Publikation Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Kommunikation / Öffentlichkeit Wählen macht doch (k)einen Unterschied

Klassenförmige De- und Remobilisierung bei Nichtwähler*innen

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Reihe

Studien

Autor

Mario Candeias,

Erschienen

Januar 2025

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Seit Jahren ist bekannt, dass vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen eine asymmetrische Wählermobilisierung aufweisen und im Durchschnitt seltener von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen als andere. Bekannt ist aber auch, dass Menschen dieser – in der Realität sehr heterogenen – Wähler*innengruppe alles andere als «unpolitisch » sind, aber aus Erfahrung, Enttäuschung und/oder Überforderung von Wahlen keine für ihr Leben positive Veränderung mehr erwarten.

Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, in Erfahrung zu bringen, welche Sorgen und Nöte, welche politischen Präferenzen und Prioritäten Nichtwähler*innen haben (oder eben nicht haben), vor allem aber, was sie aus ihrer Sicht bewegen könnte, wieder aktiv an Wahlen teilzunehmen oder sich darüber hinaus politisch zu engagieren. Dazu haben wir in sechs ausgewählten sogenannten benachteiligten Vierteln Interviews geführt, in denen überdurchschnittlich viele Menschen mit geringen Einkommen, mit Bürgergeldbezug, in prekären Lebenslagen etc. leben und in denen die Partei Die Linke bei früheren Wahlen gute Ergebnisse erzielt hatte. Es handelt sich um folgende Viertel: die Berliner Gropiusstadt, die Leipziger Großwohnsiedlung Lößnig, Rostock Lütten Klein, die Göttinger Weststadt, Köln-Chorweiler sowie Bremen Tenever.

Es wurden 193 Haustürgespräche geführt, davon 50 mit Nichtwähler*innen, außerdem zehn Tiefeninterviews mit Nichtwähler*innen. Zudem wurden quantitative Daten aus vorangegangenen Befragungen speziell zu Nichtwähler*innen ausgewertet, Expert*inneninterviews geführt und Literatur zum Thema aufgearbeitet.

Insgesamt hat Die Linke immer noch ein Wähler*innenpotenzial von etwa 16 Prozent, so eine repräsentative Umfrage von Ende September 2024 – das sind fast 9,8 Millionen potenzielle Wähler*innen. Darunter befinden sich insbesondere Menschen mit geringen Haushaltseinkommen, und auch zahlreiche Nichtwähler*innen. Diese Gruppe ist in unseren Untersuchungen zahlenmäßig mit Abstand die größte: Im linken Potenzial sind es rund 1,7 Millionen Nichtwähler*innen.

Deutlich stärker als die übrige Bevölkerung fühlen sich Nichtwähler*innen zu fast 70 Prozent von der Inflation betroffen. Sie beklagen, dass ihnen am Ende des Monats Geld fehle, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Besonders bei Energie, Lebensmitteln und Mieten kommt es zu einem Anstieg der Lebenshaltungskosten, der besonders ärmere Haushalte trifft, weil Grundgüter des täglichen Bedarfs hier einen wesentlichen höheren Anteil des verfügbaren Einkommens ausmachen als bei Haushalten mit höheren Einkommen. Die Reallohnverluste der Vorjahre konnten zwar teilweise kompensiert werden. Insgesamt liegt das preisbereinigte Niveau der Tariflöhne jedoch immer noch deutlich unter dem Spitzenwert des Jahres 2020. Beschäftigte ohne Tariflohn, vor allem im Niedriglohnsektor, bleiben hinter dieser Entwicklung zurück. Wir können von einer großen Schnittmenge von Armutsbetroffenen in benachteiligten Vierteln und Nichtwähler*innen ausgehen.

Bei den Fragen zu den persönlich wichtigsten politischen Problemen offenbaren sich häufig ganze Bündel von miteinander verwobenen sozialen und anderen Problemen, die den Einzelnen unter den Nägeln brennen. Thematisch stehen Miete und Wohnen, Löhne und Renten sowie die Preisentwicklung ganz weit vorn. Auch die Gesundheit und die Sorge, noch mithalten zu können, spielen eine wichtige Rolle, ebenso wie die Abwehr der Hetze gegen Bezieher*innen von Bürgergeld.

«Kein Urlaub drin, kein Auto, Supermarkt teuer, Pulli und Decken statt Heizen, … die Angst vor Wohnungsverlust» – bald reicht es nicht einmal mehr für «das Nötigste zum Leben».

«Es wird alles immer härter, mehr Konkurrenz, mehr Druck, mehr Leistung wird verlangt, aber [es gibt] nicht mehr Geld.»

Durch alle Antworten dringt das Leiden an fehlender Anerkennung, am mangelnden Respekt für das Leben unter schwierigen Bedingungen und für die Leistung, auch unter benachteiligenden Verhältnissen einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Dies verbindet sich bei vielen Befragten mit dem Eindruck, keine Perspektive einer Verbesserung der eigenen Situation sowie der politischen Verhältnisse insgesamt zu haben.

«Auch im Supermarkt bekommst du gefühlt ein Drittel weniger fürs gleiche Geld. Man muss schon mehr rechnen. … und am Ende landest du in der Armutsrente.»

«Das Geld reicht gerade so, man muss jeden Cent zweimal umdrehen, alles wird teurer.»

Die einzelnen Themen sind als Probleme lange bekannt und kommen deshalb eigentlich nicht überraschend. Doch wie stark sich die Probleme verdichten, der Druck steigt und aus Sorgen Ängste werden, ist doch sehr eindrücklich. Nichtwählen ist in den unteren Teilen der Klassenhierarchie dann überwiegend ein Akt, in dem sich Unzufriedenheit mit der Politik und zunehmend Fatalismus äußern. So sagt in unserer Befragung eine alleinerziehende Arzthelferin und Aufstockerin:

«Ich verstehe die Politik nicht. Hat nichts mit mir zu tun, mit meinen Interessen. … keiner redet von den Gehältern, vor allem für Frauen, in den Gesundheitsberufen, oder mehr Zeit. Oder den Preisen, alles immer teurer, oder die Wohnungsprobleme.»

Die Belastungen verstärken die Angst vor einer Verfestigung von Armut und Überforderung. Politische Teilhabe setzt ja nicht nur politisches Interesse, sondern «auch das Gefühl voraus, durch dieses Handeln Einfluss ausüben zu können» (Brülle/Spannagel 2023). Somit ist das Desinteresse auch eine Reaktion auf das wahrgenommene Desinteresse des politischen Betriebs – auf die Kränkung, nicht gemeint zu sein, wenn es um die Probleme im Lande geht, bzw. stets nur negativ vorzukommen.

«Interessiert mich irgendwie nicht, hat nichts mit mir zu tun … und die Politiker interessieren sich ja auch nicht für uns.»

Die «mangelnde Responsivität der Parlamente» (Schäfer/Zürn 2021) befördert ebenjene Bewegung der Demobilisierung der Armen und Ausgebeuteten wie der (klassenübergreifenden) Remobilisierung aufseiten der radikalen Rechten.

Erfahrungen mit Haustürgesprächen zeigen allerdings: Die Leute sind schon an Politik interessiert, sie haben viel Kritik an den Verhältnissen, aber sie erwarten von Parteien und Wahlen eben relativ wenig. Auch von der Linken nicht – sofern ihre Positionen überhaupt bekannt sind, wird nicht oder nicht mehr angenommen, Die Linke könnte einen Unterschied machen. Aber umgekehrt gilt auch: Wenn Nichtwähler*innen angesprochen werden, etwa von Aktivist*innen von Parteien oder zivilgesellschaftlichen Initiativen wie «Deutsche Wohnen & Co. enteignen», nimmt die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen zu. Menschen mit geringer Wahlneigung sind zwar nur schwer davon zu überzeugen, wählen zu gehen. Zugleich äußern viele aber die Erfahrung, dass sie von niemandem gefragt würden, sich niemand für sie interessiere. Tatsächlich werden Nichtwähler*innen besonders selten angesprochen: Fast alle Interviewten äußern, dass sie nicht angesprochen würden, es an Informationen und Kontakt mangele.

Elemente einer Mobilisierung von Nichtwähler*innen sind: mehr Informationen mithilfe direkter Ansprache vor Ort verfügbar machen; mehr Orte für Begegnung und niedrigschwellige Mitmachangebote schaffen. Artikuliert wird in den Interviews der Wunsch nach einer Partei, «die sich einsetzt», die «hilft und gegenhält», die «anders ist».

Als Motivation, vielleicht doch zu wählen – und zwar links – wird besonders häufig der Aufstieg der radikalen Rechten genannt – vielleicht der stärkste Grund in unserer Befragung.

«Man bekommt richtig Angst, wenn man die Nachrichten mitbekommt. Ganz schön unübersichtlich alles. … alle gehen nach rechts … ohne Die Linke, bei allen Bauchschmerzen, wenn die nicht mehr da ist, bringt halt keiner sonst diese Sicht ein, macht ja keiner.»

Der Eindruck «alle gehen nach rechts» spiegelt sich auch in der Aussage einer Bürgergeld-Empfängerin aus Köln-Chorweiler wider: «Angst macht mir die Hetze gegen Leute wie mich, die Sozialhilfe bekommen.» Sie selbst sei gesundheitlich angeschlagen; ihre Möglichkeiten, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, seien eingeschränkt. «Und trotzdem bekommt man vermittelt, ich wäre faul, arbeitsscheu, will nur abkassieren … das ist ja jetzt nicht nur die AfD oder CDU/CSU, das sind ja fast alle, das Fernsehen, die Nachrichten, auch das eigene Umfeld … da wird nach unten getreten, als gäb’s keine anderen Probleme … für anderes können die aber Milliarden raushauen … es reicht doch nicht mal mehr für vernünftig was zu essen, wo soll denn das enden?» Die herrschende Politik hat nicht nur nichts oder wenig mit den Interessen der Befragten zu tun, sie richtet sich sogar vermehrt direkt gegen sie, so der Eindruck.

Dennoch könne der Urnengang aus Sicht der Interviewten sinnvoll sein – nämlich dann, wenn sie «das Gefühl» hätten, «dass das was bringt»:

«Wäre schon gut, wenn wenigstens eine Partei sagt, was wir denken. Aber müsste sie halt auch laut machen, sodass man das nicht überhören kann« – als Stimme und Verstärker derjenigen, «die jeden Tag schuften, und am Ende des Monats reicht es doch wieder nicht» – das müssen «die da oben mal mitbekommen».

Während sich etliche Nichtwähler*innen im Gespräch durchaus offen für eine Wahlbeteiligung und auch einer Wahl der Linken zeigen, so sind eine grundlegende Skepsis und mangelndes Vertrauen bei vielen doch tief eingeschrieben und nur schwer aufzubrechen. Es fehlt auch an persönlichen Ressourcen:

«Wählen ist echt mein geringstes Problem. Ich bin froh, wenn ich mit dem ganzen anderen Mist zurechtkomme. Habe gar keine Zeit oder Nerven, mich damit zu befassen.»

Entscheidend wäre es in solchen Fällen, dranzubleiben, wiederzukommen, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen, Vertrauen zurückzugewinnen. Dafür braucht es Geduld und einen langen Atem.

Das heißt aber auch, frühzeitig damit anzufangen, nicht erst wenige Wochen vor einer Wahl, und die politische Kampagne von ihren Geschichten, Erfahrungen und Problemen her zu entwickeln und zu formulieren, einen Wiedererkennungseffekt zu erzeugen. Dabei ist es sicher hilfreich, Personen in den ersten Reihen zu haben, die die «Klasse» repräsentieren. Die Partei muss Anerkennung und Solidarität erlebbar werden lassen. Und es soll die Erfahrung vermittelt werden: In dieser Partei sind Menschen, die sich für mich – und im besten Falle mit mir – mit den Mächtigen und Reichen in dieser Gesellschaft anlegen. Eine Erfahrung der Solidarität, um (in Anlehnung an Max Horkheimer) Desinteresse, Ohnmacht und Fatalismus in produktive Bahnen zu lenken.

Haustürgespräche dienen dabei nicht nur als Mittel, um Verankerung und Wähler*innen (zurück) zu gewinnen, sondern auch als Schule für die Aktivist*innen der Partei selbst. Lebensrealitäten, Perspektiven und Erfahrungen, Sprache und Haltungen werden so ebenso wie Sorgen, Probleme und Hoffnungen erfahrbar für die engagierten Parteimitglieder und Sympathisant*innen. Sie kommen häufig nicht aus denselben Verhältnissen und Vierteln und haben einen anderen Klassen- oder Bildungshintergrund als die Aufgesuchten. Durch dieses Vorgehen «verändern sich alle, die daran beteiligt sind» (Kaindl/Nagel 2019). Am Anfang stehen dabei also nicht Antworten, sondern Fragen. Bei der aufsuchenden Arbeit geht es darum, am Alltag anzuknüpfen, daran, was Menschen tatsächlich bewegt. Diese Praxen sind der Lackmustest einer verbindenden Klassenpolitik.

Inhalt:

  • Einleitung
  • Welche Wähler*innenpotenziale? Für mehr «unten» im «Mitte-unten-Bündnis»
  • Wer sind und was denken die Nichtwähler*innen im linken Potenzial?
    • «Das Ende des Monats erreichen» – ein quantitativer Blick auf Positionen von Nichtwähler*innen
    • «Sich das Leben nicht mehr leisten können» – ein qualitativer Blick darauf, was Nichtwähler*innen bewegt
  • «Wählen ist echt mein geringstes Problem» – Nichtwählen: eine Klassenfrage
    • Exkurs: Nicht-/Wähler*innen mit Migrationshintergrund und der Umgang mit Migrationspolitik
    • Exkurs: Ist das linke Potenzial gespalten?
  • Klassenpolitische Mobilisierung von Nichtwähler*innen
    • Mehr Informationen, mehr direkte Ansprache
    • «Was zusammen machen, damit es hier schöner wird» – mehr Mitmachangebote vor Ort
    • Eine Partei, die «anders» ist
    • Gegen die AfD, gegen die Machtlosigkeit
    • Aufsuchende Arbeit und Präsenz im Viertel
    • Vermittlung von Solidarität vs. Ohnmacht
  • Schlussbemerkungen

Autor:

Mario Candeias war Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse und ist nun Referent für sozialistische Transformationsforschung, linke Strategien und Parteien der Rosa-Luxemburg-Stiftung.