Publikation HKWM Micky Maus

Micky Mouse ist eine der ikonischsten Figuren der Popkultur. Seine runden Ohren und sein Gesicht sind auf der ganzen Welt sofort erkennbar. Aber warum ist sie zu einer Ikone der fordistischen Kulturindustrie geworden? Dieser HKWM-Beitrag zeichnet verschiedene Interpretationen der fiktionalen Figur nach.

Information

Reihe

HKWM

Autor

Ole Frahm,

Erschienen

Dezember 2024

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Illustration auf dem ersten Farbposter, mit dem für die Micky-Maus-Comics geworben wurde (1928). Wikimedia Commons

Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (HKWM) ist ein marxistisches Lexikon, das nach seiner Fertigstellung 15 Bände und über 1.500 Einträge umfassen wird. Von den bisher erschienenen neun Bänden in deutscher Sprache sind seit 2017 zwei Bände in chinesischer Sprache herausgegeben worden. Im Frühjahr 2019 hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit dem HKWM-Team die «Internationalisierung» des Lexikons auf Englisch und Spanisch vorangetrieben, um eine neue Generation marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt für das Projekt zu gewinnen und seine Leserschaft und Reichweite zu vergrößern. Der unten stehende Eintrag ist Teil einer Auswahl dieser Übersetzungen, die auf unserer Website zur Verfügung gestellt werden. 

Weitere Informationen über das Projekt und andere übersetzte Lexikon-Einträge finden sich in unserem HKWM-Dossier.

A: miki maus. – E: Mickey Mouse. – F: mickey mouse.  – R: mikki-maus. – S: mickey mouse. – C: mǐqí lǎoshǔ 米奇老鼠

M ist eine Kunstfigur, die wie kaum eine andere international verbreitet ist. Ihre kreisrunden Ohren sind samt dem runden Kopf leicht wiedererkennbar. Sie kann aufgrund ihrer geometrischen Abstraktion als Ikone der fordistischen Kulturindustrie gelten. Die meisten weiteren Merkmale der Figur sind, bis noch auf ihre vierfingrigen Handschuhe, veränderlich und wurden unterschiedlichen historischen und medialen Umständen angepasst. Aufgrund ihrer Maskenhaftigkeit, Verbreitung und Ambivalenz zwischen Tier und Mensch lädt sie zu diversen Projektionen ein. Die utopischen, geschichtsphilosophischen Bewertungen der Figur in ihren ersten Jahren vor allem durch Walter Benjamin wichen einer – oft auf das Agieren des Disney-Konzerns insgesamt bezogenen – kritischen Haltung, die – trotz harscher Copyright- Verfolgungen seitens Walt Disneys – von zahlreichen Aneignungen der Figur begleitet wurde.

1. Die anthropomorphe Maus ist erstmals am 18. November 1928 einer größeren Öffentlichkeit in dem schwarz-weißen Zeichentrickfilm Steamboat Willie vorgestellt worden. Die wirkungsvolle Pressearbeit des Kinos machte das Zusammenspiel von Musik und Bild zu einer Sensation (Gabler 2006, 126), die viele weitere Filme des damals unabhängigen Studios Walt Disney Productions ermöglichte. Die Figur wurde bald auch in zahlreichen anderen Medien und Kontexten vermarktet: als Stoffpuppe und Spielzeug, als Motiv auf Uhren, Geschirr, Kleidung und anderen Merchandise-Produkten, denen in der Firma Disneys schon 1929 eine eigene Abteilung gewidmet war (deCordova 1994, 206); ab 1930 als täglicher Comic-Strip, der über viele Jahrzehnte von Floyd Gottfredson geprägt wurde und die Entwicklung der Figur vom anarchischen Abenteurer zum staatstragenden, verantwortlich handelnden Kleinbürger widerspiegelt; in Comic-Heften wie dem Mickey Mouse Magazine (1933-40), die Nachahmungen in zahlreichen, v.a. auch europäischen Ländern fanden (z.B. Topolino in Italien, später Micky Maus in Deutschland); in weiteren Publikationen wie den Big Little Books; bei der Organisation von Fandom in Mickey Mouse Clubs im Rahmen samstäglicher Kino-Matineen, die 1932 bereits eine Million Mitglieder zählten; in Fernsehserien wie dem gleichnamigen Mickey Mouse Club mit seinen Mousketeers (diskontinuierlich von 1955 bis 1996); als Hörproduktionen wie The Mickey Mouse Theater of the Air (1938), später auch auf Schallplatten, Kassetten usw.; seit 1934 als M-Ganzkörper-Kostüme, die ab 1955 in Disneyland zum Einsatz kamen; seit 1981 in zahlreichen Video- und Computerspielen, die inzwischen von der Webseite Mickey Mouse Clubhouse vertrieben werden; in Eislaufshows; und schließlich als Maskottchen, Symbol und Warenzeichen der Walt Disney Company. In dieser Funktion wird sie seit den 1950er Jahren mit der disneyfication in Verbindung gebracht, »diesem schamlosen Prozess, durch den alles, was das Studio später angefasst hat, auf die beschränkten Begriffe Disneys und seiner Leute reduziert wurde« (Schickel 1968/1986, 225), und der disneyization, also dem Vorgang, dass immer mehr gesellschaftliche Bereiche von den Prinzipien der Disney-Themenparks beherrscht werden. Das bedeutet: Narrativierung des Konsums, indem die Produkte mit einer Geschichte versehen werden, und Omnipräsenz des Merchandising und der »performativen Arbeit«, die eine schlichte Dienstleistung »wie auf einer Theaterbühne« und mit emotionalem Überschwang zur Schau stellt (Bryman 2004, 8f). Die freundliche Maus kaschiert dabei nicht zuletzt die miserablen Arbeitsbedingungen in den Themenparks (vgl. Inside the Mouse, 1995) wie auch in den Sweat-Shops, in denen die Merchandise-Produkte hergestellt werden (Budd/Kirsch 2005, 5).

2. Eine kritische Betrachtung muss die mythischen Erzählungen durch den Disney-Konzern mit reflektieren, die die Brüche glätten und die Figur darstellen, als sei sie ein bürgerliches Subjekt mit Charakter, Biographie und Geburtsstunde. Walt Disney hatte seine Rechte an Oswald the Lucky Rabbit an Charles Mintz von Universal Pictures abgetreten und brauchte eine neue Figur, die er auf einer Bahnreise von New York nach Los Angeles skizziert haben will. Es gilt als wahrscheinlich, dass Ub Iwerks, der Animator der frühen M-Filme, die Figur zusammen mit Disney aus Oswald entwickelt (Watts 1997, 51) und sie damit, vom Hasen zur Maus verändert, gewissermaßen »zurückgestohlen« hat (Eliot 1994, 60). Esther Leslie (2002) stellt andere Aspekte in den Vordergrund. Sie interpretiert M als Reflexion der modernen, urbanen Gesellschaft in den 1920er Jahren; sie sei »eine brauchbarere Version« des Schwarzen Quadrats von Kasimir Malewitsch (82). Während Malewitsch damit den Nullpunkt der Malerei behauptete, beginnt mit M die Null zu tanzen; ihre Ohren, die in den ersten Jahren aperspektivisch auch bei Bewegung graphisch gleich bleiben, markieren als schwarze Kreise der Populärkultur deren Transformation durch massenkulturelle Produkte zur Kulturindustrie, wie sie sich in der Weltwirtschaftskrise in den frühen 1930er Jahren formiert. Zugleich darf die Einheit des Signifikanten M nicht über die Heterogenität seiner materiellen Erscheinungen hinwegtäuschen. Die unterschiedlichen Materialitäten der Figur sind weder kohärent, noch auf ein Wesen zurückzuführen, sie fügen sich zu keinem Ganzen, sondern müssen in ihren unterschiedlichen Produktions- und Funktionsweisen, Konstellationen und Aneignungen analysiert werden. Die Entstehung der M ist entsprechend im Kontext anderer Comic- und Cartoonfiguren zu betrachten, vor allem des international erfolgreichen Felix the Cat (1919-36) von Otto Messmer und Pat Sullivan, der auch unter Intellektuellen angesehenen Krazy Kat (1913-44) von George Herriman, dessen komplexer Entwurf zugleich aufgenommen und renaturalisiert wird, oder – nahezu zeitgleich im Entstehen – Bosko (1929-38), der wie eine M ohne Ohren aussieht. Alle diese Figuren sind vom Vaudeville und bes. der Minstrel Show beeinflusst, die sich in Mickeys erst weißen, später gelben vierfingrigen Handschuhen sedimentieren. M sei eine Figur in Blackface, Al Jolson in The Jazz Singer (1927) kopierend (Rogin 1998, 29). Im Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm transformiert und universalisiert M zudem die Figur des Tramps, wie sie Charlie Chaplin sichtbar gemacht hat, und bewahrt so die groteske Ästhetik des Slapstick, bevor diese durch die »klassische Disney-Produktion« ersetzt wird (Wasko 2001, 110-19). Emblematisch steht dafür der erste Feature-Film des Studios, Snow White and the Seven Dwarfs (1937), mit seinem »sentimentalen Modernismus« (Watts 1997, 104f).

3. Die frühe, schwarz-weiße M erhält als »Micki Maus« oder »Micky Maus« in Walter Benjamins Schriften eine geschichtstheoretische Deutung, die sich auf die Filme zwischen 1928 und 1935 bezieht. In einer kurzen Notiz von 1931 (GS VI, 144f), in dem Essay Erfahrung und Armut (1933, GS II, 213-19) und in den ersten vier Fassungen von Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36, GA 16) entfaltet Benjamin das utopische Potenzial der ambivalenten Figur als »dialektisches Bild« (Hansen 1992/2012, 179), mit dem »ein Dasein, das [...] sich selbst genügt«, als »erlösend« erscheint (Benjamin, GS II, 218). Die auf ein Gespräch mit Gustav Glück und Kurt Weill zurückgehende Notiz formuliert Thesen darüber, warum »das Publikum sein eignes Leben« in den Filmen »wiedererkennt« (GS VI, 145): die Fragmentierung, das Hybride, das Narrativ des Märchens; vor allem reflektiert sich in den Filmen, dass »die Erfahrung [...] im Kurse gefallen« ist (GS II, 214). In einem eigenen, in der letzten Fassung dann gestrichenen Abschnitt des Kunstwerk-Aufsatzes wird das »kollektive Gelächter«, das die M-Filme auslösen, als »psychische Impfung« gegen »sadistische Phantasien und masochistische Wahnvorstellungen« durch »vorzeitigen und heilsamen Ausbruch« von Massenpsychosen verstanden (GA 16, 84; vgl. Lindner 2004, 155). Das »Gelächter«, notiert Benjamin an anderer Stelle in Bezug auf die oft im Zusammenhang mit M genannten Filme Chaplins, »lockert die Masse auf« (GS VI, 103), und gewinnt so dieselbe Funktion wie der »Klassenkampf«, der »die kompakte Masse der Proletarier auflockert« (GA 16, 123, Fn.). Theodor W. Adorno hat 1938 Benjamins Theorie des Lachens kritisiert und »das Lachen der Kinobesucher [...] des schlechtesten bürgerlichen Sadismus« bezichtigt (Briefwechsel, 171f). In dieser Linie argumentiert er auch mit Max Horkheimer im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung, wo sie zwar Benjamins Utopie der Trickfilme »als Exponenten der Phantasie gegen den Rationalismus« indirekt würdigen, aber gleichsam in einer Historisierung zu beobachten meinen, dass »sie bloß noch den Sieg der technologischen Vernunft über die Wahrheit« bestätigen (DA, Adorno GS 3, 160). Leslie zeigt, dass die Trickfilme für Adorno und Horkheimer eine Schlüsselposition in der Analyse der Kulturindustrie einnehmen (2002, 170). Im Amüsement üben die Zuschauer das masochistische Verhalten ein. Das Lachen lockert die Massen nicht auf, sondern diese seien »Monaden«, die als »Kollektiv der Lacher [...] die Menschheit [parodieren]« (DA, 149). Diese Einschätzung bezieht sich ausdrücklich auf Cartoons mit Donald Duck, wie sie seit 1937 in die Kinos kamen. Sie deckt sich mit Benjamins Befürchtung, die farbigen »Micky-Maus-Filme« nähmen die »Bestialität und Gewalttat als Begleiterscheinung des Daseins gemütlich in Kauf« (GA 16, 132f). Das deutet auf die »Verwendbarkeit der disneyschen Methode für den Faschismus«, die er offenbar genauer betrachten wollte (146). Denn nach anfänglicher Ablehnung war die Maus eine zeitlang in NS-Deutschland gern gesehen und zierte sogar eine Flugzeug-Staffel der Legion Condor (Laqua 1992, 106).

Auch Siegfried Kracauer kritisiert die Entwicklung der Filme Disneys, aber mit einem anderen Akzent: Statt das »Unwirkliche darzustellen«, folgten die Feature-Filme Disneys der »Kamera-Realität«, ordneten sich ihren Einstellungen unter (Theorie des Films, Werke 3, 156). Dementgegen formuliert er in seiner Rezension von Dumbo (1941), dass der »Zeichenfilm die Auflösung der konventionellen Realität« anstrebe (Werke 6.3, 334). Schon im Marseiller Entwurf (1940/41) favorisiert er »die Materialisierung imaginierter Phänomene«, wie sie in den frühen M-Filmen gegeben ist, weil hier der »eigentliche Träger der Handlung [...] der Materialisierungsprozess selber« sei (Werke 3, 647) und damit die Frage ins Spiel komme, wie sich kollektive Imaginationen nicht nur herstellen, sondern auch bearbeiten ließen. Doch diese Überlegungen führt Kracauer nicht weiter aus. Miriam Bratu Hansen liest die Zeichentrickfigur im Anschluss an Benjamin als eine »Unterbrechung des katastrophischen Kontinuums der Geschichte« (1992/2012, 170), nicht zuletzt weil sie durch ihren hybriden Status zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen Mensch und Tier, körperlichen und maschinellen Energien als »Antidot gegen die gewaltsame Wiederkehr des von der modernen Zivilisation Verdrängten« fungiere (165). Bildraum und Kollektivleib durchdringen sich in M gegenseitig und lassen das so entstehende »optische Unbewusste« als erlösend erscheinen (178). Anders als ihre »blackness« könne dies nicht auf eine einfache Differenz reduziert werden, sondern löse als hybride Figur gängige Dichotomien auf (179).

4. Ein Echo der Bewertungen und Analysen der Frankfurter Schule, bes. der Kritik an der Figur Donalds, findet sich in Ariel Dorfman und Armand Mattelarts Analyse Walt Disneys »Dritte Welt«, die 1971 in Chile veröffentlicht und nach dem Putsch wie viele andere linke Bücher dort verbrannt wurde. Aus Benjamins Utopie der »erdumkreisenden M« (GA 16, 84) ist die Bedrohung durch eine »große, weltumspannende Disney-Familie« geworden, die »jede kritische Analyse abzuwürgen« versucht, indem sich verschiedene selbstreferenzielle »Kreise« – rund wie die Ohren der Maus – schließen (Dorfman/Mattelart 1977, 151): »Der Leser lässt sich von dem sich unterhaltenden Mickey unterhalten« (114) ist die Formel, mit der die Autoren die Analyse des Funktionierens des »Spektakels« (113) durch die Situationistische Internationale aufnehmen. Zwar widmet sich ihre Studie vorrangig Carl Barks’ »unvollkommenem Donald«, doch sie erkennen in M den »Herren dieser Welt und Agenten Disneys«, der »die Macht der Repression in ein Faktum des alltäglichen Lebens auflöst« und »Wohltätigkeitslotterie und Geheimdienst« (144) in einem bildet. Ihre Utopie ist eine Welt ohne Disney: »was nach Disney kommt, wird aus der sozialen Praxis der Massen entstehen« (160). Dieser Einschätzung widerspricht Douglas Brode in Bezug auf die us-amerikanischen Massen: »Disneys Unterhaltung dient dazu, diese Massen zu erzürnen und zu befreien« (2004, xxvii). In Motiven, Erzählstrukturen und Figuren wären einige zentrale Elemente der counterculture der 1960er Jahre vorbereitet worden.

Brodes Interpretation entkräftet keineswegs die vielschichtige Kritik der Disney Studies, wie sie sich ausgehend von Richard Schickels Studie von 1968 entwickelte und durch den erneuten Aufschwung des Konzerns inspiriert wurde, der unter der ›Team Disney‹ genannten Leitung aus Michael Eisner, Jeffrey Katzenberg und Frank Wells zu einem der größten der Welt gemacht wurde. Allerdings konnte sich Susan Willis noch 1993 darüber wundern, dass es keine ernste Kritik an Disney gäbe (1). Inzwischen umfasst die Kritik neben der Geschichtsschreibung des Konzerns (Watts 1997) auch die Rolle Walt Disneys selbst, der in den späten 1940er Jahren als FBI-Informant tätig war (Eliot 1994), sowie den Ansatz, die »ideologischen Konturen der Ökonomie, Politik und Pädagogik« der Disney-Filme als »Vehikel kultureller Produktion« zu kartieren (Bell/ Haas/Sells 1995); kritisiert wird die übertriebene Wahrung eines »sauberen Images«, das die Propagierung heterosexueller, familien- und sicherheitsorientierter Inhalte einschließt, aber die schlechten Arbeitsbedingungen in den Vergnügungsparks verdrängt.

Neben Versuchen, Dorfmans und Mattelarts Polemik dekonstruktiv an den Disney-Filmen der 1990er Jahre fortzusetzen (Byrne/McQuillan 1999) sowie Rassismus und die neueren Strategien der Vermarktung der Diversität der Filme zu analysieren (Cheu 2013), gibt es Kritik an der in den Themenparks entworfenen widerspruchsfreien Geschichte (Wallace 1996) sowie die Untersuchung globaler Publikumsstrukturen (Wasko/Phillips/Meehan 2001). Während frühere Ansätze die durch die kindlich unschuldigen Produkte tabuisierte Kritik an der kapitalistischen Produktion des Disney-Konzerns problematisierten, gehen neuere Ansätze davon aus, »dass wir heute alle Walts Kinder sind« (Budd/ Kirsch 2005, 12) und Kritik nur eingedenk dieser Voraussetzung möglich sei.

5. Der Kontur der M ist nicht nur die Silhouette des Filmprojektors mit seinen zwei Filmrollen eingeschrieben (Rickels 1991, 66), sondern auch die Rationalisierung und Taylorisierung des Produktionsprozesses von Zeichentrickfilmen, der allerdings erst Ende der 1930er Jahre von Disney nach fordistischen Maßgaben organisiert wurde. Die leichte Reproduzierbarkeit führte schon früh zu anderen Aneignungen, von pornographischen, meist achtseitigen Tijuana Bibles oder Fuck Books, die Mickey, Minnie und Donald in den 1930er Jahren in sexuell expliziten Szenen zeigen, über Horst Rosenthals selbst produziertes Heft Micky in Gurs, das seine Inhaftierung im Lager Gurs 1942 mit der Figur der Maus erzählt, um vor allem durch deren Internationalität die Absurdität der nazistischen Rassenideologie auszustellen, bis zu Will Elders Mickey Rodent!, das Anfang 1955, wenige Monate vor der Einweihung von Disneyland, zahlreiche Implikationen der Disney-Welt parodiert. 1971 schöpfen die Air Pirate Funnies das Potenzial der Figur im Rückbezug auf die Fuck Books aus und stellen mit ihrem Slogan ›Die Linie gehört uns‹ das Copyright an der Figur parodistisch in Frage (Frahm 2010, 308), verlieren allerdings die sich über Jahre hinziehende juristische Auseinandersetzung mit Disney (Levin 2003). Dem Konzern wird immer wieder eine obsessive Kontrolle des Copyrights vorgeworfen (Budd/Kirsch 2005, 5). Die für die Comics folgenreichste Interpretation der M bildet Art Spiegelmans Maus. A Survivor's Tale (1980-91), dessen Darstellung der Shoah international wahrgenommen wurde und dazu beitrug, die Graphic Novel als Format zu etablieren. Die Juden werden mit Mäuseköpfen gezeichnet, was nicht zuletzt die übliche Ablehnung der M in nazistischen Publikationen als »jüdisch« reflektiert (Laqua 1992, 35f).

Die Praxis des Disney-Konzerns, die Geschichte von Widersprüchen zu reinigen, betrifft auch die eigenen Figuren, deren Vieldeutigkeit und Ambivalenz keineswegs ausgereizt wird. Auch wenn John Updike behauptet, dass M ihre Herkunft »aus dem Proletariat der dreißiger Jahre« nie abgestreift habe (1992, 13), bleibt dies – neben der jazzigen Maus, der jüdischen Maus, der Blackface-Maus, der Douglas-Fairbanks-Maus, der befreienden Maus, der Maus als asexueller Maschine, der biederen Maus – nur eine ihrer vielen Masken. Ihre historische Wahrheit gibt sich nicht hinter diesen Masken, sondern in den Konstellationen dieser Projektionen zu erkennen, deren Analyse immer Gefahr läuft, noch in der Beschreibung ihres Funktionierens nur eine weitere Projektion hinzuzufügen.

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Ole Frahm

 

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