Publikation Südostasien - Sozialökologischer Umbau - Klimagerechtigkeit Die sozial-ökologische Zukunft gestalten

Transformative Ansätze in Vietnam

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Januar 2023

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Illustration: Nguyen Vu Xuan Lan

Die Welt befindet sich derzeit inmitten einer Vielzahl gleichzeitiger und miteinander verbundener Krisen – der Klimakrise, der Corona-Pandemie, der Krise der Gesundheitssysteme, der globalen Finanzkrise samt Bankenrettung, humanitären Krisen aufgrund von Umweltkatastrophen, und dem weltweiten Verlust der Biodiversität. Wir alle sind von diesen Krisen auf die ein oder andere Weise betroffen. Und sie alle unterstreichen: Ein «weiter so» darf es nicht geben. Doch auch wenn viele Menschen dem zustimmen würden, gibt es zugleich eine große Unsicherheit, wie der richtige Weg hin zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Zukunft aussehen könnte.

Philip Degenhardt leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hanoi.

Für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und viele andere linke Akteur:innen führt der Weg in eine nachhaltige Zukunft über eine sozial-ökologische Transformation. Doch wie sieht diese Transformation in der Praxis aus? Und wodurch unterscheidet sie sich vom Konzept der «nachhaltigen Entwicklung»?

Erstens: Dem Ansatz der sozial-ökologischen Transformation liegt eine andere Problemdefinition und dementsprechend eine andere Krisenanalyse zugrunde. Diejenigen unter uns, die auf die sozial-ökologischen Transformation setzen, sehen den neoliberalen Kapitalismus – unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem – mit multiplen Krisen konfrontiert. Unsere Antwort kann daher nicht in dem Versuch bestehen, jedes Einzelproblem für sich zu lösen; vielmehr müssen wir einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, d. h. die Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Problemen erkennen, um sie als Ganzes zu lösen. Anders gesagt: Entscheidend ist, das Verständnis dafür zu schärfen, wie die oben genannten Krisen bzw. Problemkomplexe zu einer einzelnen, globalen, vielschichtigen Krise mit einer gemeinsamen Ursache verschmelzen.

Zweitens: Ein weiterer Unterschied ist der klare und zielgerichtete Fokus auf soziale und ökologische Aspekte, was im Übrigen auch für alle RLS-Projekte und -Konzepte gilt. Diese Orientierung auf Menschen als Selbstzweck – und weg von der Wirtschaft – ist entscheidend, da eine rein wirtschaftliche Entwicklung keine bessere Zukunft für alle bringt. Die bloße Neuauflage ökonomischer Rezepte und Mechanismen der Vergangenheit – wenn auch mit einem etwas grüneren Anstrich, wie unter dem Banner der «nachhaltigen Entwicklung» meist der Fall ist – wird zur Lösung der gegenwärtigen Mehrfachkrise nicht ausreichen.

Das sozial-ökologische Verständnis von einer globalen Mehrfachkrise geht mit einer klaren Ablehnung des hegemonialen neoliberalen Dogmas von unendlichem Wachstum einher. Auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen ist grenzenloses Wachstum nicht möglich. Daher gilt es, der vorherrschenden Meinung, dass soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung nur durch Wachstum ermöglicht werde, etwas entgegenzusetzen. Wir müssen verstehen, dass soziale Ungerechtigkeit unmittelbar mit der Frage des ökologischen Überlebens zusammenhängt und beides gleichermaßen im Zentrum der Debatten über unsere Zukunft stehen muss.

Es lassen sich vier destruktive Sektoren identifizieren, die die größte Bedrohung für unsere natürliche Lebensgrundlage darstellen: Energie, Verkehr, Landwirtschaft (einschließlich der Agrarindustrie) und Sicherheit/der militärisch-industrielle Komplex. Hinsichtlich der Verschärfung der vielfältigen aktuellen Krisen spielen insbesondere die gegenseitigen Abhängigkeiten und Verbindungen zwischen diesen vier Sektoren und dem globalen Finanzsystem sowie dem Tech-Sektor eine wichtige Rolle.

Dieses destruktive Quartett ist für die schädlichsten Formen der Umweltverschmutzung und den höchsten Verbrauch fossiler Brennstoffe verantwortlich. Die globale Energieversorgung wird etwa zu 80 Prozent aus fossilen Brennstoffen gewonnen. Allein auf den Verkehrssektor entfallen mehr als 60 Prozent des globalen Ölverbrauchs und 25 Prozent der Treibhausgas-Emissionen. Damit ist er einer der Haupttreiber des Klimawandels und klimabedingter Migration. Auch die globalisierte, neoliberale Landwirtschaft verursacht gravierende Probleme und Ungerechtigkeiten, darunter Landraub, Verdrängung und Vertreibung,

Monokulturen, Verlust der Biodiversität, Bodendegradation und Dürren—um nur einige wenige zu nennen. Gleichzeitig unterstreicht die kriegsbedingte Zerstörung, darunter durch «Agent Orange» in Vietnam (ein chemisches Entlaubungsmittel, das vom US-Militär eingesetzt wurde), aber auch durch radioaktive Munition in Hiroshima und Nagasaki in Japan sowie an anderen Orten auf der Welt, dass der militärisch-industrielle Komplex aus sozial-ökologischer Sicht alles andere als nachhaltig ist. Darüber hinaus verschlingt er riesige Summen. Dieses Geld fehlt dann in anderen, weniger schädlichen Bereichen.

Die multidimensionalen, zusammenhängenden Krisen werden maßgeblich von diesem Quartett destruktiver Branchen verursacht – und von den Prinzipien, auf denen sie basieren. Sofern Einigkeit in dieser Einschätzung der Problemlage besteht, können wir gemeinsam über eine Lösung nachdenken. Die Entwicklung von Lösungen erfordert die Zusammenarbeit vieler fortschrittlicher Akteur:innen aus aller Welt, die unterschiedliche Erfahrungen und Ideen mitbringen, wie man dem Neoliberalismus mit neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodellen etwas entgegensetzen kann. Wir müssen fragen: Wie können wir eine Gegenmacht zum vermeintlich grünen Kapitalismus aufbauen, der die aktuellen Probleme mit denselben Mitteln lösen will, die sie erzeugt haben?

Und unsere Antwort lautet: sozial-ökologische Transformation. Dabei geht es um eine fortschrittliche, linke Intervention in den Diskurs zu «nachhaltiger Entwicklung», die zum Ziel hat, einen Entwicklungspfad zu überwinden, der soziale Beziehungen und ökologische Diversität zerstört. Sie kombiniert dabei in gleichberechtigter Weise theoretisches und praktisches Wissen innerhalb eines multidimensionalen Ansatzes. Dies bedeutet, dass nicht nur Akademiker:innen und Politiker:innen, sondern auch indigene Gemeinschaften, städtische Stakeholder:innen und andere Akteur:innen ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation haben müssen. Es braucht unterschiedliche ausgewogene und angepasste Lösungen sowohl im Kleinen wie auch im großen Maßstab, und diese müssen gemeinsam entwickelt werden.

Die sozial-ökologische Transformation bildet einen Rahmen für transformative Projekte in aller Welt. Letztlich ist es ein offenes Konzept, das es auf breiter Basis und mit so vielen Partner:innen wie möglich weiterzuentwickeln gilt. Unter den an der Diskussion beteiligten Akteur:innen müssen über nationale Grenzen hinweg Netzwerke entstehen, durch die sie mit anderen, die denselben theoretischen Ansatz verfolgen, zusammenarbeiten können. Und schließlich bedarf es der Offenheit für Neues. Wir müssen auf lokale Bedingungen eingehen und sie integrieren, während wir zugleich konkrete Ideen formulieren, wie eine sozial-ökologische Transformation aussehen kann.

Dieses Buch möchte mit der Präsentation acht konkreter Beispiele aus Vietnam einen Beitrag zu dieser Debatte leisten. Zu den Protagonist:innen in den vorgestellten Projekten zählen Forscher:innen, Jugendarbeiter:innen und Menschen, die sich teils seit Jahrzehnten für Naturschutz und eine nachhaltige Koexistenz von Mensch und Natur engagieren. In acht Beiträgen sollen ihre Perspektiven für die Diskussion über die globale sozial-ökologische Transformation fruchtbar gemacht werden.

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