
Argentinien steckt seit Jahrzehnten in einer Dauerkrise. Bereits zu Zeiten der Militärdiktatur (1976–1983) explodierten die Staatsschulden, aber auch im Zuge der sich anschließenden Demokratisierung blieb die Hyperinflation eine Konstante. Auf den Versuch einer Stabilisierung über neoliberale Reformen und Privatisierungen, die zum Teil Kreditbedingung des Internationalen Währungsfonds (IWF) waren, folgte 2001 der Staatsbankrott – begleitet von großen sozialen Protesten und autonomen Organisierungen. Die Parole der Demonstrierenden «Haut alle ab!» («Que se vayan todos!») zeigte den dramatischen Vertrauensverlust in die öffentlichen Institutionen.
Auch in den letzten 20 Jahren hat sich an dieser Situation wenig geändert: Wirtschaftliche Krisen aufgrund der Staatsverschuldung und Inflationsraten im zweistelligen oder gar dreistelligen Bereich prägen das Leben der Menschen und haben zu einem drastischen Rückgang des realen Einkommens vieler Haushalte geführt. Auch deshalb ist ein informeller Sektor (economia popular) entstanden, in dem die Arbeiter*innen nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen haben.
Die peronistischen Regierungen (die sehr grob gesagt der hiesigen Sozialdemokratie entsprechen) trugen ihren Teil zu all dem bei, und doch war es der neoliberale Präsident Mauricio Macri, der ab 2015 die Aufnahme des größten Kredits, den der IWF jemals vergeben hat, verantwortete. Der Druck auf den Staatshaushalt stieg immer weiter an und auch die nachfolgende peronistische Regierung nahm keinen Kurswechsel vor. Für große Teile der Bevölkerung – bis weit in die Mittelschicht hinein – wurde es zunehmend unmöglich, das Lebensnotwendigste für sich und ihre Familien zu bezahlen, sodass auch viele private Haushalte in eine Verschuldungsspirale abrutschten. Dabei schien es fast gleichgültig, welche politische Partei die Regierung anführte. Ein erneuter Schub fortgesetzter Resignation in der Bevölkerung war die Konsequenz.
Diese prekäre Situation führte Ende 2023 zur Wahl des «anarchokapitalistischen» und extrem rechten Javier Milei zum Präsidenten Argentiniens, der als Politik-Outsider einen radikalen Wandel versprach. Zwar konnte die Inflation vorübergehend stabilisiert werden, dies wurde jedoch durch einen enormen Anstieg der Armutsquote und die Übergabe von Verwaltungsmacht an Drogenkartelle erkauft. Und dennoch hat diese Stabilisierung der Inflation im Land aufgrund der Geschichte eine kaum zu unterschätzende Bedeutung im Bewusstsein der Bevölkerung.
Die fortgesetzte Krise trifft alle, aber nicht alle gleich. Während sich die metropolitanen Zentren kaum von europäischen Großstädten unterscheiden, bestehen an deren Rändern riesige informelle Siedlungen, die oftmals weder ans Stromnetz angeschlossen sind noch über fließendes Wasser oder ein funktionierendes Abwassersystem verfügen. Diese Wohngebiete an bestehende Infrastrukturen anzuschließen ist seit Jahrzehnten eines der drängendsten sozialen Probleme und im politischen Raum ein umkämpftes Thema.
Eine dieser Siedlungen ist Nuevo Alberdi am Rande der Groß- und Hafenstadt Rosario in der Provinz Santa Fé im Nordosten des Landes. Rosario ist die Stadt mit der höchsten Homizidrate in ganz Argentinien. Das undurchdringliche Geflecht aus Drogenkartellen, Immobilienspekulation, Armut und Gewalt – auch sexualisierter Gewalt – führt dazu, dass das Leben für unzählige Menschen extrem herausfordernd ist.
In dieser Situation hat die linke, munizipalistische Bewegungspartei Ciudad Futura in Nuevo Alberdi einen politischen Organisierungsprozess angestoßen, aus dem sich trotz aller Unterschiede auch für hiesige Organisierungen vieles lernen lässt: Die konkrete und demokratische Teilhabe an der Gestaltung des unmittelbaren Lebensumfelds – insbesondere städtischer und sozialer Infrastrukturen – ermöglicht es nicht nur, auf die lokalen Bedürfnisse einzugehen, sondern auch, Menschen aus der Resignation und der jahrzehntelangen Passivierung herauszuholen. Sie bildet damit eine wichtige Basis für Organisierung – gerade unter Bedingung der Krise und einer globalen Tendenz, die diese Menschen in die Arme faschistischer Kräfte treibt.
Denn das Beispiel Nuevo Alberdi zeigt, dass diese globale Entwicklung eben kein unabwendbares Schicksal ist, sondern ein politisch gemachtes Problem, zu dem es Alternativen gibt. Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sich eine neue Art von Politiker*innen findet, die bereit sind, einerseits mit den Menschen an deren Alltagsproblemen zu arbeiten und sich andererseits mit den Profiteuren sozialer Krisen (wie Boden- und Immobilienspekulation) anzulegen, kurz gesagt: die bereit sind, eine solche Alternative aufzubauen und dadurch politische Handlungsmacht zurückzugewinnen. Es ist vor diesem Hintergrund keine Überraschung, dass in Rosario dieselben Menschen, die auf lokaler Ebene der Partei Ciudad Futura ihre Stimme gaben, wenige Wochen später bei den Präsidentschaftswahlen, zu denen Ciudad Futura nicht antrat, für Javier Milei stimmten.
Auch in Deutschland ziehen sich Menschen zurück, weil die Politik keine Antwort auf ihre Fragen liefert. Auch hierzulande gibt es eine Vielzahl von Haushalten, denen der Strom abgestellt wird, viele Menschen werden aus ihren Wohnungen verdrängt, andere geben den Großteil ihres Einkommens für Miete und Lebensmittel aus und wissen daher oft nicht, wie sie über den Monat kommen sollen. Auch in Deutschland wenden sich immer mehr Menschen von der Politik ab und geben ihre Stimme der AfD, die ihnen verspricht, einen radikalen Wandel herbeizuführen. Die Angriffe der rot-schwarzen Bundesregierung auf soziale Einrichtungen und Infrastrukturen bedeuten Wasser auf die Mühlen der Rechten.
Aber auch hierzulande gibt es Alternativen zu dieser Art von «organisierter Verwahrlosung». Die politische Botschaft, die Haltung und die praktischen Methoden des beeindruckenden Organisierungsbeispiels aus Nuevo Alberdi sind daher lehrreich für jede politische Initiative und Stadteilorganisierung.
Barbara Fried, Inga Lamprecht und Alex Wischnewski
Berlin, Oktober 2025

