Publikation Halbbildung. Kritische Theorie der Pädagogik

Wir präsentieren auf unserer Webseite vorab die Einleitung der »Beiträge zur kritischen Theorie« Band 2 im Verbrecher Verlag.

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Halbbildung

Kritische Theorie der Pädagogik

Sebastian Gräber, Henning Gutfleisch, Tarek Probst, Anna-Josepha Stahl, Patrick Viol und Max Wevelsiep

Selbst dort, wo Bildung noch als Medium der Kritik gedacht wird, scheint sie heute ihrem Anspruch kaum gerecht zu werden. Das Lamento über die Bologna-Reform an den europäischen Universitäten oder einen schon an sich problematischen Kompetenzbegriff, der speziell unter ›Kritikkompetenz‹ nicht mehr als die Bereitschaft zur Selbstoptimierung begreift, die stets auch von anderen einzufordern sei, wurde an anderen Stellen bereits ausführlich dargelegt und muss deshalb hier nicht wiederholt werden, zumal es sich dabei oftmals um nicht mehr als ein Spiegelspiel handelt, das tieferliegende Probleme unberührt lässt. (Vgl. exemplarisch Krautz) Daher haben sich die Herausgeberinnen und Herausgeber des zweiten Bandes der von der Gesellschaft für kritischen Bildung e.V. verantworteten Reihe »Beiträge zur kritischen Theorie« dazu entschlossen, diesen Band der Kritischen Theorie der Pädagogik zu widmen.

Der vorliegende Band ist insofern weniger interessiert an einer Kritik des Tagesgeschehens. Vielmehr fokussiert er – der bestimmten Negation verpflichtet – die theoretischen Grundlagen dessen, was Bildung und Erziehung unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu leisten beanspruchen – und was sie gerade auch deswegen systematisch verhindert. Dabei visiert er eine Rettung desjenigen, was die von der Barbarei ergriffene bürgerliche Gesellschaft – nach Auschwitz wie nicht zuletzt nach dem 7. Oktober 2023 – nur noch beschädigt hinterließ. Die »Grenzen der Aufklärung« (Adorno/Horkheimer: 234) setzen auch jeder Chance auf Bildung zu, die mit der Aufklärung zwar verwandt, keineswegs jedoch mit ihr identisch ist. Bildungserfahrungen zu machen, die dem Subjekt ermöglichen, sich in ein verändertes Selbst- wie Weltverhältnis zu setzen, scheinen nur noch ob der Preisgabe des Selbst im Sinne sturen Selbsterhalts möglich. Und darin blitzt nicht die romantische Verklärung des verblendeten Bohemiens auf, sondern die Einsicht, dass die vernünftige Einrichtung der Gesellschaft, an der Bildung substanziell Anteil hat, so fern erscheint wie lange nicht.

Insofern teilen wir die Diagnose Theodor W. Adornos, der zufolge die Halbbildung nicht etwa einen Zwischenzustand auf dem Weg zur Bildung bezeichnet, sondern deren gerades Gegenteil. Sie ist keine vorübergehende Erscheinungsform, sondern ein im gesellschaftlichen Widerspruch angelegter Dauerzustand, der sich auf die Verstrickungen des Anspruchs von Emanzipation durch Bildung mit den gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zwar zurückführen, jedoch nicht restlos in ihnen auflösen lässt. (Vgl. Adorno 1959: 111)

Mit unserem Anspruch geht dabei eine Kritik nicht nur des praktischen, sondern auch des theoretischen Elends der Pädagogik einher. Insofern sich Kritische Erziehungswissenschaft etwa unter dem inzwischen selbst als klassisch zu bezeichnenden Dreigestirn Wolfgang Klafki, Herwig Blankertz und Klaus Mollenhauer stets dem Gedanken verpflichtet sah, Pädagogik als Theorie einer Praxis zu betreiben, verfehlte sie ihr eigenes Ziel. (Vgl. Gruschka 1988: 50) Kritische Theorie wurde von ihnen zumeist unter dem Anspruch, eine nach wie vor nottuende bessere Schulbildung zu entwickeln, versatzstückhaft adaptiert und in ein Begriffskorsett gezwängt, das zwar zur vorübergehenden Durchsetzung tagespolitischer Bildungsagenden taugen mochte, nicht aber zu einer umfassenden Gesellschaftsanalyse und -kritik, wie sie der Kritischen Theorie vor allem Theodor W. Adornos und Max Horkheimers zu eigen war. Deutlich wird dies etwa an dem mehrfachen Rekurs ‚kritischer‘ Bildungs- und Erziehungstheorie der 1960er- und 1970er-Jahre auf eine Stelle in Adornos »Theorie der Halbbildung«, mit der die Bildungsreform zu ihrem Recht kommen sollte. Immer wieder taucht hier – und bis heute – die Metapher von Bildung als einem unerfüllten Versprechen auf. Adorno hatte ausgedrückt, dass sich zur »Antithese der sozialisierten Halbbildung kein anderer als der traditionelle Bildungsbegriff« (Adorno 1959: 102) eigne – ein Satz, auf den sich all diejenigen stützen konnten, die im (wohlgemerkt erst von Eduard Spranger in den 1920er-Jahren konstruierten [Vgl. Paletschek]) so genannten ›Humboldtschen Bildungsideal‹ die Entfaltung der Bildung zu ihrem vollen Potential angelegt, aber durch die Restauration verhindert sahen. Weshalb dieses Ideal gesellschaftlich zum Scheitern verurteilt war und wie sich gerade aus ihm heraus die Halbbildung entfalten konnte, wird von der kritischen Erziehungswissenschaft jedoch nicht thematisiert. So nimmt es nicht wunder, dass der Folgesatz Adornos in deren Überlegungen kaum zum Gegenstand der Reflexion wird, dass nämlich in diesem Rekurs sich »die Not einer Situation aus[drückt], die über kein besseres Kriterium verfügt als jenes fragwürdige.« (Adorno 1959: 102) 

Um über den Zustand einer halbgebildeten Gesellschaft hinauszugelangen, reicht ein Rückgriff auf das Versäumte nicht aus, wenngleich dieses ein notwendiger Bestandteil der Kritik sein muss. Viel dringlicher erscheint uns jedoch eine Analyse und Kritik der Verhältnisse, unter denen gelingende Bildung und Erziehung heute verhindert werden und die dazu beitragen, dass ihr die Verwirklichung ihrer Potenziale stets aufs Neue versäumt werden und in steter Reproduktion der Verhältnisse versäumt werden muss. Denn: »Daß Halbbildung, aller Aufklärung und verbreiteten Informationen zum Trotz und mit ihrer Hilfe, zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtseins wird – eben das erheischt weiter ausgreifende Theorie.« (Adorno 1959: 94) Eine solche suchen die Beiträge dieses Bandes zu leisten.

Den Auftakt machen dabei vier Texte zur Bildungstheorie. Enrico Pfaus Beitrag »Das Kapital als Lehrer der Menschheit. Über Allgemeinbildung und Bildungsprivileg« unternimmt darin den Versuch, die Verstrickungen des Kapitals mit dem Begriff der Bildung in ihrem historischen Wandel herauszuarbeiten. Dabei wird deutlich, dass bereits im Anspruch auf Allgemeinbildung unter Bedingungen kapitalistischer Produktionsweise deren eigenes Gegenteil angelegt ist, sodass sich unter dem Wandel oberflächlicher gesellschaftlicher Bedingungen zwar die Möglichkeiten von Emanzipation durch Bildung auszuweiten scheinen, ihr Kernwiderspruch jedoch nicht aufgehoben werden kann. Anne Gräfs Beitrag »Horkheimer, Adorno und Heydorn – Kompatibilität statt Konkurrenz. Zum Verhältnis kritischer Theorie und kritischer Bildungstheorie« arbeitet detailliert heraus, weshalb die rezeptionsgeschichtliche Unterscheidung einer vermeintlich ‚pessimistischen‘ Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos gegenüber einer vermeintlich ›optimistischen‹ Theorie Heinz-Joachim Heydorns über die essenziellen Gemeinsamkeiten in deren Bildungs- und Erziehungstheorie hinwegtäuscht. Dabei hebt sie hervor, dass diese Gemeinsamkeiten gerade in materialistisch-dialektischen Kritiken bestehen, die einander mehr ergänzen als gegeneinander konkurrieren, indem Heydorn die zumeist recht unkonkreten Bestimmungen Adornos und Horkheimers in ein Spannungsverhältnis zu den konkreten Bedingungen von Bildung und Erziehung setzt. Anschließend betrachtet Thassilo Polcik unter dem Titel » ›…die nur in der Einheit zwischen der Sache und ihrer geistigen Erfahrung besteht.‹ Adornos negativ-dialektische Bildungstheorie« die Bedeutung der (Un-)Möglichkeit unreglementierter geistiger Erfahrung für den Bildungsprozess. Dabei ermittelt er die Notwendigkeit der Überwindung eines konkretistischen Bewusstseins, mit der Bildung als reale Erfahrung erst einsetzen kann. Den Abschluss des ersten Teils bildet Henning Gutfleischs Beitrag »Ohne Trost. Bedingungen politischer Bildung nach Auschwitz«. Adornos kategorischen Imperativ zum Ausgang seiner Reflexion nehmend, untersucht Gutfleisch, inwiefern der durch den Zivilisationsbruch bedingte Erfahrungsverlust auch die Bildsamkeit des Subjekts nach Auschwitz zweifelhaft erscheinen lässt. Wogegen ihre Verfallsformen bereits der kulturindustrielle Ausdruck dessen seien, was widerspruchslos hingenommen wird, sei Bildung nur noch negativ bestimmbar: Ohne eine Reflexion auf Auschwitz, die auch der Vernichtung von Individualität eingedenkt, ist Bildung nicht länger zu haben.

Im zweiten Teil widmen sich die Beiträge einer weitestgehend unbeachtet gebliebenen Komponente Kritischer Pädagogik: dem Phänomen der bürgerlichen Kälte. Anna-Josepha Stahl erinnert in ihrem Beitrag »Die Schmiede kalter Eisen. Wie Schule bürgerliche Kälte (re)produzieren« an die wegweisenden Überlegungen Andreas Gruschkas und die zahlreichen, von ihm und einigen weiteren Erziehungswissenschaftlern angestellten ‚Kältestudien‘, in denen bürgerliche Kälte als eine Kategorie begriffen wird, die Adorno zufolge das »Grundprinzip[…] der bürgerlichen Subjektivität« darstellt, »ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre« (Adorno 1966: 356). Die Perpetuierung dieses Grundprinzips, so Stahls Argumentation, findet nicht zuletzt in der Schule statt. Eine Wiederentdeckung der Kategorie bürgerlicher Kälte erlaubt, über die ständigen Konjunkturen gewaltfreier respektive autoritärer ‚Erziehungsstile‘ hinaus einen Blick auf die gesellschaftlichen Widersprüche zu werfen, welche die Bedeutung der Kälte in ihrer Dialektik in den Fokus nehmen können: »Die Befreiung von Kälte ist erst im Durchgang durch die Kälte zu erreichen« (Gruschka 1994: 58). 

Die Bedeutung dieser dialektischen Wendung entfaltet Patrick Viol in seiner »Temperaturbestimmung der Erziehung zum Nicht-Mitmachen«. Dabei zeigt er zum einen, dass Kälte nicht einfach eine Bedingung kollektiven Narzissmus ist und das Gegenteil menschlicher Wärme darstellt, sondern eine Grundbedingung objektiver Erkenntnis und zivilisatorischen Fortschritts, die gleichwohl jederzeit in ihr Gegenteil umzuschlagen vermag. Zum anderen legt er dar, dass unter kapitalistischen Verhältnissen menschliche Wärme eine Erscheinungsform der Kälte ist. Dazu seziert er die postnazistische Kultur der Wärme und legt offen, inwiefern auch in ihr kollektiver Narzissmus virulent ist. Dagegen hält Viol eine reflektierte Kälte, aus der eine Kultur des ›Madig-machens‹, der kritischen Distanz gegenüber den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen und der Idee einer unverbrüchlichen Identität entstehen könnte.

Im letzten Teil widmen sich drei Beiträge dem Zusammenhang von Pädagogik und Psychologie sowie von Erziehung und Emanzipation. Ulrich Mathias Gerr untersucht zunächst Jean Piagets Stellung »…zwischen Positivismus und kritischer Pädagogik«. Dabei geht er der Frage nach, inwiefern Piagets Werk durch das Ziehen seines kritischen Stachels zum pädagogischen Klassiker avancieren konnte. Der Positivismusstreit, der zumindest auf lange Sicht auch in der Erziehungswissenschaft einen Paradigmenwechsel zur Folge hatte, sei bereits bei Piaget angelegt. Dessen Rezeptionsgeschichte spiegele ferner das verwickelte Verhältnis zwischen Kritischer Theorie und Pädagogik wider. Der Beitrag »Trieb, Leib und primäre Sozialisation – Was der Bildung vorausgeht« von Michael Schüßler bietet einen Überblick über pränatale sowie frühkindliche Entwicklungsprozesse und somit über das Wechselspiel somatischer und im weitesten Sinne pädagogisch zu nennender Prozesse. Diesen schenkt Pädagogik gerade dort, wo sie sich auf Bildung und Wissensvermittlung versteift, nur selten Beachtung – im Gegensatz dazu weist Schüßler nach, wie bereits die frühesten, zumeist als natürliche Abläufe wahrgenommenen Entwicklungsprozesse einer gesellschaftlichen Überformung unterworfen sind und so Möglichkeiten kindlicher Subjektwerdung und Erfahrung vorstrukturieren. Abschließend nimmt Nadine Randak in ihrem Text »Emanzipation, Empowerment, Erziehungswissenschaft. Über einen (nicht nur) pädagogischen Paradigmenwechsel und seine Folgen« die Konjunkturen der Begriffe Emanzipation in den 1970er-Jahren sowie Empowerment in der Gegenwart in den Blick. Dabei zeigt sie, dass der postmoderne Empowermentbegriff seinen Vorläufer nicht einfach ersetzt hat, sondern ein schleichender Wandel sich vollzogen hat, bei dem die heutige Verfallserscheinung dessen, was Emanzipation einmal bedeuten sollte, zumindest in der Erziehungswissenschaft schon lange vorprogrammiert war.

Literatur:

Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1981

Adorno, Theodor W., Theorie der Halbbildung (1959), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2015

Adorno, Theodor W., Negative Dialektik (1966), in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. 6., 8. Auflage, 2018

Gruschka, Andreas, »Kritische Theorie und Pädagogik. Eine Begegnung und ihre Folgen«, in: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich (1988), H. 29

Gruschka, Andreas, Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung, Wetzlar 1994

Krautz, Jochen, Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie, München 2011

Paletschek, Sylvia, »Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183-205

Wir danken dem Verbrecher Verlag für die Möglichkeit, den Text hier zu präsentieren. Das Buch »Halbbildung. Kritische Theorie der Pädagogik«. Herausgegeben von Sebastian Gräber, Henning Gutfleisch, Tarek Probst, Anna-Josepha Stahl, Patrick Viol und Max Wevelsiep erscheint im März 2025.