
Wir dokumentieren eine von Alexander Pehelemann kuratierte Textreihe, die 75 Jahre nach erscheinen von George Orwells »1984« und 40 Jahre nach der realen Ankunft des Jahres, auf politische und gesellschaftliche Kämpfe, Sub- und Gegenkulturen, Kriesen und Konflikte schaut.
Geplant sind die Texte:
Robert Mießner: Gegenseitige Hilfe. Künstler zum und im britischen Bergarbeiterstreik 1984/85
Jonas Engelmann: "Die Verschwulung der Welt". AIDS, 1984
Frank Apunkt Schneider: There's no future like »No Future«
Michael Gratz: Lyrik in Zeiten von Newspeak
Gegenseitige Hilfe. Künstler zum und im britischen Bergarbeiterstreik 1984/85
Robert Mießner
Ein Foto: Drei Menschen, eine Familie höchstwahrscheinlich, sitzen vor dem Fernseher. Teppichboden, eine der Zimmerwände ist holzvertäfelt, an ihr hängen gerahmte Landschaftsdarstellungen. Der mutmaßliche Familienvater trägt Schirmmütze, ist tätowiert und schaut auf den Sohn, der in die Kamera blickt. Dem Bildschirm am nächsten sitzt gebannt die Mutter – es läuft eine Fernsehansprache Arthur Scargills, von 1981 bis 2002 Chef der britischen Gewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM). Über dem Fernseher, angepinnt, nicht gerahmt, ein Karl-Marx-Poster, daneben der Plattenspieler und das Kaminfeuer, gerahmt von den zwei Lautsprecherboxen. Wir wissen nicht, was die drei für Musik gehört haben; die Bildunterschrift verrät das Jahr: 1984. Im März hat Ian McGregor, Spitzname im Volksmund »Mac the Knife«, Vorsitzender des National Coal Board, die Schließung von 20 Kohlebergwerken und Entlassung von 20.000 Bergarbeitern angekündigt. Nur einen Tag darauf sind in Cortonwood/Yorkshire die Bergleute in den Ausstand getreten, bald schon kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Der britische Bergarbeiterstreik hat begonnen. Bis Mitte Juli sind zwei Tote zu beklagen, tausend Bergleute verletzt, viertausend vorläufig festgenommen.
Den Schnappschuss hat der Fotograf Keith Pattison gemacht. Im August 1984 schickte ihn die Artists’ Agency in Sunderland für einen Monat in das Bergarbeiterdorf Easington in Durham County. Pattison blieb bis zum Ende des Streiks im März 1985. Seine Fotos sind 2010 in einem Buch erschienen: No Redemption, das Vorwort hat der britische Schriftsteller David Peace geschrieben. Peace, bekannt für historisch genau recherchierte Kriminalromane, sagt über dieses eine Jahr, es sei der britische Nachkriegskataklysmus gewesen. GB84, Peaces Geschichte des Streiks, erschien 2014 auf Deutsch. Ein neueres Fotobuch ist Michael Kerstgens’ Coal Not Dole. The Miner’s Strike 1984/1985. Kerstgens, Enkel des Geschäftsführers von Thyssen-Schachtbau Great Britain Ltd., ging im Herbst 1984 nach England und fotografierte den Streik in Wales und Yorkshire. Eines seiner Fotos zeigt die Sylvesterparty im Wombwell Working Men’s Club. Sie könnte so überall 1984 stattgefunden haben. Was die Feiernden nicht wissen: Es gab im Sommer und Herbst Regierungspläne, die Armee zur Sicherung der Kohletransporte einzusetzen. Seit 1979 ist Margaret Thatcher im Amt und 1983 in Folge des Falklandkriegs ein zweites Mal erfolgreich zur Premierministerin gewählt worden. Thatcher ist die Macht der britischen Gewerkschaften seit Jahren ein Dorn im Auge. Sie wird sie brechen.
Dass ihr das nicht leicht gemacht wird, dafür sorgen auch britische Musiker. Unter denen, die sich auf die Seite der Bergarbeiter schlagen werden, sind bekannte Namen wie Robert Wyatt, Billy Bragg und CHUMBAWAMBA. Zu den letzteren gesellen sich KUKL, eine in England aufgeschlagene isländische Band. Ihre damalige Sängerin heißt immer noch Björk. Keith LeBlanc und Adrian Sherwood veröffentlichen unter dem Alias THE ENEMY WITHIN die Single Support The Miners.
Dann die Musiker und Künstler der Industrialbrigade TEST DEPT. Ihr Engagement ist nur folgerichtig: Gegründet in den frühen 80ern von arbeitslosen Musikern nahe der stillgelegten Londoner Docklands, heute der Bankendistrikt der Hauptstadt, werden TEST DEPT gerne als die britischen EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN bezeichnet. Was stimmt und wieder nicht: FM EINHEIT spielte auf ihrem Debüt Beating The Retreat; beide Bands setzten auf die Durchschlagskraft perkussiv bearbeiteten Metalls. Doch während sich im Kern bereits des frühen NEUBAUTEN-Lärms ein (nicht unpolitischer) Romantizismus versteckte, setzten TEST DEPT auf den sowjetischen Modernismus kurz nach der Oktoberrevolution, den sie in ihren Covergestaltungen zitierten, und agierten generell aktivistisch-kollektivistischer. In dem 2015 erschienenem Reader Total State Machine erinnern sie sich: »Wir wuchsen auf zum Ende der Labourregierung mit Abfallstapeln auf den Straßen, alltäglichen Stromausfällen und einer Gesellschaft, deren Struktur zerbrach. Mit dem Thatcherismus ging diese Zerstörung weiter, doch wurde sie diesmal administriert und war systematischer; rapide polarisierte sie Standpunkte. Mit wachsendem Politikverständnis fühlten wir, kollektiv Stellung nehmen zu müssen, uns selbst angesichts des Chaos, das uns umgab, festigen zu müssen. Uns wurde klar, wir hatten bis dahin eine Außenseiterposition eingenommen; jetzt mit dem Streik richteten wir uns an einer deutlich definierten politischen Linie aus. Dennoch verweigerten wir uns politischen Lagern oder mit ihnen verbundenen Gruppen wie Red Wedge. Wir arbeiteten direkt mit den Kämpfenden.«
TEST DEPT nehmen mit einem Bergarbeiterchor, dem SOUTH WALES STRIKING MINER’S CHOIR, das Album Shoulder To Shoulder auf und touren durch das Land. Sämtliche Einnahmen gehen in die Streikkasse. Die Pressemitteilung zur Platte vom Februar 1985 sagt: »Dieses Album fokussiert auf die in diesem Land seit über elf Monaten stattfindende ‚Kommunikationsrevolution‘. Es handelt sich dabei um eine Revolution, welche ein breites Spektrum der Gesellschaft in offener Ablehnung des konservativen Dogmas vereint. Sie hat viele junge Menschen motiviert, aktiv am Kampf der Bergarbeiter teilzunehmen. Als ein Bestandteil dieser Revolution haben sich TEST DEPTmit dem SOUTH WALES STRIKING MINER’S CHOIR zusammengetan, um den Tausenden von Menschen, deren Anstrengungen diesen Streik trotz Gegenwehr und Vorurteilen aufrecht halten, Anerkennung zu zollen. Diese LP soll den Einfallsreichtum und die Entschlossenheit sowohl der arbeitenden als auch der arbeitslosen Bevölkerung dieses Landes würdigen, sich angesichts des gemeinsamen Gegners zu vereinen und zu organisieren. Das Blatt hat sich gewendet.«
Der letzte Satz mag im Nachhinein wie trotzig historischer Optimismus klingen. Was TEST DEPT in dem Moment nicht wissen: Die Erwägung der Regierung, die Armee einzusetzen, resultierte aus einer durchaus katastrophalen Einschätzung der eigenen Lage, der man nicht mehr Herr zu werden fürchtete. Der Tonfall der Pressemitteilung verdankt sich aber eventuell noch einer wesentlich anderen Erfahrung. Der, dass der britische Arbeiter sehr wohl etwas mit avantgardistischer Musik anfangen kann, vorausgesetzt, sie findet zur richtigen Zeit am richtigen Ort statt. Bret Turnbull von TEST DEPT im Rückblick: »Während des Streiks gingen wir in die Bergarbeitercommunities, die üblicherweise kaum unsere Musik hörten oder sich unserer Bildsprache aussetzen würden. Aber da wir mit ihnen kämpften, gemeindeten sie uns ein. Wir standen draußen in den Streikpostenketten und gaben Geld; wir tranken miteinander und uns wurde klar, wir hatten vieles gemeinsam. Soziale Schranken fielen. Nicht jeder wird erwartet haben, Pensionäre zum Klang geschlagenen Metalls auf den Tischen tanzen zu sehen, doch der Spirit, die Wut der Musik taten ihr übriges. Wir klopften und trommelten uns in die Gewerkschaftsgeschichte, in die visuelle Geschichte ihrer Banner, das hatte etwas Ikonisches. Aus den Fernsehnachrichten nahmen wir Filmmitschnitte des Streiks und montierten sie mit dem Soundtrack, den wir als den Bildern adäquat betrachteten.«
Einer wesentlich anderen Klangsprache bedienen sich die MEKONS aus Leeds auf ihrem ebenfalls 1985 erschienenem Album Fear And Whiskey. Sie fusionieren Punk mit einer ganz und gar unbritischen Musik, mit Country. Die Platte gilt Fans und Kritikern als ihr erstes richtiges Meisterwerk. Sie wäre ohne den Streik nicht entstanden. Als er ausbricht, sind die MEKONS, die anarchischen Zwillinge der Funkmarxisten GANG OF FOUR, als Band nicht mehr aktiv. Es ist der Streik, der sie wieder zur gemeinsamen Arbeit drängt, wie sich Sänger Jon Langford erinnert. Die MEKONS hatten 1978 mit einer Single debütiert, die sich wie ein ironischer Kommentar auf das klassenkämpferische White Riot der CLASH lesen und hören ließ: Never Been In A Riot (Fast Forward). Ganz so unambitioniert und politisch unbeleckt, wie es der Song vermuten ließ, waren sie nie gewesen. Die MEKONS waren für Rock Against Racism und Antifascist Action aufgetreten. Jetzt tun sie es für die Bergarbeiter – die 1985 zurück nach Hause kehren und von ihren Frauen mit Nelken empfangen werden.
Das Jahr 1984 markiert auch das Ende der Band, die seit 1977 den Anarchismus zu einem ernstzunehmenden kulturellen Faktor in Großbritannien gemacht hatte. CRASS, eigentlich eher Künstlerkommune als herkömmliche Rockband, hatten dezidiert vor, im Orwelljahr 1984 ihre Aktivitäten unter dem CRASS-Logo zu beenden. Sie halten Wort. Ihr letztes Konzert findet im Juli 1984 als Streik-Benefit in Aberdare, Wales, statt. Penny Rimbauds Erinnerungen sind gänzlich unheroisch: »Mein grundsätzlicher Eindruck war, dies ist ein verdammtes Krippenspiel. Hier hüpfen die Leute auf und ab; und zur selben Zeit sind dort die, denen ein ganzes Leben genommen wird. Thatchers Truppen zerstören eine komplette Lebensweise.«
Die Requien werden später erscheinen. TEST DEPT lässt der Streik nicht los. Auf The Unacceptable Face Of Freedom (1986) spricht der Streikaktivist Alan Sutcliffe das Stück Statement ein. In seinen Text brechen die enervierenden Schreie panischer Ratten: »Während der Aufnahmen fragten mich TD, wie ich jetzt über diese Ereignisse nachdächte. Ich erinnerte mich an George Orwells 1984 und an die Ratten (= die Polizei), wie sie unsere Herzen fraßen, und so legten wir dieses Geräusch über den Monolog.« Auf A Good Night Out (1987) liest Sutcliffe Generous Terms. Teilweise lässt sich A Good Night Out als Rückblick auf den Streik hören. Einer im Zorn.
Während der Streik noch im Gange ist, hört auf der anderen Seite des Atlantiks ein junger Collegestudent die Nachrichten und muss an den Fluglotsenstreik in den USA 1981 denken, der für die bis zum Schluss Beteiligten mit Massenentlassungen, lebenslangem Berufsverbot und für Dutzende Gewerkschafter mit Berufsverbot geendet hatte. Zur selben Zeit, da sich Ronald Reagan für die polnische Solidarność erwärmte. Bill Morrisson heißt der Student, er wird Filmemacher und 2011 seine Dokumentation The Miners’ Hymns drehen – eine Elegie über die Bergarbeiterkultur des englischen Nordostens, speziell Durhams, die durch das 20. Jahrhundert bis 1984/85 geht. Die Filmmusik stammt von dem isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson, der sich von den Brass Bands der Arbeiter inspirieren ließ. Ebenfalls 2011 ist Sounds From Beneath erschienen, die DVD einer Installation von Mikhail Karikis und Uriel Orlow. Der griechisch-britische Komponist und sein Schweizer Multimedia-Kollege luden Mitglieder eines Chors ehemaliger Bergarbeiter der 1987 geschlossenen Snowdown Colliery in Kent ein, ihre Untertagearbeit vor der vom Abbau gezeichneten Kulisse ihres aufgelassenen Bergwerks zu vokalisieren – das Bergwerk Alan Sutcliffes. Der einzige Text sind bestimmte industrielle Schlüsselwörter wie »Feuer« und »Hammer«. Zur Mitte des sechsminütigen Stückes bilden die Stimmen ein Klangmassiv, das an das metallene Rattern eines Förderbands erinnert. Ein erhabenes Salut, das nicht verklärt.
2014, zum dreißigjährigen Streikjubiläum, treten TEST DEPT auf dem AV Festival nahe Dunston Staiths auf. Kein Konzert im eigentlichen Sinne, sondern acht audiovisuelle Aktionen.
Filme sind gedreht worden: Still The Enemy Within, ein Dokumentation von Owen Gower, die unter anderem auch den historischen Hintergrund von Matthew Marchus’ Filmkomödie Pride erzählt, in der sich homosexuelle Aktivisten auf den Weg in das walisische Bergarbeiterdorf Onllwyn machen. Marchus’ Film lief in Deutschland an und wurde einhellig positiv besprochen. Ist der Bergarbeiterstreik damit archiviert, zahnlos gemacht?
Arthur Scargill, 1984/85 Thatchers Konterpart, verließ 1996 die Labour Party und gründete die Socialist Labour Party. Dass Scargill lange Zeit die Solidarność kritisierte, ist mit Hinblick auf ihre katholisch-konservative Entwicklung verständlich. Interessanterweise bezogen sich TEST DEPT auf die polnischen Auseinandersetzungen, ANGELIC UPSTARTS und CABARET VOLTAIRE inkorporierten gar die Insignien des anderen großen europäischen Streiks. Scargills Mitgliedschaft in der britischen Stalin Society mag aus einer Wut konsultieren, die man kennt, deren Konsequenz man aber nicht teilt. Dann doch lieber Penny Rimbaud. In Julia Ostertags und Francesca Araizas Dokumentarfilm über den neueren europäischen Anarchismus, Noise And Resistance (2011), sagt er: »Wenn wir mit dem politischen System brechen wollen, dann geht das nicht mit einem Abbild des politischen Systems.“ Ein Echo des Manifests, mit dem sich CRASS 1984 verabschiedeten: „Der Karatekämpfer, der den Ziegelstein spalten will, zielt nicht auf den Stein, sondern den Raum hinter ihm.«