
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirkte wie eine Starthilfe des ukrainischen EU-Beitritts. Gleich zu Beginn gab es klare Zeichen der Solidarität aus Brüssel – und große Versprechungen in Kyjiw, das Land zu reformieren und zu modernisieren, um den europäischen Vorgaben zu entsprechen. Aufgrund der offenkundigen Hürden auf diesem Weg folgte dann der Realitätscheck. Das Land befindet sich im Krieg, ein Fünftel des Territoriums ist besetzt, die größte Industrieregion zerstört; die Ukraine ist das ärmste Land Europas und hat einen massiven Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen, der durch den Krieg noch verschärft wurde. Jahrzehnte der Oligarchenherrschaft, des Neoliberalismus und der Instabilität haben das Vertrauen in die staatlichen Institutionen, das für eine so weitreichende Reform nötig wäre, zerstört.
Die europäische Integration scheint mit jeder Welle neuer Mitgliedstaaten immer schwieriger zu werden. Der Beginn der Beitrittsverhandlungen mit einem Land, das militärisch angegriffen wird und um seine Souveränität kämpft, bringt jedoch zusätzliche, noch nie dagewesene Herausforderungen mit sich. Das ukrainische Reformtempo ist für die EU zu langsam, und auch die Ukrainer*innen zeigen sich zunehmend besorgt. Einerseits ergab die Evaluation der Fortschritte der Ukraine bei der Einhaltung von EU-Standards im Oktober 2024 eine hohe Bewertung in den Bereichen Digitalisierung, Zoll, Energie und Sicherheit. Andererseits gab es jedoch keine weiteren Verbesserungen gegenüber dem Vorjahr; und bei der Freizügigkeit der Arbeitnehmer*innen, Sozialpolitik, Beschäftigung, Landwirtschaft, der ländlichen Entwicklung, Finanzkontrolle und Wettbewerbsfähigkeit erzielte die Ukraine weiterhin niedrige Werte.
Trotz linker Kritik an und Skepsis gegenüber der EU verfolgen einige der notwendigen Reformen positive Ziele und könnten, sofern sie umgesetzt würden, Verbesserungen für die ukrainische Bevölkerung mit sich bringen. Dies gilt insbesondere für jene Reformen, die sich auf die staatlichen Strukturen und die Wirtschaftsentwicklung beziehen. Andere Anforderungen der europäischen Integration hingegen würden den Neoliberalismus und dessen negative Folgen fortschreiben. Insgesamt werden viele sozioökonomische Fragen im Integrations- und Bewertungsprozess übersehen oder nicht als vorrangig eingestuft.
Dennoch ist es wichtig zu erkennen, dass viele Ukrainer*innen sich von einer EU-Mitgliedschaft nicht nur mehr wirtschaftlichen Wohlstand erhoffen, sondern auch eine Stärkung der Demokratie, die Gewährleistung von Stabilität und die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Insbesondere ukrainische Linke suchen Partnerschaften mit anderen europäischen Linken, um für eine faire und vorteilhafte EU-Integration der Ukraine zu kämpfen und wichtige sozioökonomische Fragen in den Vordergrund der Verhandlungen zu rücken. Als wichtigster Geldgeber kann die EU beeinflussen, welchen Entwicklungsweg die Ukraine nach dem Krieg einschlägt – entweder einen Weg der sozialen und gerechten Entwicklung oder einen Weg der neoliberalen Integration.
Bei der Angleichung an das europäische Recht gibt es viele systembedingte Schwierigkeiten, die durch den Kriegszustand noch verschärft werden. Es gibt aber auch linke politische Ansätze, die darauf abzielen, die soziale und politische Polarisierung zu verringern und der Ukraine zu einem gerechten Wiederaufbau und einer vorteilhaften europäischen Integration zu verhelfen.
Die Sammlung politischer Kurzdarstellungen, die wir hier in englischer Sprache vorlegen, befasst sich mit den wichtigsten sozioökonomischen Fragen, die sich auf dem Weg der Integration stellen, und sie präsentieren sozial orientierte Lösungen, die den politischen Entscheidungsträger*innen in Kyjiw und Brüssel zur Verfügung stehen.
Die Deindustrialisierung, der kriegsbedingte Rückgang der Energieproduktion um fünfzig Prozent und die hohe Auslandsverschuldung sind große Belastungen für das Land auf dem Weg zum Wiederaufbau. Serhii Huz zufolge dürfte die ukrainische Regierung versuchen, diese Probleme durch weitere marktliberale Reformen zu lösen – obwohl diese in den letzten Jahrzehnten immer wieder scheiterten und die Armutsquote massiv erhöhten. Huz’ Empfehlungen beinhalten demgegenüber die Kopplung des energetischen Umbaus an dezentrale und nachhaltige Energiequellen. Biogas etwa besitzt für die ukrainische Agrarwirtschaft ein enormes Potenzial. Darüber hinaus würde die Verbesserung der sozialen Sicherheit die Energiearmut verringern. Auch die Erneuerung der Energieeffizienzstandards habe eine nachhaltige Wirkung, indem sie die Wohnqualität verbessert, die Haushaltskosten senkt und auf diese Weise die Lebensqualität positiv beeinflusst.
Die große Aufgabe des Wiederaufbaus wird jedoch durch die hohe Schuldenlast des Landes gelähmt. Für einen effektiven Wiederaufbau müsse der Ukraine deshalb ein Schuldenschnitt angeboten werden, so Victoria Pihul. Eine wichtige Rolle könnten dabei auch die Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds (IWF) spielen.
Der riesige Agrarsektor wird sowohl Reformen der EU-Agrarsubventionen als auch des ukrainischen Rechts erfordern. Natalia Mamonova und Mihai Varga stellen fest, dass es in diesem Zusammenhang viel von der EU-Integration anderer postkommunistischer Staaten zu lernen gibt. Kleine landwirtschaftliche Betriebe dürften von dieser allenfalls in geringem Maße profitieren und laufen Gefahr, den Großbetrieben zum Opfer zu fallen. Staatliche Schutzmaßnahmen für kleine landwirtschaftliche Erzeuger, einschließlich des Kampfes um Quoten für die Produktion von Kleinbetrieben auf den internationalen Märkten, zählen zu den Maßnahmen, die Mamonova und Varga vorschlagen, um den Ausverkauf und die Zusammenlegung der landwirtschaftlichen Flächen des Landes zu verhindern.
Der Kampf der Regierung gegen die Gewerkschaften, sich verschlechternde Arbeitsbedingungen und die große Armut verschärfen den Arbeitskräftemangel in der Ukraine, der wiederum den Wiederaufbau erschwert. Der neoliberale Status quo und neuerliche radikale Änderungen des Arbeitsrechts und der Arbeitssicherheitsstandards werden unter Verweis auf den Krieg gerechtfertigt. Doch Olena Tkalich widerspricht dieser Logik. Sie empfiehlt die Stärkung der Mitentscheidungsbefugnisse der Gewerkschaften, die Verbesserung der Mindeststandards für Selbstständige und eine strengere Überwachung der Sozialstandards im Rahmen von EU-finanzierten Initiativen. Denn diese Initiativen würden die Ukrainer ermutigen, ins Land zurückzukehren und dort ein arbeitnehmerzentriertes Wirtschaftswachstum zu generieren.
Die fehlende Kontrolle des Wohnungsmarkts könnte die Menschen ebenfalls davon abhalten, in der Ukraine zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Ein lang anhaltender Mangel an Arbeitskräften wiederum würde die wirtschaftliche Erholung und den langwierigen Weg des Wiederaufbaus erheblich behindern. Wie Vita Shnaider anmerkt, wird die Wohnungspolitik in der EU in erster Linie auf nationaler Ebene geregelt, doch praktisch gesehen hat die EU großen Einfluss auf den Wohnungsmarkt in der Ukraine, wenn es darum geht, welche Wohnungsbauprojekte sie ko-finanziert und welche nicht. Shnaider schreibt: «Die Ukraine braucht mehr als lokales Kapital, das durch Subventionen für private Baufirmen verstärkt wird [...]; sie braucht eine erhebliche Umverteilung von Finanzmitteln, um ein robustes öffentliches Wohnungswesen aufzubauen und den privaten Markt zu regulieren.» Wie andere Autor*innen verweist auch Shnaider auf negative Beispiele anderer postkommunistischer EU-Mitgliedstaaten, bei denen EU-Gelder als Druckmittel zur Durchsetzung einer verschärften Privatisierungspolitik eingesetzt wurden; er stellt aber zugleich fest, dass der im lokalen Kontext fehlende politische Wille ebenfalls zur Wohnungskrise in der gesamten EU beigetragen hat. Im Fall der Ukraine mit ihrer hohen Zahl an zerstörten Häusern und vertriebenen Personen sind mehr kreative Ideen und öffentliche Initiativen vonnöten. Lösungen, die eher auf sozialer Gerechtigkeit als auf marktwirtschaftlichen Erwägungen beruhen, könnten wiederum den krisengeschüttelten Wohnungsmarkt auch in anderen Teilen Europas positiv beeinflussen.
Der Anstieg der Armutsquote wird kaum aufzuhalten sein, solange der Krieg andauert. Doch die Betroffenen dürften nicht auf unbestimmte Zeit vertröstet werden, meint Vladyslav Starodubtev. Wenn Kyjiw die Armut schon jetzt bekämpfen wolle, müsse man sich dort jedoch endlich von der neoliberalen Wirtschaftsideologie verabschieden. Starodubtev schlägt mehrere Optionen zur Verbesserung der Lage vor, darunter eine Ausweitung der Fürsorge für Binnenvertriebene, der Schutz vor Diskriminierung, Beschäftigungsgarantien, die Überarbeitung des Arbeitsrechts und die Einhaltung der Europäischen Sozialcharta.
Die Situation der (bezahlten) weiblichen Arbeitskräfte in der Ukraine ist außerordentlich prekär. Viele zuvor von Männern dominierte Bereiche haben sich aufgrund der Kriegsrekrutierungen umgehend für weibliche Beschäftigte geöffnet. Obwohl das geschlechtsspezifische Lohngefälle in der Ukraine mit der letzten Mindestlohnerhöhung geschrumpft ist, weil die meisten Mindestlohnempfänger Frauen sind, wurden seit der Invasion keine neueren Statistiken über die Zahl der Frauen auf dem Arbeitsmarkt veröffentlicht. Die größten unmittelbaren Verbesserungen für weibliche Beschäftigte seien eine höhere Entlohnung und eine bessere Regulierung des Gesundheitssektors, konstatiert Olena Tklalich. Unter dem Deckmantel traditioneller Werte und des Schutzes der Frauen bestehe die Gefahr, dass Frauen nach der umfassenden Invasion erneut aus «Männerbranchen» verdrängt würden, um «Platz» für die von der Front zurückkehrenden Männer zu schaffen. Tkalich meint, dass Verbesserungen bei den Gehältern, den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitnehmerschutz sowie eine staatliche Überwachung des Arbeitsschutzes (im Gegensatz zur Selbstregulierung der Unternehmen) dazu beitragen könnten, die geschlechtsspezifischen Lohn- und Beschäftigungsunterschiede in der Nachkriegszeit zu verringern.
Olena Slobodian analysiert die Lage im Gesundheitssektor seit dessen Reform 2017. Mit Blick auf die finanzielle Ausstattung sieht sie die internationalen Geberländer in der Pflicht. Slobodian erkennt aber auch mögliche Verbesserungen durch eine andere, sozialere Politik der Ukraine. Mehr Druck aus Brüssel könne hilfreich sein; dafür aber müsse die EU endlich Themen der sozialen Gerechtigkeit stärker im Integrationsprozess berücksichtigen.
Die insgesamt elf Beiträge verschiedener Autor*innen befassen sich mit Fragen der Landwirtschaft, der Energie, der Industrie, des Arbeitsrechts, des Wohnungsmarktes, der Frauenbeschäftigung, des Gesundheitswesens und der gewerkschaftlichen Organisierung in der Ukraine. All diese Themen brauchen mehr Aufmerksamkeit und eine bessere, auf Fairness und Solidarität beruhende Politik in der EU. Die Analysen zeigen deutlich die systemischen Herausforderungen auf, vor denen die Ukraine und die EU stehen, aber auch jene Probleme, die durch den Krieg verursacht oder verschärft werden. Darüber hinaus enthalten sie klare Empfehlungen und konkrete Vorschläge für die politischen Entscheidungsträger*innen in Kyjiw und Brüssel. Mit Blick auf die europäische Integration können diese Empfehlungen den Worten der Solidarität Taten folgen lassen – und der ukrainischen Arbeiterklasse eine Perspektive bieten.