Die Debatten und die tatsächlichen Herausforderungen der Migrationspolitik in Deutschland fallen weit auseinander. Ausgelöst durch Ereignisse wie den Angriff Russlands auf die Ukraine, die anhaltende Krise der Migrationspolitik in der EU und den Aufstieg migrationsfeindlicher Parteien wie der AfD liegt der Fokus zunehmend auf der Bekämpfung «irregulärer Migration», wobei Sicherheits- und fiskalische Argumente im Vordergrund stehen. Dies zeigt sich in den vorgeschlagenen migrationspolitischen Maßnahmen sowie in der Reform des europäischen Asylsystems (GEAS) durch die EU. In diesem Policy Brief wird ein Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik gefordert, der Investitionen in soziale Infrastruktur, eine bessere Integration von Geflüchteten und eine Neubewertung des Verhältnisses von Migration und Sicherheit umfasst.
Gian Mecheril studierte Politikwissenschaft, Soziologie und interdisziplinäre Antisemitismusforschung in Frankfurt am Main und Berlin. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen und aktivistischen Praxis sind Grenz- und Migrationsregime, Berechtigungsordnungen, Rassismus und Antisemitismus.
Mit der größten Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg infolge von Russlands Angriff auf die Ukraine, der anhaltenden Krise der europäischen Migrationspolitik sowie den Konflikten um deren Neuausrichtung, den massiven Wahlgewinnen der AfD und zuletzt dem islamistisch motivierten Messerangriff in Solingen haben die Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der deutschen Asyl- und Einwanderungspolitik deutlich an Schärfe gewonnen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit migrationspolitischer Debatten und verschiedener hastig verabschiedeter Maßnahmen steht nicht so sehr die Migration selbst, sondern die Bekämpfung der sogenannten «irregulären Migration» (siehe hierzu Infokasten). Zunehmend wird eine der grundlegenden Lehren aus dem Nationalsozialismus, dass es eines individuellen Asylrechts bedarf, verworfen. Die Aufnahme schutzsuchender Menschen droht zu einem humanitären Akt zu verkommen, den sich Deutschland finanziell und sicherheitspolitisch leisten können muss.
«Irreguläre Migration»: Der Begriff war lange Zeit eher im rechten Politikspektrum präsent, gehört mittlerweile aber zum gängigen Sprachgebrauch der offiziellen Politik. Im Zusammenhang mit Migration bezieht sich irregulär auf eine Einreise bzw. den Grenzübertritt von Menschen aus Nicht-EU-Staaten ohne vorherige behördliche Genehmigung der Einreise und des Aufenthalts in Deutschland (bspw. durch Visa). Vor dem Hintergrund, dass für immer weniger Menschen reguläre Einreisemöglichkeiten zur Verfügung stehen und Resettlement- und humanitäre Aufnahmeprogramme der Bundesregierung versagen, gerät ein Großteil der Fluchtmigration zur «irregulären Migration» und wird sprachlich mit Kriminalität in Verbindung gebracht.
Vor dem Hintergrund der alternden deutschen Gesellschaft gehen Wirtschaftsverbände und -forschung von einem hohen Bedarf an Zuwanderung aus, um das aktuelle Erwerbspersonenpotenzial zumindest relativ stabil halten zu können (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2021). Auf diese Prognosen reagierte die Bundesregierung im Rahmen ihrer sogenannten Fachkräftestrategie mit einer Reihe von Maßnahmen, darunter immer mehr Migrationsabkommen mit sogenannten sicheren Herkunftsländern, um zum einen aus ihnen benötigte Arbeitskräfte anzuwerben und zum anderen um mehr abgelehnte Asylbewerber*innen dorthin abschieben zu können.
Hier offenbart sich ein Widerspruch der deutschen Migrationspolitik: Einerseits werden Maßnahmen ersichtlich, die sich an der Förderung von Einwanderung zur Sicherung des Erwerbspersonenpotenzials und des Fachkräftebedarfs in Deutschland ausrichten. Andererseits stellen aktuelle migrationspolitische Maßnahmen einen Versuch dar, Fluchtmigration zu verhindern, und ihre diskursive Begleitung befördert gesellschaftliche Spaltungen sowie rassistisches Denken und Sprechen über sämtliche mit Einwanderung zusammenhängende Aspekte und Belange.
Positionen in der aktuellen Debatte
- Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) forderte die Streichung des individuellen Rechts auf Asyl aus dem Grundgesetz, Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) die rechtswidrige Zurückweisung von Schutzsuchenden an deutschen Grenzen, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz einen Aufnahmestopp für Menschen aus Syrien und Afghanistan und Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete im Oktober 2023 im Spiegel: «Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.»
- Die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben bestätigt, was Wissenschaftler*innen schon immer betont haben: Auch mit harter und mitunter rassistischer Antimigrationsrhetorik der bürgerlichen Parteien ist den Wahlerfolgen der AfD nicht beizukommen. Auch wenn die Entscheidung, AfD zu wählen, vermutlich von verschiedenen Faktoren abhängt, ist Migration und Flucht doch eines der zentralen Themen, über das die AfD weiterhin mobilisieren und politisch Einfluss nehmen kann.
- Die Begrenzung von Fluchtmigration stellt eines der zentralen gemeinsamen politischen Projekte der EU dar. So wurde im Mai 2024 nach jahrelangem Ringen eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) beschlossen – nicht etwa, um endlich solidarische Verteilungsmechanismen von Geflüchteten innerhalb der EU durchzusetzen oder um Fluchtwege in die EU sicherer zu machen. Vielmehr stellt die Reform einen «historischen Tiefpunkt für den Flüchtlingsschutz in Europa» (Pro Asyl) und «die größte Einschränkung des europäischen Asylrechts seit seiner Etablierung» (medico international/kritnet) dar.
- Gleichzeitig lassen sich in der aufgeheizten Migrationsdebatte auch andere Töne vernehmen. NGOs, Wohlfahrtsverbände oder religiöse Organisationen stellen die oftmals populistisch gewendeten migrationsfeindlichen Positionen infrage und mahnen zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards und zu einer evidenzbasierten Versachlichung der Migrationsdebatte.
- Das Grundrecht auf Asyl wird von weiten Teilen der demokratischen Zivilgesellschaft verteidigt. So haben die großen Demonstrationen Anfang des Jahres 2024 mit mehreren Hundertausend Teilnehmer*innen für eine offene und vielfältige Gesellschaft und gegen die «Remigrationspläne» der AfD gezeigt, wie viele Migration als selbstverständlich und begrüßenswert betrachten und diese Position auch politisch äußern und vertreten wissen wollen. Eine erfolgreiche Mobilisierung dieses Solidaritätspotenzials hängt aber auch von der politischen Ansprache und Kommunikation ab.
- Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zur «Willkommenskultur in Krisenzeiten» (2024) bildet hingegen eine ambivalente gesellschaftliche Stimmung hinsichtlich der Zuwanderung nach Deutschland ab: 78 Prozent der Befragten befürchten höhere Belastungen des Sozialstaats, 74 Prozent eine Wohnungsnot in Ballungsräumen und 71 Prozent Probleme in Schulen. Zugleich finden 61 Prozent, dass Zuwanderung das Leben bereichert, 63 Prozent sehen Vorteile für internationale Firmen und 62 Prozent meinen, Migration könne der Überalterung der Bevölkerung entgegenwirken. Diese Daten verdeutlichen, dass der mediale und politische Diskurs über Belastungsgrenzen zunehmend Sorgen über die Aufnahmefähigkeit der Gesellschaft schürt.
Daten zu Migration und Flucht
- Laut UN leben etwa 281 Millionen Menschen auf der Welt außerhalb ihres Geburtslandes. Das ist ein Anteil von 3,6 Prozent der Weltbevölkerung. 117,3 Millionen Menschen waren Ende 2023 auf der Flucht – ein historischer Höchststand und Ausdruck der Omnipräsenz der multiplen globalen Krisen. Der Großteil der weltweit vertriebenen Menschen findet dabei Zuflucht in ihren jeweiligen Nachbarländern, das heißt im globalen Süden.
- In Deutschland lebten Ende 2023 13,8 Millionen Ausländer*innen: 5,1 Millionen Menschen aus EU-Staaten und 8,7 Millionen Menschen aus Nicht-EU-Ländern, die vor allem aus der Türkei, der Ukraine, Syrien, Afghanistan und Russland kommen.
- Ende 2023 hielten sich rund 3,1 Millionen Schutzsuchende in Deutschland auf. Damit leben knapp zwei Millionen mehr EU-Binnenmigrant*innen in Deutschland als Schutzsuchende. Im Jahr 2023 stellten hierzulande 351.915 Personen einen Asylantrag.
- Scholz´ Appell, konsequenter abzuschieben, reiht sich ein in die allseits zu vernehmenden Rufe nach Ausweisungen abgelehnter Asylbewerber*innen. Oftmals wird zur statistischen Untermauerung der Größe des Problems die Gesamtzahl der Ausreisepflichtigen genannt. Zu diesen werden jedoch auch Personen mit abgelaufenem Visum oder Aufenthaltstitel sowie geduldete Asylsuchende gezählt. Werden die Zahlen dahingehend bereinigt, ergibt sich eine Zahl von 18.646 abgelehnten Asylbewerber*innen, die Ende 2023 unmittelbar ausreisepflichtig waren.
- Flüchtlingsbezogene Ausgaben hatten 2023 mit 27,6 Milliarden Euro einen Anteil von etwa 6 Prozent am Bundeshaushalt. Mit 10,6 Milliarden Euro stellten Maßnahmen zur Fluchtursachenbekämpfung den größten Ausgabepunkt dar. 10,4 Milliarden Euro wurden 2023 für Sozialtransferleistungen nach Asylverfahren veranschlagt. Die Bundesländer setzten darüber hinaus zusammen knapp 6,3 Milliarden Euro für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz an.
| 2019 | 2020 | 2021 | 2022 | 2023* |
Zahl der Ausreisepflichtigen zum 31.12. | 249.922 | 281.143 | 292.672 | 304.308 | 250.749 |
davon mit Duldung | 202.387 | 235.771 | 242.029 | 248.145 | 201.084 |
davon ohne Duldung | 47.535 | 45.372 | 50.643 | 56.163 | 49.665 |
Zahl der Ausreisepflichtigen mit einem abgelehnten Asylantrag zum 31.12. | 152.015 | 183.667 | 186.614 | 183.929 | 146.337 |
davon mit Duldung | 130.781 | 163.029 | 168.000 | 167.839 | 127.691 |
davon ohne Duldung | 21.234 | 20.638 | 18.614 | 16.090 | 18.646 |
Anmerkung: *Angaben zum Stichtag 31.10.2023; Quelle: SVR 2024
Überlastung der kommunalen Infrastruktur?!
Die Aufnahme und Integration Geflüchteter ist in Deutschland Aufgabe der Kommunen. Ihre Überlastung ist seit dem «Sommer der Migration» 2015/16 ein zentraler Aspekt in Migrationsdebatte. Eine Befragung von 773 Kommunen durch den Mediendienst Integration und die Universität Hildesheim ergab aber, dass über 70 Prozent die Situation der Unterbringung von Geflüchteten als herausfordernd, aber machbar einstufen (Kühn 2023). Hauptprobleme seien der längere Verbleib auszugsberechtigter Geflüchteter in Sammelunterkünften (86,7 %) sowie ein Mangel an Gebäuden (79,2 %) und Grundstücken (68 %). Allerdings betrachten Kommunen andere Bereiche wie Kinderbetreuung und Ausländerbehörden als stärker belastet. Studien zeigen jedoch, dass viele Überlastungen unabhängig von der Fluchtmigration auf strukturelle Probleme zurückzuführen sind. Exemplarisch dafür:
- Die Zahl der Sozialwohnungen sank zwischen 1990 und 2023 von 2,9 auf 1,1 Millionen.
- Laut Paritätischem Gesamtverband besteht in der Kinderbetreuung ein Mangel von 125.000 Fachkräften.
- Einer weiteren Studie der Bertelsmann Stiftung (2023) zufolge belasten hohe Fallzahlen die Ausländerbehörden, die grundsätzliche Problematik ist jedoch auch auf komplexer werdende rechtliche Rahmenbedingungen infolge häufiger Gesetzesänderungen und auf Personalengpässe zurückzuführen.
Die Überlastung der Kommunen stellt im aktuellen Migrationsdiskurs eines der vermeintlich sachlichsten Argumente für eine Begrenzung der Fluchtmigration nach Deutschland dar. So schreibt der Deutsche Landkreistag (2024) in einem gemeinsamen Positionspapier: «Die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit der Kommunen ist […] erschöpft. Eine strikte Begrenzung der irregulären Migration ist dringend notwendig.» Folgt man den Umfrageergebnissen des Mediendienstes Integration und der Universität Hildesheim, wonach die Kommunen das Problem der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten überwiegend im Mangel an geeignetem (bezahlbarem) Wohnraum sehen, ist der Zusammenhang zwischen Migration und Überlastung der Kommunen weniger eindeutig. Auch für Kitas und Ausländerbehörden gilt: Fachkräftemangel und Unterfinanzierung schaffen Situationen, in denen ein erhöhtes Migrationsvorkommen zu Überforderung führen kann. Daraus die Notwendigkeit der Beschränkung von Migration abzuleiten, statt eine bessere Ausstattung der kommunalen Infrastruktur zu fordern, ist eine politische Entscheidung und keine evidenzbasierte (Migrations-)Politik. Denn es ist wissenschaftlich belegt, dass Kommunen deutlich besser auf aktuelle Flucht- und Migrationsbewegungen vorbereitet sind, die ihre öffentlichen Einrichtungen nach den hohen Einwanderungszahlen Mitte der 2000er-Jahre aufrechterhalten und ausgebaut haben (Kühn u. a. 2024).
Sicherheit und Migration
- In den aktuellen Auseinandersetzungen lässt sich eine deutliche Versicherheitlichung der Migrationsfrage ausmachen. Schon die Silvesternacht 2015/16 in Köln, die einen zentralen Moment für das Kippen der «Willkommenskultur» hin zu einem migrationsfeindlichen Klima in der deutschen Gesellschaft und Politik darstellte, zeigte, wie sehr das Zusammenspiel rassistischer und sicherheitsbezogener Diskurse Einfluss auf migrationspolitische Diskussionen und Maßnahmen hat.
- Auch in dem «Sicherheitspaket» der Bundesregierung, das als Reaktion auf den islamistisch motivierten Messerangriff in Solingen verabschiedet wurde, wird Migrationsabwehr als Lösung für Gewaltprobleme vorgeschlagen. Während kriminologische Studien (z.B. Rausch u.a. 2023) Faktoren wie sozialer Status und Bildung, eigene Gewalterfahrungen oder gewaltverherrlichende Männlichkeitsnormen als Indikatoren für Gewalt- und Messerkriminalität herausarbeiten, verlagert nicht nur die Bundesregierung die Ursachen insbesondere für Messergewalt auf die Herkunft oder Kultur des Täters. Die Dämonisierung der «migrantischen Anderen» erscheint dabei funktional für die Legitimierung der migrationspolitischen Verschärfungen.
- Messergewalt vonseiten Geflüchteter oder anderer Migrant*innen scheint immer wieder breite Debatten über die Gefahr auszulösen, die vermeintlich von «irregulärer Migration» für die deutsche Gesellschaft ausgeht. Weniger Aufschrei lösen hingegen andere Tätergruppen und Taten aus (Perinelli 2024). Wo waren die Sicherheitspakete nach den Messerattacken von Rassisten und Migrationsfeinden auf die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker, auf die CDU-Politikerin Marliese Berthmann oder die FDP-Ratsfrau Katja Hoyer? Wo sind die politischen Sicherheitsdiskussionen und -maßnahmen angesichts der 2.589 rechts, rassistisch und antisemitisch motivierten Angriffe allein im Jahr 2023 (VBRG 2024)? Und wo sind die Diskussionen zu toxischer Männlichkeit vor dem Hintergrund von immer mehr Fällen häuslicher Gewalt gegen Frauen und Femiziden? Es drängt sich die Frage auf, um wessen Sicherheit es in all dem Gerede über Bedrohungen eigentlich geht.
Zusammenfassung und Ausblick
Angesichts globaler Krisen wie Klimawandel, Krieg und Gewalt wird Migration ein zentrales Thema bleiben. Dabei kann es nicht um ein Für oder Wider von Migration gehen, denn Menschen weltweit werden sich weiterhin auf den Weg machen, um dauerhaft oder vorübergehend ein Leben in relativer Sicherheit zu führen. Die politische Frage, um die es geht, ist vielmehr die nach der Gestaltung der Bedingungen, unter denen Menschen heute und in Zukunft migrieren werden. Die Rahmung von Migration als «Mutter aller Probleme» befördert rassistische Argumentationen und erklärt Migrant*innen selbst zum Problem, was auch die Frage nach den allgemeinen Bedingungen aufwirft, unter denen wir heute und in Zukunft zusammenleben wollen.
Mit ihrer aktuellen migrationspolitischen Abwehragenda scheinen die Bundesregierung und die EU vor dem Hintergrund medial so geframter und gesellschaftlich so wahrgenommener «Schockmomente» (Attentate wie die in Solingen, Wahlerfolge rechtsextremer Parteien etc.) Handlungsfähigkeit beweisen zu wollen. Es scheint derzeit, als ob gesamtgesellschaftliche Probleme, die Ausdruck politischer Untätigkeit und Fehlentscheidungen der letzten Legislaturperioden sind, über eine Begrenzung der Migration gelöst werden könnten und sollen. Immer weitere Kürzungen in sozialen Bereichen, die Legitimation rassistischer Einstellungen als «begründete Sorgen», das Scheitern solidarischer Verteilungsmechanismen auf europäischer Ebene oder der Fachkräftemangel sind nur einige Beispiele für solche selbst geschaffenen Probleme und Herausforderungen.
Um diese zu bewältigen, bedarf es jedoch keiner affektgeleiteten Symbolpolitik, die sich vor allem an einer vermeintlich negativen gesellschaftlichen Stimmungslage orientiert, sondern langfristig angelegte, evidenzbasierte und rationale Abwägungen und Entscheidungen. Das gilt auch und insbesondere für das emotional und ideologisch hochgradig aufgeladene Feld der Migrationspolitik. Neben einer evidenzbasierten Politik bedarf es auch einer anderen Erzählung von Migration. Gute Migrationspolitik ist gute Sozialpolitik und gute (weil präventive) Sicherheitspolitik für alle, von der gesamtgesellschaftlich profitiert werden würde. Es braucht wirkmächtige Akteur*innen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien, die all die zivilgesellschaftlichen Stimmen offensiv repräsentieren, die eine solche fordern, aber derzeit so wenig Beachtung finden.
Handlungsempfehlungen
- Sozialen Wohnungsbau intensivieren, schnell und langfristig.
- Kommunale Infrastruktur wie Kitas oder Ausländerbehörden ausbauen und finanziell und personell besser ausstatten.
- Überarbeitung der Unterbringungsregeln für Schutzsuchende. Die Regeln für geflüchtete Ukrainer*innen zeigen, dass es politisch und rechtlich möglich ist, Geflüchtete bei Verwandten, Bekannten oder sonstigen Privatpersonen unterkommen zu lassen, um Massenlager zu vermeiden und Kommunen zu entlasten.
- Kommunale Strukturen und Institutionen langfristig und dauerhaft auf Migrationsentwicklungen vorbereiten und ausbauen. 2015/16 kamen viele Geflüchtete nach Deutschland und es wurden Infrastrukturen geschaffen, die die Kommunen befähigten, ihrer Integrationsaufgabe weiterhin nachzukommen.
- Die Finanzierung kommunaler Infrastruktur auf europäischer Ebene koordinieren und auf diesem Wege solidarische Prinzipien entwickeln, um die Kommunen finanziell zu entlasten, in denen viele Schutzsuchende unterkommen. Bereits bestehende Konzepte wie Solidarity Cities oder The European Integration and Development Fund (vgl. FES 2021) müssten weiter ausgearbeitet und konsequenter umgesetzt werden.
- Gegensatz von Fluchtmigration und Fachkräfteeinwanderung aufheben: Geflüchteten den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt erleichtern.
- Paradigmenwechsel in der europäischen Migrations- und Asylpolitik: solidarische Verteilung von Geflüchteten auf europäischer Ebene und Schaffung sicherer Fluchtwege statt menschenverachtender Abschottung.
- Entkopplung von Sicherheits- und Migrationspolitik: Sicherheit für alle statt Versicherheitlichung der Migrationsfrage.
- Abwendung von der Schuldenbremse und Paradigmenwechsel in der Steuerpolitik zur Finanzierung von dringend benötigten migrations- und sozialpolitischen Maßnahmen.
Literatur
Bertelsmann Stiftung (2023): An den Grenzen. Ausländerbehörden zwischen Anspruch und Alltag,
Bertelsmann Stiftung (2024): Willkommenskultur in Krisenzeiten,
Deutscher Landkreistag (2024): Forderungen des Deutschen Landkreistages für eine Wende in der Migrationspolitik,
FES – Friedrich-Ebert-Stiftung (2021): The European Integration and Development Fund – A progressive approach towards European solidarity,
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2021): Demografische Entwicklung lässt das Arbeitskräfteangebot stark schrumpfen,
Kühn, Boris (2023): Am Limit? Kommunale Unterbringung von Geflüchteten. Forschungsgruppe Migrationspolitik der Universität Hildesheim,
Kühn, Boris/Schammann, Hannes/Bendel, Petra (2024): Integration als Pflichtaufgabe: Holzweg oder Königsweg zu krisenfesten kommunalen Strukturen?,
Perinelli, Massimo (2024): Messer, Merz und Migration. Seit dem Attentat in Solingen herrscht in der Migrationsdebatte Ausnahmezustand,
Rausch, Elena/Hatton, Whitney/Brettel, Hauke/Rettenberger, Martin (2023): Messergewalt in Deutschland: eine empirische Untersuchung zu Risikofaktoren sowie Täter- und Tatcharakteristika, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie (23)17, 327–337.
SVR – Sachverständigenrat Migration und Integration (2024): Kontinuität oder Paradigmenwechsel? Die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre. Jahresgutachten 2024,
VBRG – Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (2024): Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Deutschland 2023: Eine alarmierende Jahresbilanz der Opferberatungsstellen,
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