Wir dokumentieren eine von Alexander Pehelemann kuratierte Textreihe, die 75 Jahre nach erscheinen von George Orwells »1984« und 40 Jahre nach der realen Ankunft des Jahres, auf politische und gesellschaftliche Kämpfe, Sub- und Gegenkulturen, Kriesen und Konflikte schaut.
Geplant sind die Texte:
Robert Mießner: Gegenseitige Hilfe. Künstler zum und im britischen Bergarbeiterstreik 1984/85
Jonas Engelmann: "Die Verschwulung der Welt". AIDS, 1984
Frank Apunkt Schneider: There's no future like »No Future«
Michael Gratz: Lyrik in Zeiten von Newspeak
1984! Block an Block. Subkulturen im Orwell-Jahr
Eine Art Ein- oder Herleitung.
Alexander Pehlemann
„Now it is 1984
Knock-knock at your front door ...“
DEAD KENNEDYS: California Über Alles, 1979
Das mittlerweile nicht mehr erhältliche Zonic-Spezial „1984! Block an Block. Subkulturen im Orwell-Jahr“ basierte auf der Grundidee, die sich auch im oben zitierten Song der kalifornischen Punkband DEAD KENNEDYS findet: dem Sprung von der dystopischen Imagination des 1948 von George Orwell entworfenen Jahres einer relativ fernen Zukunft in ein „Now“ des ganz realen Jahres 1984. Wobei dies vor allem dessen Subkulturen meinte. Im weitesten Sinne, denn der Blick schweifte von den extremen Rändern durchaus auch in breitenwirksame Themen der Pop-Kultur.
Der zu 25 Jahren Friedlicher Revolution und Mauerfall als Gedankenspiel entworfene Schwenk von 1989 um eine Fünf-Jahresplan-Länge zurück auf der Zeitleiste offenbarte dabei schnell, wie sehr sich in jenem mythisch aufgeladenen Jahr (sub-) kulturelle Prozesse in kreativer Reibung mit gesellschaftlichen Umstellungen ballten. Mit und ohne offenbarem oder herzustellendem Orwell/Nineteen Eighty-Four-Bezug.
Dabei war klar, dass der Roman Nineteen Eighty-Four von George Orwell und seine Verfilmungen sich zwar allgemein als Sinnbild für radikale Entindividualisierung, systematische Gleichschaltung und vor allem totale Überwachung tief in das kulturelle Bewusstsein eingegraben haben, es für viele aber, nicht zuletzt durch die gegen Orwells Intention erfolgte propagandistische Verwendung im Westen, oft synonym für das stalinistisch geprägte System in den Staaten des Warschauer Pakts steht.
Dem Buch vorausgehend ging es also in einem Jubiläumsabstand von 30 Jahren um eine besondere Ost-Perspektive auf 1984 – gespiegelt durch die genreübergreifende künstlerische Subkultur, in Binnenbetrachtung wie im Zerrspiegel staatlicher Überwachung. Gezeigt wurde, was es nach Orwells Vision nie hätte geben können: Dissidenz, Nonkonformismus und radikale Randständigkeit. Wobei sich der Große Bruder mit dem Underground der so genannten Bruderländer konfrontiert sah.
In einer Mixtur von Diskussionen, Filmen, Lesungen und Konzerten wurde nach der Orwell-Rezeption in Ost(mittel)europa gefragt und zudem, wie sich Kulturpolitik und Untergrund-Überwachung generell zueinander verhielten. Im Vordergrund standen aber vor allem die Sounds, Bilder, Filme, Videokunst, Manifeste oder poetischen Texte der Gegenkultur von 1984, ihre Orte und Medien, sowie die Definition ihrer Rolle im Rückblick, die heutige ideologische Zuordnung zwischen mittlerweile staatstragendem Widerstandsmythos und Kollaborationsvorwurf für manche der ehemaligen Akteure. Eingeladen waren Zeitzeugen, Künstler und Szeneaktivisten, die in diskursiven Vergleich traten, aber auch mit aktuellen Produktionen die Relevanz damals gelegter Fundamente unter Beweis stellten. Darunter waren: die 1984 gegründete Leipziger Hardcore-Punk-Legende L’ATTENTAT, die im überraschend rasant ausverkauften UT Connewitz eine umjubelte Wiederauferstehung feierte, unter dem Motto „Warschauer Punk Pakt revisited“ flankiert von DEZERTER aus Warschau, die wiederum 1984 beim Jarocin-Festival ihren endgültigen Durchbruch zur wichtigsten Anarcho-Punkband der heftig brodelnden polnischen Szene hatten. Außerdem die nie festzulegenden Berliner Post Punk-Experimentatoren von ORNAMENT & VERBRECHEN in der Ur-Besetzung Robert und Ronald Lippok, die 1984 ihre Debüt-Kassette auf dem frisch gegründeten Tape-Label Assorted Nuts veröffentlichten, dem ersten Label des Magnetbanduntergrund DDR überhaupt. Sowie nicht zuletzt die MCH BAND aus Prag, eine der wichtigsten Bands der tschechischen Alternativ-Szene, die dem Orwell-Jahr gleich zwei Kassetten-Produktionen der Achtziger auf ihrem Label Fist Records widmete, die zudem in Italien bei Cafe Old Europa erschienen.
Was klar wurde: 1984 war ein widersprüchlicher Jahrgang. Einerseits war es sogar ein Jahr des Aufbruchs. So fand mit dem Leipziger Herbstsalon die größte nichtoffizielle Kunst-Ausstellung der DDR-Geschichte statt und der literarische DDR-Underground traf sich zur Positionsfindung auf der treffend bezeichneten Zersammlung, das Jarocin-Festival von 1984 gilt als massiver Durchbruch polnischer Subkultur und die ungarischen Szenebands A.E. BIZOTTSÁG und VHK treten erstmalig in Westeuropa auf. Andererseits wurden die Punkszenen der DDR, der ČSSR und Ungarns massiv mit Repression bedroht und die erste große Ausreisewelle der DDR sorgte für ein Ausbluten des dissidentisch-subkulturellen Milieus, dessen Zurückgebliebene sich neu orientieren und zum Staat positionieren mussten. In Bulgarien beginnen slawisierende Zwangsumbenennungen der türkischen Minderheit, in Rumänien wächst die Bedrückung unerträglich, in Jugoslawien verebbt einerseits der Belgrader Post Punk und formiert sich andererseits die Neue Slowenische Kunst in Ljubljana (wo zudem, was für mich einer der wichtigsten Anstöße war, die Post Punk-Compilation 84 erscheint), in Omsk wird mit GRASCHDANSKAJA OBORONA die wichtigste Band des suizidal-existentialistischen Sibirien-Punk gegründet und in Budapest mit Hungary Can Be Yours zum letzten Mal eine Ausstellung verboten. Um nur einige Dinge anzureißen, die in dem 2015 bei Ventil Verlag erschienenen Band aus sehr unterschiedlichen Nah- und Fern-Perspektiven betrachtet wurden. Den damaligen Sowjet-Block in all seinen (kulturpolitischen) Divergenzen und daraus folgenden Repressionsmechanismen oder Möglichkeitsräumen darzustellen, dessen endgültigen Zerfall ein Jahr später der Machtantritt Michail Gorbatschows einleitete, inklusive eines wirklich umfassenden Vergleichs mit dem sozialistischen Sonderfall Jugoslawien, konnte dieser Band natürlich nicht leisten. Aber dieser begrenzte Schnitt durch die Zeit, konkret eben das wegen Orwells Orakel so aufgeladene Jahr 1984, brachte hoffentlich Ansätze zur weiteren Betrachtung, zur Vertiefung, ja, gern auch: zum Widerspruch. Der sich in der nicht unkomplizierten Entstehung auch schon intern regte. Hier ein innerredaktioneller Email-Diskussions-Auszug, der andeutet, worum gestritten wurde und weiter gestritten werden könnte, ja, sicher auch muss: „von einer diktatur des proletariats kann man schon ein bißchen repression erwarten, interessiert kein schwein (mehr), in welchem maße sie alle darunter gelitten haben; es geht doch darum herauszufinden, WAS sie (dagegen) getan haben, WIE sie sich und ihre würde behauptet haben – das gilt es rauszukitzeln, auch als tips für die nachwachsenden. staat bleibt staat, auch wenn wir es jetzt mit einem profi zu tun haben.“ Eingeworfen vom mittlerweile verstorbenen Mitherausgeber Bert Papenfuß.
Willkommen also in einem neuen, weitaus professionelleren 1984-Szenario! In dem Neusprech endgültig gesiegt hat und das natürlich gut durchmischt ist mit Elementen der Schönen neuen Welt, jener wohl noch weitaus treffenderen Vision von Aldous Huxley. Zumal die technologischen Kontrollmöglichkeiten seit 2014 noch einmal Quantensprünge vollzogen.
Die oben aufgeworfenen Fragen nach der Behauptung von Würde und den Möglichkeiten, etwas zu tun gegen gesellschaftliche Widrigkeiten, stellten sich natürlich, wenn auch ganz anders, genauso im Westen. Der manchmal sogar, wenn auch nur selten, in seiner Einsamkeit durch den Eisernen Vorhang schaute. Zur Selbstvergewisserung, aus Faszination oder ab und an auch solidarisch.
1984 war dabei auch das Jahr, in dem die internationale Hardcore-Punkbewegung mit diversen Compilations publik wurde, wobei vor dem Hintergrund der Block-Konfrontation einerseits und der mehr und mehr greifenden neoliberalen Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan andererseits teils auch explizite Bezüge zum Orwell-Jahr hergestellt wurden. So nannte das kalifornische Punk-Fanzine Maximum Rock N Roll die erste Veröffentlichung auf dem eigenen Label, eine Compilation mit 23 Bands aus 17 Ländern, gleich Welcome to 1984. Unter dem hier zu Hörenden, aus dem das norwegische Solo-Punk-Projekt SKJIT-LARS mit dem schön durchgeknallten Verrückt In Der Kontrol-Zentrale herausragte, waren allerdings zwar Japaner oder Brasilianer (deren 1984 sicher auch interessant gewesen wäre), aber keine Vertreter des sogenannten Ostblocks. Zumindest keine des (imaginären/potentiellen) Warschauer Punk Pakts, denn für das blockfreie sozialistische Jugoslawien ging immerhin die slowenische Band UPORNIKI BREZ RAZLOGA, kurz U.B.R., ins Rennen um extrem engagiert geprügelte Hochgeschwindigkeitswut.
In Frankreich begann zudem das Label New Wave Records seine vierteilige 1984-Compilation-Serie, die mit 1984: The First Sonic World War anfing und bis 1990 neben vielen französischen Bands auch diverse ungarische, polnische, tschechische und jugoslawische (Post) Punk-Protagonisten an die von beiden Seiten beschossene Front schickte. Im Punk allgemein, vor allem in dessen politisierten Ausformungen, war 1984 aber schon früh Teil des Themenspektrums, vielleicht auch wegen der (scheinbaren) Einfachheit in der geradezu satirischen Überzeichnung durch George Orwell. Irritierenderweise wanderte es dabei allerdings auch von radikal links mit CRISIS und ihrem Song PC1984 oder den RUNNERS FROM 1984, beide ja 77er-Punk-Bands mit späteren Mitgliedern der Neofolk-Band DEATH IN JUNE, nach rechts außen, nicht zuletzt zu dumpfen Proles-Bands wie CONDEMNED84 oder COMBAT84. Erinnert sei aber auch an THE PLASMATICS und deren Beyond The Valley of 1984-Album von 1981.
Womit wir bei Konzeptalben zur Sache wären, an denen es auch nicht mangelt: Hugh Hopper aus der Canterbury-Szene machte 1973 gleich nach seinem Ausstieg bei SOFT MACHINE den Anfang, der YES-Keyboard-Wizzard Rick Wakeman (featuring unter anderem Chaka Khan) und Anthony Phillips schickten ihre Ver- bzw. Visionen 1981 hinterher und DAVID PEEL & THE LOWER EAST SIDE BAND näherten sich dem nahenden Orwell-Jahr schließlich 1983 an. Ob allerdings VAN HALENs 1984 mit Orwell in irgendeiner Beziehung stand, wagte leider niemand aus dem Zonic-Umfeld zu untersuchen. Nicht zu vergessen natürlich David Bowie, dessen Songs 1984 und Big Brother vom 1974er Album Diamond Dogs ja mit Hinblick auf ein von ihm geplantes Musical zu Nineteen Eighty-Four geschrieben wurden, das dann leider die Rechteverwerter von George Orwell zu verhindern wussten. Randnotiz: Tina Turner coverte Bowies 1984 dann für ihr 1984er Album Private Dancer.
Anderswo im Orwell-(Anti-)Pop-Jahrgang machten die EURYTHMICS ihr 1984 (For The Love Of Big Brother), einen der Soundtracks zur im gleichen Jahr angelaufenen Neu-Verfilmung von 1984 (mit der Top 5-Single Sexcrime), ließen FRANKIE GOES TO HOLLYWOOD beziehungsweise ihr Label ZTT Orwell-Zitate aufblitzen im stylish-coolen New Pop-Zeichendschungel und lösten sich CRASS nicht zufällig 1984 auf, sondern lange von ihnen angekündigt. Was dann allerdings mitten in den mit aufdrehender Polizeigewalt, zunehmender Überwachung und massivem medialen Propaganda-Newspeak sich zuspitzenden Konflikten des gerade begonnenen Bergarbeiterstreiks passierte, für den sie sich genauso wie BRONSKI BEAT, Robert Wyatt, KUKL, Adrian Sherwood, Billy Bragg, die MEKONS und vor allem TEST DEPT engagierten. Während sich im vermeintlich fernen Chile von Punk beeinflusste Bands wie die ELECTRODOMESTICOS subkulturell gegen Pinochet stellten. Was jedoch schon außerhalb des vom Buch erfassten Geschehens lag und als Aufgabe weiterer Orwell-Pop-Ausgrabungen formuliert wurde.
Das Zonic-Spezial zur 1984-Sache konnte halt nur Ansätze liefern. Da es aber nun auch nicht mehr erhältlich ist, sollen hiermit wenigstens einige davon nunmehr online zugänglich gemacht werden. Als Zonic-Zwischenstand für zukünftige Reflektionen. Die notwendig sind, denn die mit Orwells 1984 verbundenen Fragestellungen sind nicht nur 2024 weiter virulent, sondern werden es wohl eher zunehmend wieder sein.
Alexander Pehlemann
ZONIC
Leipzig, 2024