die General­linie der internationalen kommunistischen Bewegung, Peking 1965.

Ingo Nentwig

→ Blockfreiheit, chinesische Kulturrevolution, chinesische Revolution, Dritte Welt, Hegemonismus, Maoismus, Mao-Zedong-Ideen, sozialistische Marktwirtschaft, Supermächte, Trikontinent