
Die Diskussion um (Lohn-)Arbeitszeitverkürzung hat in den letzten Jahren weltweit an Bedeutung gewonnen. Internationaler Vorreiter der jüngeren Versuche, Arbeitszeit zu verkürzen, ist das nordische Island: ein erster großer Feldversuch begann hier bereits 2014 in der öffentlichen Verwaltung der Landeshauptstadt Reykjavík. Der Erfolg dieses Feldversuchs führte zu seiner graduellen Ausweitung und schließlich zum Abschluss neuer Arbeitszeitregelungen in mehreren Flächentarifverträgen in den Jahren 2019 und 2020.
Der nun auch in deutscher Sprache vorliegende Bericht zu den Feldversuchen im öffentlichen Dienst von 2021 und ein aktueller Bericht zur Arbeitszeitverkürzung in der isländischen Gesamtwirtschaft bieten wertvolle Einblicke in den Verlauf der isländischen Debatte und die Erfahrungen, die im Kontext dieser Feldversuche gewonnen werden konnten. Der erste Bericht stellt ausführlich die Versuche mit einer 35- bzw. 36-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst dar, die auf ihrem Höhepunkt mehr als 1% der isländischen Erwerbsbevölkerung umfassten. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass der Versuch ein überwältigender Erfolg war – und zwar nicht nur, weil er zu einer Verbesserung des Wohlbefindens der Beschäftigten führte, sondern auch, weil es gelang, in ganz unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Dienstes die Arbeitsabläufe so zu verbessern, dass die Erbringung von Dienstleistungen für die Bürger:innen dabei nicht beeinträchtigt wurde.
Der Erfolg dieser Experimente war der Ausgangspunkt für weitere tarifpolitische Initiativen der Gewerkschaften, die dazu führten, dass inzwischen die Mehrheit der isländischen Beschäftigten ihre Arbeitszeit verkürzen konnte. Island ist damit das einzige europäische Land, in dem es im letzten Jahrzehnt landesweit zu signifikanten kollektiven Arbeitszeitverkürzungen gekommen ist. Das kleine nordische Land kann damit als Vorreiter in Europa und weltweit gelten.
(aus dem Vorwort von Dr. Philipp Frey)
Zusammenfassung
- 2015 und 2017 wurden nach Kampagnen verschiedener Gewerkschaften und zivilgesellschaftlicher Organisationen zwei umfassende Pilotprojekte zugunsten einer kürzeren Arbeitswoche vom Stadtrat von Reykjavik und der isländischen Regierung eingeleitet.
- Insgesamt nahmen über 2.500 Erwerbstätige daran teil – mehr als 1 % der erwerbstätigen Bevölkerung Islands – deren Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 oder 36 Stunden reduziert wurde. Ziel der Pilotprojekte war nicht nur eine Verbesserung der Work-Life- Balance, sondern ebenfalls eine Steigerung der Produktivität. Die Arbeitszeitverkürzung ging nicht mit einer Lohn- oder Gehaltskürzung einher.
- Die Pilotprojekte schlossen sowohl Beschäftigte in einem Nineto- five-Arbeitsverhältnis als auch Schichtarbeiter*innen mit unregelmäßigen Schichtplänen ein. Es war also eine breite Vielfalt an Arbeitsstätten beteiligt: von Büros über Kindergärten zu Sozialeinrichtungen oder Krankenhäusern.
- Die umfangreichen Pilotprojekte mit ihrer Vielfalt an untersuchten Arbeitsstätten sowie ihrer Fülle an erhobenen quantitativen und qualitativen Daten liefern bahnbrechende Belege für die Wirksamkeit einer Arbeitszeitverkürzung.
- Die in diesem Bericht zusammengefassten Ergebnisse, die sowohl auf qualitativen als auch auf quantitativen Daten beruhen, belegen die positiven Auswirkungen einer kürzeren Wochenarbeitszeit für Beschäftigte und Unternehmen gleichermaßen.
- Produktivität und Dienstleistungsversorgung blieben in den meisten an den Pilotprojekten teilnehmenden Arbeitsstätten gleich oder verbesserten sich.
- In vielerlei Aspekten verbesserte sich das Wohlbefinden der Beschäftigten: Burnouts, empfundener Stress sowie Gesundheit und Work-Life-Balance.
- Nach dem Erfolg der Pilotprojekte erreichten die isländischen Gewerkschaften und Gewerkschaftsbünde eine dauerhafte Reduzierung der Arbeitszeit für Zehntausende ihrer Mitglieder im ganzen Land. Insgesamt sind nun etwa 86% der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung Islands entweder zu kürzeren Arbeitszeiten übergegangen oder haben das Recht auf kürzere Arbeitszeiten.
- Dieses Recht auf Arbeitszeitverkürzungen, die für die meisten Beschäftigten bereits in Kraft getreten sind, wurde in Verträgen verankert, die von 2019 bis 2021 ausgehandelt wurden. Einige dieser Verträge sehen kürzere Arbeitszeiten für alle Gewerkschaftsmitglieder vor, während andere Verträge für Beschäftigte und ihre jeweiligen Arbeitsstätten die Möglichkeit vorsehen, gemeinsam kürzere Arbeitszeiten festzulegen.