| Wirtschafts- / Sozialpolitik - Gesundheit und Pflege - Sorgende Stadt Pflegende Angehörige als öffentliche Beschäftigte

Das Modell Burgenland – ein Baustein transformativer Care-Politiken

Viele Menschen werden heute sehr alt. Das ist eine gute Nachricht. Sie in der letzten Lebensphase gut zu begleiten und zu unterstützen ist jedoch heute schon kaum mehr möglich. Denn die Altenpflege in Deutschland ist am Rande ihrer Belastungsgrenze. Einem wachsenden Bedarf steht ein gravierender Personalmangel gegenüber: Bereits heute fehlen für eine gute Versorgung rund 200.000 Pflegekräfte, für die Jahre 2030 bis 2040 wird ein weiterer Anstieg auf 500.000 Pflegekräfte prognostiziert. Ab 2050 sogar auf 700.000 bis 800.000. In Altenheimen und Pflegeeinrichtungen sind die Missstände deutlich spürbar, worunter Pflegebedürftige und Beschäftigte gleichermaßen leiden. 

Dabei wird oft vergessen, dass der weitaus größte Teil der Pflegearbeit im eigenen Zuhause, in den Familien übernommen wird. In Deutschland sind derzeit etwa 5,7 Millionen Menschen pflegebedürftig, rund 80 Prozent von ihnen werden Zuhause gepflegt und betreut. Die Versorgungssituation der häuslichen Pflegearbeit ist dabei mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Strukturelle Defizite erschweren für viele Angehörige die Betreuung und häusliche Pflegearrangements sind von mehreren Herrschaftsachsen durchzogen: Vorwiegend weibliche Angehörige übernehmen die Pflege und werden oft unfreiwillig in Teilzeitarbeit gedrängt oder müssen ihre Erwerbstätigkeit ganz aufgeben. Zur Unterstützung werden nicht selten Migrant*innen angestellt, die zu schlechten Löhnen in halb-legalen und belastenden Situationen arbeiten. Weil die Angehörigenpflege oft lange Zeiträumen in Anspruch nimmt, steht am Ende für viele eine prekäre Altersvorsorge, die nicht selten mit finanziellen Abhängigkeitsverhältnissen oder Altersarmut einhergeht. Pflegende Angehörige haben ein erhöhtes Armutsrisiko und liegen mit 20 Prozent über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 15,5 Prozent. Bei weiblichen Angehörigen beträgt das Risiko in Armut zu fallen sogar 23,1 Prozent. 

Es ist klar: Das gegenwärtige Pflegeregime, in dem Angehörige und prekär beschäftigte Migrant*innen den Löwenanteil der Arbeit stemmen, bedarf grundlegender Reformen. Diese sind hierzulande jedoch kaum in Sicht. 

Im Nachbarland Österreich gibt es jedoch seit 2019 ein Modellprojekt, das zu einer sozial gerechteren Angehörigenpflege beitragen kann. Von der amtierenden Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) wurde im Burgenland ein staatlich finanziertes Pilotprojekt ins Leben gerufen, bei dem pflegende Angehörige für ihre Arbeit öffentlich angestellt, entlohnt und sozialversichert werden können. Ziel dieses «Anstellungsmodells für betreuende Angehörige» ist es, den bestehenden Defiziten eine gerechtere Versorgung von Pflegenden und Pflegebedürftigen im familiären Privatbereich entgegenzusetzen. 

In Kürze:

  • Pflegende Angehörige können sich im Rahmen eines sozialversicherungspflichten Arbeitsverhältnisses bei einem landeseigenen Unternehmen anstellen lassen.
  • Sie erhalten einen Pflegelohn auf Mindestlohnniveau.
  • Es gibt regelmäßige Supervision und begleitende Fortbildungen, die zu einem Zertifikat führen.
  • Für die Finanzierung des Pflegelohns wird ein gestaffelter Teil der Rente und des Pflegegeldes einbehalten und durch einen staatlichen Förderbeitrag aufgestockt.
  • Nicht alle Probleme des gegenwärtigen, auf häuslicher Arbeit basierenden Pflegeregimes werden damit gelöst. Aber gerade für Ehefrauen und Töchter kann das Armutsrisiko dadurch um bis zu ein Drittel sinken.
  • Angehörige erhalten außerdem wichtige fachliche Unterstützung und entkommen der Isolation, die oft mit Angehörigenpflege einhergeht.

Die vorliegende Kurzstudie nimmt dieses bislang wenig bekannte und erforschte Pilotprojekt genauer unter die Lupe. Anknüpfend an eine kritische Care-Forschung wird diskutiert, ob mit dem Modellprojekt mögliche Verbesserungen für pflegende Angehörige und Pflegebedürftige sichtbar werden und ob das Modell als Baustein transformativer Care-Politiken auch in Deutschland forciert werden sollte.

Inhalt:

  1. Einleitung
  2. Angehörigenpflege in Deutschland
    2.1 Strukturelle Problemlagen in der deutschen Angehörigenpflege
    2.2 Unvereinbarkeiten von Pflege und Beruf
    2.3 Fehlende Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige im Lebensalltag
  3. Ländervergleich Deutschland und Österreich
  4. Das «Anstellungsmodell für betreuende Angehörige» im Burgenland 
    4.1 Anstellungsverhältnis und Finanzierung des Pflegemodells
    4.2 Erste Arbeitserfahrungen der Angehörigen im Anstellungsmodell
  5. Das «Anstellungsmodell Burgenland» als Praxisbeispiel für Deutschland

Autor:

Patrick Schönherr ist Arbeitssoziologe und hat seinen Master of Arts an der Friedrich-Schiller-Universität Jena absolviert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Fragen der gesellschaftlichen Organisation von Care-Arbeit und die Digitalisierung der Pflege.