Mit diesem Text wollen wir einen Stein ins Wasser werfen, von dem wir hoffen, dass er Wellen schlägt: Wir wollen eine Debatte darüber anstoßen, was heute unter Sozialismus verstanden werden kann. Ausgangspunkt dafür war ein Podium auf der Sommerakademie der Bewegungslinken 2023, bei dem es um inhaltliche Zukunftsvorstellungen der Linken ging. Warum wir als sozialistische Partei nicht zu einer halbwegs populären Erzählung zum Sozialismus in der Lage seien, wurde von mehreren Teilnehmer*innen gefragt.
An dieser Kritik ist etwas dran. Die gesellschaftliche Linke und die gleichnamige Partei sind erprobt darin, gesellschaftliche Missstände zu benennen. Schon deutlich unsicherer sind sie in der Analyse, ob und wie die vielfältigen Krisen der Gegenwart miteinander zusammenhängen und sich verschränken. Und meist sehr leise werden sie, wenn über Alternativen zum Kapitalismus gesprochen werden soll. «Zu weit weg», «gerade völlig unrealistisch», «Wer will das und wer soll für diesen Systemwechsel sorgen?» wird oft eingewandt, um die Systemfrage gedanklich weit in die Zukunft zu verschieben.
Wir sind jedoch davon überzeugt, dass wir näher beschreiben und benennen müssen, wie eine Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte. Die Linke braucht einen Sozialismusbegriff, der den Unterschied zu den gescheiterten Versuchen des realen Sozialismus deutlich macht. Dabei geht es nicht um Szenarien des «Wünsch-dir-was», sondern um das Aufgreifen und Weiterentwickeln von Ansätzen, für die im Kapitalismus schon heute gekämpft wird. Das sind vor allem Beispiele der Selbstorganisierung, der Solidarität, des Gemeinwohls und der Basisdemokratie, die in der Gesellschaft immer wieder entstehen, nicht selten von den Gesetzen des Marktes und der Kapitalverwertung aber auch schnell wieder zerstört werden.
Gerade in Zeiten der Rechtsverschiebung und Faschisierung ist es politisch verheerend, wenn sich Linke darauf beschränken, die bürgerliche Demokratie (mit ihrer sozialen Ungleichheitsordnung) gegen rechts zu verteidigen. Stattdessen brauchen wir eine realistische Vorstellung einer Alternative, also: Wie lässt sich ein besseres Leben erreichen, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden? Wir brauchen ein Projekt, das der übergroßen Mehrheit der Menschen befriedigendere Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen ermöglicht als die verkrüppelten Angebote eines Kapitalismus, dessen Destruktivkräfte zu einer Gefahr für das Überleben eines großen Teils der Menschheit geworden sind.
Dass wir eine überzeugende Antwort auf die Frage geben können, was wir heute unter Sozialismus verstehen, ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die gesellschaftliche Linke stärker werden und auch wieder in die politische Offensive kommen kann. Diese Broschüre verstehen wir als Diskussionsangebot an die vielen nicht nur jungen Menschen, die sich in linken Zusammenhängen, Initiativen, Bewegungen oder in der Partei Die Linke engagieren und sich Gedanken über eine antikapitalistische Alternative machen.
Der Kapitalismus habe es im 21. Jahrhundert geschafft, sich als völlig alternativlos zu präsentieren, resümierte der Kulturkritiker Mark Fisher vor einigen Jahren. Wenn wir die Hegemonie des sich als alternativlos gebärdenden Kapitalismus erschüttern wollen, müssen wir uns um eine positive Erzählung bemühen. Auf den folgenden Seiten versuchen wir zu erklären, warum wir dieses Projekt nach wie vor als Sozialismus bezeichnen.
Bernd Riexinger und Raul Zelik Stuttgart/Berlin
Autoren
Bernd Riexinger ist Mitglied des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Bundestagsabgeordneter für Die Linke. Zuvor war er viele Jahre Geschäftsführer von ver.di in Stuttgart und ehemaliger Ko-Vorsitzender der Partei Die Linke.
Raul Zelik ist Autor und Übersetzer. Derzeit arbeitet er bei der Tageszeitung nd. Zuletzt ist von ihm «Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus» (2020) bei Suhrkamp erschienen.